# taz.de -- Klimakrise und globaler Süden: Die Töne der Zeit | |
> Wenige Menschen richten viel Schaden an, den wiederum viele Menschen | |
> ertragen müssen. Die Erderwärmung geht mit extremer Ungerechtigkeit | |
> einher. | |
Bild: Eitler Sonnenschein für die Reichen, den Schaden, den sie anrichten, bad… | |
Am bisher heißesten Tag des Jahres wurde in Stuttgart die Oper „Saint | |
François d’Assise“ von Olivier Messiaen aufgeführt. Einige sangen, einige | |
spielten Instrumente, alle anderen fächelten sich mit dem Programmheft Luft | |
zu. Messiaens großartiges Werk vertont den spirituellen Weg des heiligen | |
Franziskus in einer undogmatischen Musik ohne Grenzen. Vogelstimmen spielen | |
eine wichtige Rolle, ebenso eine ganzheitliche Liebe zur Schöpfung. | |
Die Klimakrise wird als globales Problem diskutiert, deren Lösung eine | |
kollektive Anstrengung aller Menschen erfordert. Ganz im Sinne der | |
[1][Umwelt-Enzyklika] von Papst Franziskus, in der er zur Abkehr von | |
unserem zerstörerischen Lebenswandel aufruft, der auf Kosten der Natur und | |
der Menschen insbesondere in den ärmeren Ländern geht. Das gemeinsame Haus | |
der Menschheit dürfe nicht zerstört werden. Die Bedeutung der Schöpfung und | |
der Natur müsse in den Vordergrund gerückt werden. | |
Ja, ja und ja, und doch ist dieses „globale“ Framing – wie der [2][Climate | |
Inequality Report 2023] aufzeigt – irreführend. Denn die globale Klimakrise | |
ist durch extreme Ungleichheit gekennzeichnet. Einfach gesagt: Die | |
Leidtragenden sind jene, die am wenigsten zum Problem beigetragen und am | |
wenigsten Geld haben, sich gegen die Folgen zu wappnen. Während jene, die | |
sie hauptsächlich verursachen, am wenigsten von den Auswirkungen bedroht | |
sind und zudem über finanzielle Möglichkeiten der Anpassung verfügen. | |
Die treibende Kraft des Klimawandels ist somit nicht die Menschheit im | |
Allgemeinen, sondern es sind diejenigen, die vom Wirtschaftswachstum am | |
meisten profitieren. Weltweit gehen 89 Prozent der Emissionen auf das Konto | |
der vier Milliarden wohlhabendsten Menschen. Knapp die Hälfte entfällt | |
sogar auf die obersten 10 Prozent (800 Millionen). 17 Prozent aller | |
Emissionen werden von nur 1 Prozent der Meschheit verursacht. | |
## Globale Ungleichheit | |
Anders gesagt: Die untere Hälfte der Weltbevölkerung verursacht 12 Prozent | |
der globalen Emissionen, erleidet aber 3 Viertel der Einkommensverluste | |
aufgrund des Klimawandels. Zugleich verfügen die oberen 10 Prozent über 76 | |
Prozent des Wohlstands und können die Folgen entsprechend finanziell | |
auffangen. Die Klimakrise wird also nicht von „uns Menschen“ verursacht, | |
sondern ist [3][Ausdruck globaler Ungleichheit] in Folge der | |
gesellschaftlichen und globalen Machtverhältnisse. | |
In der Oper von Messiaen klopft im vierten Bild ein Engel sanft an die Tür, | |
aber für die Figuren wie auch für das Publikum klingt es wie Donnerhall. In | |
der Realität ist es umgekehrt. Die ökologische Katastrophe dröhnt wuchtig, | |
aber die Engel unserer besseren Einsicht hören es kaum. Eine der Figuren, | |
Bruder Elie, kann nicht zuhören und findet nicht zur besinnlichen Ruhe, um | |
das Wesentliche zu erkennen – eine zeitgemäße Figur. | |
Während sich das Publikum weiter Luft zufächelt. Es kann die Hitze nicht | |
ertragen, die es selbst entfacht hat. Doch südlich des Breitengrads der | |
Klimaanlagen müssen unsere Mitmenschen ganz andere Temperaturen ertragen: | |
