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# taz.de -- Armenien und Aserbaidschan: Hoffnung im Südkaukasus
> Es könnte das Ende des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan
> einleiten: Ab Sonntag verhandeln die Staats- und Regierungschefs beider
> Staaten.
Auf einmal geht alles sehr schnell: Nach den Gesprächen Anfang Mai zwischen
den Außenministern aus Armenien und Aserbaidschan in den USA wird ab
Sonntag der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, [1][ein
Treffen] mit dem armenischen Premierminister Nikol Paschinjan und dem
aserbaidschanischen Staatspräsidenten Ilham Alijew in Brüssel ausrichten.
Es könnte ein zentraler Schritt hin zu einem wirklichen Friedensvertrag
noch in diesem Jahr werden.
Am 1. Juni stoßen dann Bundeskanzler Olaf Scholz und der französische
Präsident Emmanuel Macron dazu, wenn sich Alijew und Paschinjan wie geplant
in Moldau beim Summit der Europäischen Politischen Gemeinschaft erneut
treffen. Die EU hat sich seit letztem Jahr in eine überraschend zentrale
Position gespielt. Ob beabsichtigt oder nicht, in dieser Position trägt sie
aktuell die Hauptverantwortung für eine Annäherung der Konfliktparteien –
und wird dieser Verantwortung hoffentlich gerecht.
Wenn man bedenkt, wie viele gefährliche und gewalttätige Zwischenfälle es
allein in diesem Jahr bereits auf lokaler Ebene, vor allem im Grenzgebiet
der beiden Länder, gegeben hat, ist das eine bemerkenswert positive
Entwicklung. Zuletzt wurden am vergangenen Donnerstag bei Schusswechseln
mit großkalibrigen Waffen in der Region Sotk [2][ein aserbaidschanischer
Soldat getötet] und vier armenische Militärangehörige verletzt.
Bereits am 23. April hatte Aserbaidschan einen Kontrollpunkt auf der
einzigen Straße errichtet, die die mehrheitlich von Armeniern bewohnte
Region Bergkarabach in Aserbaidschan mit Armenien verbindet – dem
[3][Latschin-Korridor] – und ignorierte damit auf eklatante Weise ein
Urteil des Internationalen Gerichtshofs, der Baku aufgefordert hatte, die
seit vergangenem Dezember bestehende Blockade der Enklave zu beenden.
## Furcht vor neuer Offensive
Schon vor Sperrung des Latschin-Korridors war es Anfang April zu einem
Zusammenstoß zwischen armenischen und aserbaidschanischen Einheiten an der
Grenze gekommen, bei dem sieben Soldaten zu Tode kamen. Den Ernst der Lage
machte auch der deutsche Leiter der EU-Mission in Armenien (EUMA), Markus
Ritter, in einem aktuellen [4][Interview mit der Deutschen Welle] deutlich:
„Viele Armenier glauben, dass es eine Frühjahrsoffensive von Aserbaidschan
geben wird. Wenn dies nicht geschieht, ist unsere Mission bereits ein
Erfolg.“
Die [5][Beobachtungsmission EUMA] besteht, sobald sie voll einsatzfähig
ist, aus 100 unbewaffneten Mitarbeiter:innen, von denen etwa 50 als
Beobachter:innen tätig sein werden. Baku beschwerte sich mehrfach über
die Mission als potenzielles Störelement für den Dialogprozess zwischen den
beiden Ländern und hat bis heute auch die Anwesenheit der
Beobachter:innen im armenisch-aserbaidschanischen Grenzgebiet nicht
offiziell akzeptiert.
Armenien hingegen hofft, dass die Mission allein durch ihre Präsenz im
Grenzgebiet die Zahl der Zwischenfälle reduzieren und trotz ihrer
überschaubaren Größe wie eine Art Schutzschirm wirken könnte. Um weitere
Spannungen mit Baku zu vermeiden, informieren die Mission und der
EU-Sonderbeauftragte [6][Toivo Klaar] Aserbaidschan im voraus über geplante
Routen für Beobachtungsfahrten im Grenzgebiet.
