Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kinofilm „Das blaue Zimmer“: „Ein intimeres Gefängnis“
> Mathieu Amalric und Stéphanie Cléau haben ein Buch von Georges Simenon
> verfilmt. Ein Gespräch über zeitlose Gefühle, Genrekino und die Wirkung
> echter Anwälte.
Bild: Die magischen vier Wände.
Eine Dreiecksgeschichte in der französischen Provinz: Julien (Mathieu
Amalric), Inhaber einer Firma für Landmaschinen, ist mit Delphine (Léa
Drucker) verheiratet. Als er zufällig Esther, der Apothekerin des Ortes
(Stéphanie Cléau), begegnet, die er schon in der Schulzeit heimlich
verehrte, beginnen die beiden eine Affäre. Sie verabreden sich in einem
Hotel in einem anderen Ort, immer im selben blau gestrichenen Zimmer.
Amalrics Film verschiebt Georges Simenons 1964 erschienenen Roman „Das
blaue Zimmer“ in die Gegenwart. Geschickt arbeitet er dabei mit zwei
Zeitebenen: Zum einen ist da der Zeitraum, in dem die beiden Liebenden sich
zu heimlichen Rendezvous verabreden, während Julien zugleich das schlechte
Gewissen gegenüber seiner Ehefrau plagt, zum anderen der Zeitraum, in dem
gegen Julien ermittelt wird – ohne dass man gleich wüsste, warum und in
welcher Sache. Zwischen den beiden Zeitebenen gibt es zahlreiche, subtil
gesetzte Verbindungen. Wie weit man auf das, was Julien erzählt, vertrauen
kann, bleibt in der Schwebe; wenn man das in der Literatur etablierte
Konzept des unzuverlässigen Erzählers auf eine Filmfigur übertragen wollte,
wäre er ein gutes Beispiel.
Mathieu Amalric, dem Regisseur, Autor und Hauptdarsteller, und Stéphanie
Cléau, der Autorin und Hauptdarstellerin, begegne ich an einem
Wintervormittag in Paris. Die beiden sind noch ein bisschen müde, weil sie
am Abend zuvor gefeiert haben, und Cléau nimmt nur zurückhaltend am
Gespräch teil. Amalric dagegen stellt dadurch, wie er sein Gegenüber
fixiert und wie er seine Sätze moduliert, eine außergewöhnliche Intensität
her.
taz: Herr Amalric, Frau Cléau: Ihr Film arbeitet mit zwei Zeitebenen, es
gibt einerseits das Erleben, und andererseits gibt es den Rückblick, das
Sprechen darüber, was war. Wie sind Sie damit umgegangen?
Mathieu Amalric: Das hat uns ganz besonders angezogen. Wir stellten uns
vor, dass das Kino genau dies erkunden und feiern könnte. Der Roman ist ja
einer der wenigen von Simenon, die nicht linear erzählt sind. Deswegen
kommt folgender Satz vor: „Das Leben ist anders, wenn man es lebt, als wenn
man es nachträglich analysiert.“ Als wir das Drehbuch schrieben, war es
grafisch in zwei Blöcke unterteilt: auf der einen Seite die Gegenwart, auf
der anderen Seite die Sätze und die Fragen, die die Intimität des Paares
fast vergewaltigten.
Wie meinen Sie das?
Amalric: Die Intimität in diesem Zimmer gehört ja nur den beiden, sie ist
nicht für die Welt gedacht. Aber sie wühlen darin herum und suchen nach
Wörtern für etwas, was sich nicht in Wörter fassen lässt. Und vor allem:
Wir sind alle gleich, auch der Richter. Alle Menschen haben etwas
gemeinsam; Simenon arbeitet genau damit, mit diesen Augenblicken, in denen
man leidenschaftlich ist. Jeder hat solche Augenblicke erlebt.
Zu den zwei Zeitebenen gehört, dass Details, die zunächst bedeutungslos und
offen erscheinen, im Rückblick Bedeutung gewinnen. Auf mich wirkt es, als
hätten Sie sehr bewusst mit solchen Details gearbeitet.
Amalric: Ja, damit hatten wir unseren Spaß. Wir mussten diesen Film schnell
drehen, und wir wussten, dass wir uns Richtung Genre, Richtung Film noir
bewegen konnten, und es macht große Freude, mit dem Zuschauer Katz und Maus
zu spielen. Also hatten Details, die man zunächst noch gar nicht wahrnahm,
einen Nachhall. Und manchmal spricht Julien von etwas, aber das Bild sieht
nicht ganz so aus wie das, was er erzählt, sodass sich der Zuschauer
ständig Fragen stellt. Zum Beispiel wenn Esther bei der Gegenüberstellung
erscheint und man sich fragt: „Aber ist sie denn nicht tot? Wenn sie nicht
tot ist, wer ist es dann?“
Nachdem wir den Film abgedreht hatten, waren wir selbst von dieser
mathematischen Sorgfalt überrascht. Ich glaube, was uns gerettet hat, war,
dass wir echte Gerichtsakten anfertigten. Christophe Offret, der
Ausstatter, und Pauline Étienne, die Requisiteurin, und fünf weitere Frauen
haben zwei Monate darauf verwendet, alle Dokumente herzustellen.
Wie kamen Sie auf die Idee?
Amalric: Eines Tages sind Stéphanie und ich ins Theater gegangen und haben
auf der Bühne, wenn Sie so wollen, den Prozess gegen Hamlet gesehen. Der
Regisseur hatte echte Justizangestellte gefragt, echte Richter, echte
Anwälte, und er hatte echte Gerichtsakten. Hamlet und Gertrud wurden von
Schauspielern gespielt, die übrigen Figuren von Justizangestellten. Und wir
haben uns gesagt: Das könnte es sein.