In [4][Pakistan] 49 Grad, im Niger 50 Grad Celsius, die Stigmata unserer | |
Tage, verursacht durch heißes Quecksilber. | |
Die Klimakrise ist zwar eine globale Herausforderung, doch sie ist | |
verursacht von einer kleinen Minderheit, die nicht nur auf Kosten anderer | |
und der Natur lebt, sondern mit ihrem Vermögen und ihren | |
Investitionsentscheidungen entscheidend dazu beiträgt, die herrschenden | |
Verhältnisse zu zementieren. Bezahlen müssen viele, profitiert haben | |
wenige. | |
## Solidarisches Wirtschaften ist gefragt | |
In diesem Zusammenhang offenbart sich nicht nur der Wahnsinn unserer | |
destruktiven Raserei, sondern auch die Illusion einer Entkopplung von | |
Verbrauch und Wachstum einerseits und Energie- und Ressourcenverbrauch | |
sowie ökologischer Zerstörung andererseits. Denn wir machen global | |
betrachtet keine Fortschritte. [5][2022 wurde beim CO2-Ausstoß ein neuer | |
Höchststand] erreicht. In manchen Kommentaren wurde kritisch vermerkt, dass | |
„in Indien die Emissionen um 6 Prozent zunehmen. Das Land stößt jetzt mehr | |
Treibhausgase aus als die EU.“ | |
Nun ja, es hat ja auch mehr als dreimal so viel Einwohner. Der einfachste | |
aller ökologischen Gedanken kann nicht häufig genug wiederholt werden: | |
Würde Indien das Verbrauchsniveau der EU erreichen, könnten wir hierzulande | |
Spiegeleier selbst im Schatten braten. | |
Es gibt nur eine Lösung: Klimagerechtigkeit. Das Entscheidende wäre eine | |
Praxis des global solidarischen Wirtschaftens und Konsumierens. Die | |
Verantwortung für den Planeten müsste eine kritische Haltung gegenüber den | |
eigenen Privilegien beinhalten. Mit handfester Empathie für die Verlierer | |
der ökologischen Katastrophen. | |
## Die Sonne brennt, die Vögel sind kaum hörbar | |
Nacheinander werden im fünften Bild im Stuttgarter Freilufttheater hölzerne | |
Vögel auf die Bühne getragen, wie bei einer religiösen Prozession. Die | |
Namen der Vögel, deren Gesang vom Orchester ornithologisch präzise | |
nachgeahmt wird, erscheinen auf einer Anzeigetafel. Heimische Arten wie die | |
Mönchsgrasmücke, ebenso Vögel aus ozeanischer Ferne wie der | |
Goldbauchschnäpper. Auch Vögel, die vom Aussterben bedroht sind. Ein | |
globales Parlament der Vögel. Beeindruckend. | |
Doch in die musikalische Pause hinein dröhnt ein Flugzeug, schlürft jemand | |
aus seinem Plastikbecher, jault im fernen Hintergrund ein Motor auf. Und | |
aus dem Orchester flattert ein Fächerschwanzkuckuck hervor. Sakrale | |
Atmosphäre will sich nicht einstellen, die Begegnung der Oper mit der Natur | |
erfolgt einseitig: Die Sonne brennt, aber die Vögel der Umgebung sind kaum | |
hörbar, weil das Kunstwerk abgespult wird mit der Unerbittlichkeit eines | |
fixen Programms. | |
Je intensiver die Kunst die Schöpfung besingt, desto mehr scheint sich | |
diese zu entziehen. Die Verherrlichung scheint mächtiger als das Geehrte. | |
Wir alle sind – das zeigt diese Oper am heißesten aller Tage – gefangen im | |
Amphitheater unserer entfremdeten Inszenierung. | |
12 Jul 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Papst-eckt-bei-US-Konservativen-an/!5023083 | |
[2] https://wid.world/wp-content/uploads/2023/01/CBV2023-ClimateInequalityRepor… | |
[3] https://substackcdn.com/image/fetch/f_auto,q_auto:good,fl_progressive:steep… | |
[4] /Extreme-Temperaturen-und-Klimawandel/!5861822 | |
[5] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/37187/umfrage/der-weltweite-… | |
## AUTOREN | |
Ilija Trojanow | |
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