Die Beilegung des jahrzehntelangen Konflikts zwischen den beiden ehemaligen
Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan würde weitreichende
geopolitische Konsequenzen mit sich bringen. Zur Erinnerung: Im Herbst 2020
eskalierte der Konflikt zum zweiten [7][Karabach-Krieg]. Aserbaidschan
gelang es, große Teile des zuvor von Armenien besetzten Gebiets
zurückzuerobern. In diesem Krieg verloren schätzungsweise 7.000 Soldaten
ihr Leben, bis Russland im November 2020 einen Waffenstillstand
vermittelte.
## Russischer Einfluss geht zurück
Beide Länder vereinbarten, dass ein Kontingent russischer Friedenstruppen
den Waffenstillstand in dem Teil Karabachs überwachen sollte, den
Aserbaidschan bis dahin nicht zurückerobert hatte. Ein wichtiges Ziel
dieser Friedenstruppen war es auch, durch die Kontrolle des
Latschin-Korridors zwischen Armenien und Karabach, der wichtigsten
Versorgungsroute zwischen der Enklave und Armenien, weitere Eskalationen zu
verhindern.
Seit dem Beginn des [8][russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine] geht
die Bedeutung der russischen Friedenstruppen vor Ort zurück. Das birgt die
Chance für mehr europäischen Einfluss in der Region. Im März und August
2022 gelang es Aserbaidschan erneut, in begrenztem Umfang zusätzliches
Gebiet in Karabach zu gewinnen. Mit dem Angriff auf armenisches Territorium
am 13. und 14. September eskalierte der Konflikt weiter.
Mehr als 300 Menschen wurden getötet und etwa 7.600 mussten aus den
Regionen Gegharkunik, Vayots Dzor und Syunik fliehen. Armenien wandte sich
daraufhin noch im September mit dem Hilferuf an die EU, eine zivile Mission
zu entsenden, die die Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan überwachen
sollte.
Kurz darauf, am Rande des ersten Treffens der Europäischen Politischen
Gemeinschaft am 6. Oktober, trafen Präsident Alijew und Premierminister
Paschinjan zusammen und bekräftigten nicht nur die Souveränität und
territoriale Integrität des jeweils anderen Landes, sondern einigten sich
auch auf einen Prozess zur Demarkierung der gemeinsamen Grenze. Eine
zweimonatige europäische Beobachtungsmission, die EU Monitoring Capacity
(EUMCAP), sollte dies unterstützen.
## Gefährliche Mission
Bereits zwei Wochen später trafen 40 Beobachter:innen vor Ort ein. Als
EUMCAP am 19. Dezember 2022 endete, hinterließ die EU eine Planungsmission
zur Vorbereitung einer dauerhaften zivilen EU-Mission. Die neue EU-Mission
in Armenien (EUMA) nahm Ende Februar 2023 in einem im Vergleich zu EUMCAP
deutlich erweiterten Einsatzgebiet entlang der gesamten Grenze Armeniens zu
Aserbaidschan ihre Arbeit auf.
Neben der Patrouillenarbeit hat sie die Aufgabe, lokale
Kommunikationskanäle und Deeskalationsmechanismen zwischen den
Konfliktparteien aufzubauen. Außerdem wird sie die Demarkation der Grenze
weiterführen und trilaterale Gespräche zwischen der EU, Armenien und
Aserbaidschan zur Lösung des Konflikts unterstützen. Die EUMA hat ein
Mandat für zwei Jahre und hat ihren Hauptsitz in Yeghegndsor, mit
Außenstellen in Kapan, Goris, Jermuk, Martuni und Ijevan.
Russland betrachtet die Mission als Versuch, den russischen Einfluss in der
Region zu verdrängen. Tatsächlich ist die russische Präsenz vor Ort bislang
noch enorm, denn zusätzlich zu den 2.000 Friedenstruppen in Karabach hat
Russland fast 3.000 Militärs und Grenzschutzbeamte des Föderalen
Sicherheitsdienstes (FSB) in Armenien stationiert, die unter anderem die
Staatsgrenze zum Iran kontrollieren.
Problematisch ist, dass sich die Friedenstruppen in einer Art Konkurrenz
zur europäischen Mission betrachten, anstatt mit ihr zu kooperieren. So
blockierten Einheiten des russischen Geheimdienstes mehrere
EUMCAP-Patrouillen an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze. Die neue
Mission muss darüberhinaus aufpassen, dass sie an Stellen, an denen die
Grenzziehung zwischen Armenien und Aserbaidschan unklar ist, nicht selbst
mit ihrem Personal in heikle Situationen gerät.
