# taz.de -- Kino aus dem Tschad: Sie nannten ihn „Amulett“ | |
> Mahamat-Saleh Harouns Film „Grigris’ Glück“ über einen tanzenden | |
> Außenseiter besticht durch minimalistisches Setdesign und expressive | |
> Lichtsetzung. | |
Bild: Grigris hat ein verkümmertes Bein – und macht damit seinen Tanz unverw… | |
„Grigris“ werden in Westafrika Amulette genannt, die Glück bringen sollen. | |
„Grigris“ ist auch der Spitzname von Souleymane, einem Tänzer, der mit | |
seinen Performances die Clubgänger der tschadischen Hauptstadt N’Djamena | |
elektrisiert. Seine Besonderheit: Grigris’ linkes Bein ist dünn wie ein | |
Unterarm und gelähmt. Wie die Gliedmaße einer Marionette kann er es hin- | |
und herwerfen. Die Behinderung macht der junge Mann zum Spezialeffekt | |
seiner Shows. | |
Grigris’ Tanzeinlagen bilden immer wieder Höhepunkte in Mahamat-Saleh | |
Harouns aktuellem Film. Seinen Titelhelden Souleymane Démé fand er 2011 bei | |
einer Show am Rande des Filmfestivals von Ouagadougou in Burkina Faso, dem | |
wichtigsten Filmevent des subsaharischen Afrikas. Haroun schrieb ihm die | |
Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes auf den Leib. Im Film trägt er | |
konsequenterweise seinen echten Namen. Typisch für den tschadischen | |
Filmemacher ist, dass er diese Realitätsnähe durch die Tanzeinlagen selbst | |
immer wieder bricht. | |
Meist wirken sie stark stilisiert durch ihr minimalistisches Setdesign und | |
die expressive Lichtsetzung des hervorragenden Kameramanns Antoine Héberlé. | |
Das Nebeneinander von solchen Gegensätzen, von Konkretheit und Abstraktion, | |
von Spezifischem und Allgemeinem, findet man immer wieder in den Filmen | |
Harouns. | |
In seinem 2006 in Venedig mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichneten | |
Meisterwerk „Daratt“ etwa setzt er sich mit den Folgen des 40-jährigen | |
Bürgerkriegs in seinem Land auseinander ohne explizite politische oder | |
historische Einordnungen. Mit Anleihen an den US-Western behandelt er | |
stattdessen eine zeitlose Frage: Wie können Menschen nach so viel Hass und | |
Gewalt jemals wieder zusammenleben? | |
## Benzin für Brutaloboss | |
In Harouns fünftem Kinofilm geht es um das universell-menschliche Streben | |
nach Glück, wie der deutsche Titel überdeutlich macht (im Original heißt er | |
einfach nur „Grigris“). Glück bringt Grigris sein Spitzname zunächst | |
allerdings nicht. Als sein Schwiegervater erkrankt, muss er viel Geld für | |
die Krankenhausrechnung auftreiben. | |
Seine einzige Möglichkeit: Benzin schmuggeln für den örtlichen Gangsterboss | |
Moussa. Keine leichte Aufgabe mit seiner Behinderung. Parallel dazu | |
verliebt er sich in die hübsche Mimi, die aus anderen Gründen am Rande der | |
Gesellschaft steht: Tochter einer tschadischen Mutter und eines weißen | |
Franzosen, den sie nie kennengelernt hat, verdingt sie sich als | |
Prostituierte in den Clubs. | |
Eine Hure mit Herz, ein anständiger Außenseiter, den das Schicksal zu einer | |
verzweifelten Tat treibt, ein ebenso charismatischer wie brutaler | |
Gangsterboss: Die Figuren von „Grigris“ sind Archetypen des Kinos. Doch | |
solche Chiffren lassen die Differenzen, die durch den Drehort entstehen, | |
nur noch deutlicher hervortreten. Mimis Afroperücke etwa wäre in einem | |
US-Film ein politisches Statement, ein Ausweis ihres Stolzes und ihres | |
Selbstbewusstseins. In „Grigris Glück“ dagegen versucht sie sich damit | |
anzupassen, so „schwarz“ zu wirken, wie die Menschen um sie herum. | |
## Ein wortkarger Protagonist | |
Die geradezu mythische Wucht von „Daratt“ erreicht „Grigris Glück“ | |
allerdings nicht ganz. Das liegt zum einen daran, dass Haroun den Plot | |
nicht ganz so minimalistisch hält – Liebesgeschichte und Geldbeschaffung | |
laufen parallel, für Harouns Verhältnisse tauchen zudem viele Figuren auf. | |
Zum anderen an seinem Hauptdarsteller: Démé begeistert in den Tanzszenen, | |
bleibt aber jenseits des Dancefloors unscheinbar. | |
Seine Wortkargheit und verzögerten Reaktionen wirken weniger wie ein | |
Hinweis auf ein reiches Innenleben als im Gegenteil etwas begriffsstutzig – | |
was auch die Liebesgeschichte zwischen der Schönheit und dem Krüppel nicht | |
unbedingt glaubwürdiger macht. | |
Am Ende steht wie schon in „Daratt“ ein Akt der Selbstjustiz jenseits der | |
Grenzen der „zivilisierten“ Stadt. Doch während Haroun im Film aus dem Jahr | |
2006 eine überraschend schlüssige Lösung für das moralische Dilemma seiner | |
Hauptfigur gefunden hat, wirkt die Auflösung in „Grigris Glück“ ebenso | |
verblüffend wie verstörend – als sei dem Filmemacher sein Humanismus | |
plötzlich abhanden gekommen. Ein glückliches Ende nimmt Grigris Geschichte | |
jedenfalls nicht für alle Beteiligten. | |
15 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Sven von Reden | |
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