## Energiepartnerschaft birgt Chancen
Eine weitere Herausforderung für die EU besteht darin, ihre wachsende
Energiepartnerschaft mit Aserbaidschan nicht zu gefährden, sollten die
Spannungen zwischen Baku und Eriwan zunehmen. Gas und Öl aus Aserbaidschan
sind (ein noch kleiner) Teil der Bemühungen der EU, russische fossile
Brennstoffe zu ersetzen. Im Juli letzten Jahres unterzeichnete
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ein Abkommen mit Präsident
Alijew, das die Gaslieferungen aus Baku bis 2027 mehr als verdoppeln wird.
Eine Möglichkeit für die EU wäre, ihre ambitionierte
[9][Global-Gateway-Initiative] als weiteren Anreiz für die Kooperation mit
beiden Ländern zu nutzen, indem sie Armenien anbietet, sich ihrem
Vorzeigeprojekt mit Georgien, Rumänien und Aserbaidschan anzuschließen,
dem [10][Unterseekabel für grüne Energie], welches durch das Schwarze Meer
verlegt werden soll.
Ein verstärktes Engagement im Rahmen der EUMA und die von Ratspräsident
Michel geführten Gespräche sind nicht nur eine Gelegenheit für die EU,
einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung des Konflikts zu leisten – sie
könnten auch einen Wendepunkt für den gesamten Südkaukasus darstellen, wo
Russland als traditioneller Sicherheitsgarant infolge des Angriffs auf die
Ukraine um seinen Einfluss ringt.
Deutschland leistet aktuell den größten Beitrag für den Einsatz in
Armenien, nicht allein stellt es den Missionsleiter, sondern auch etwa 15
Prozent des EUMA-Personals – das bei Weitem größte nationale Kontingent
aller EU-Mitgliedstaaten. Berlin könnte anders als Paris, das in Baku den
Ruf hat, es handele lediglich im Namen der großen armenischen Gemeinschaft
in Frankreich, als neutraler Vermittler auftreten.
Sowohl Bundeskanzler Scholz als auch Außenministerin Annalena Baerbock
haben in ihren jüngsten Reden den deutschen Beitrag zur EUMA hervorgehoben.
Und auf der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) im Februar 2023 trafen
Alijew und Paschinjan jeweils einzeln mit Charles Michel zusammen, bevor
sie ein wenig konstruktives öffentliches Podium teilten. Dass nun Macron
und Scholz im Juni gemeinsam zu den Gesprächen mit Alijew und Paschinjan
dazustoßen werden, mag die Bedenken Aserbaidschans gegenüber einer
Beteiligung Frankreichs etwas reduzieren. Das Engagement der EU im
Südkaukasus hat sich seit letztem Jahr sukzessive ausgeweitet.
Im Jahr 2023 verfügt die EU nun über eine gute Kombination von Instrumenten
für den Konflikt, die bereits jetzt zu hoffnungsvollen Entwicklungen
führen: die EUMA durch ihr Monitoring und den Demarkationsprozess, die
Dreiergespräche zwischen Michel, Paschinjan und Alijew sowie die
langjährige Arbeit des EU-Sonderbeauftragten für den Südkaukasus und
Georgien. Für Armenien und Aserbaidschan können die Gespräche in Brüssel
eine einmalige Chance für den Frieden bieten – auch wenn die erneuten
Zwischenfälle vor Ort sehr beunruhigen.
13 May 2023
## LINKS
[1] https://www.deutschlandfunk.de/friedensgespraeche-zwischen-armenien-und-ase…
[2] https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-05/armenien-aserbaidschan-grenzkon…
[3] https://www.deutschlandfunk.de/internationaler-gerichtshof-fordert-aserbaid…
[4] https://www.dw.com/de/armenien-wachsende-angst-vor-einem-neuen-krieg/a-6510…
[5] https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/kontaktdaten/DE/missionen/eu/euma-armeni…
[6] https://twitter.com/ToivoKlaar
[7] /Schwerpunkt-Bergkarabach/!t5217138
[8] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
[9] https://commission.europa.eu/strategy-and-policy/priorities-2019-2024/stron…
[10] https://www.tagesschau.de/ausland/asien/aserbaidschan-strom-eu-101.html
## AUTOREN
Tobias Pietz
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