Aber bei Ihnen sind es Schauspieler – der Untersuchungsrichter ist doch ein
Schauspieler, oder?
Amalric: Ja, Laurent Poitrenaux, der ist ein Schauspieler, aber nicht die
Übrigen, zum Beispiel die Gerichtsschreiberin oder die Verteidiger.
Wenn man vor einen Richter tritt, vor einen Anwalt oder vor einen
psychiatrischen Gutachter, dann spricht man anders als in der alltäglichen
Kommunikationen. Auch damit haben Sie bewusst gearbeitet, nicht wahr?
Stéphanie Cléau: Während wir am Drehbuch geschrieben haben, hast du diesen
einen Satz immer wieder wiederholt, du hast ihn eben schon gesagt …
Amalric: Nur zu!
Cléau: „Das Leben ist anders in dem Moment, in dem man es lebt, als in dem,
in dem man es nicht mehr lebt.“ Das war es, was dich angeleitet, was dich
interessiert hat.
Amalric: Es hat mich angespornt.
Cléau: Ja, es hat dir gefallen. Ich erinnere mich, wie wir die Szene der
Gerichtsverhandlung drehten. Die Tatsache, dass diese Leute wirklich bei
Gericht arbeiten, hat eine ziemlich furchteinflößende Atmosphäre
geschaffen.
Amalric: Und dann noch mit den Besuchern! Wir öffneten den Saal für
Besucher, da wir uns keine Statisten leisten konnten.
Cléau: Wir bewegten uns zwar in einer Fiktion. Trotzdem gab es diese Sache,
wenn man nach vorn ging, an die Absperrung, und redete und ganz klein war
vor den Leuten auf dem Richterpult …
Amalric: Sie beobachteten mich. Die Jury beobachtete mich, fand dabei
Details über meine Geschichte heraus und nahm mich wie einen Kriminellen
wahr.
Simenons Roman wurde 1964 veröffentlicht, und der Konflikt ist typisch für
die 50er und 60er Jahre, für eine Zeit, in der Scheidung noch verpönt war.
Sie haben die Geschichte in die Gegenwart verlegt. Wie sind Sie damit
umgegangen, dass der zentrale Konflikt so sehr mit einer bestimmten,
mittlerweile vergangenen Zeit verbunden ist?
Amalric: Einen Text zu nehmen und ihn auf die Gegenwart zu übertragen ist
ein außerordentlicher Filter. Denn es gibt eine Widerständigkeit im
doppelten Sinne. Einmal, weil Sachen nicht funktionieren. Und dann, weil
Sachen widerstehen, standhalten, sich nicht ändern. Deswegen verortet
Simenon seine Geschichten ja auch so gern in der Provinz. Es gibt etwas,
was sich nicht ändert.
Wir haben in La Flèche gedreht, und da gibt es etwas, was sich nicht bewegt
hat. In der Intimität des Paars, in der Angst, etwas zu sagen … Wenn
Juliens Frau etwas sagt, wenn sie etwas ausspricht, dann wird die ganze
Sache explodieren, und dieser Konflikt, im Inneren, im Heim, im Paar, das
ist etwas absolut Zeitloses. Warum sagt sie denn nichts? Für Julien ist das
fürchterlich. Ich glaube, wenn sie etwas sagen würde … (Amalric ahmt
lautmalerisch eine Explosion nach)
Kann es sein, dass man heute zwar andere Lösungen für diesen Konflikt hat –
Scheidung ist eine Option –, aber die Gefühle dieselben sind?
Amalric: Ja, genau. Es ist ein intimeres Gefängnis. Im Buch ist Juliens
Frau ja eine Hausfrau, eine typische Gestalt der 60er Jahre, eine typische
Simenon-Frauenfigur. Als Stéphanie am Drehbuch arbeitete, war es für sie
wichtig, dass die Figur, Délphine, gespielt von Léa Drucker, kein Opfer
sein sollte. Sie wirkt, als wüsste sie etwas, aber sie sagt nichts, und das
ist unerträglich. Es ist fast, als würde Julien sie auffordern: „Aber sag
doch etwas, hilf mir, hol mich da raus. Es reicht, dass du ein Wort sagst,
und es wird gut.“ Man mag sich heute zwar scheiden lassen können, aber das
heißt nicht, dass man diesem intimen Gefängnis entkommt.
1 Apr 2015
## AUTOREN
Cristina Nord
## TAGS
Literatur
Tanz
Cannes
## ARTIKEL ZUM THEMA
„Simenon-Frühling“ in Lüttich: Mit Pfeife und Leica in die Welt
In Lüttich gibt es den Autor der „Maigret“-Romane als Fotografen zu
entdecken. Und als Reporter, der die Krisen seiner Zeit eindringlich
beschrieb.
Kino aus dem Tschad: Sie nannten ihn „Amulett“
Mahamat-Saleh Harouns Film „Grigris’ Glück“ über einen tanzenden
Außenseiter besticht durch minimalistisches Setdesign und expressive
Lichtsetzung.
Filmfestival in Cannes: Das Spiel mit der Sinnlichkeit
Die Goldenen Palmen sind verliehen. Zwei Dinge haben das Filmfestival
geprägt: die Neigung zur Tragikomödie und der Umstand, dass Geld eine große
Rolle spielt.
Mathieu Amalrics Film "Tournée": Die Rückseite des Showgeschäfts
Mathieu Amalric porträtiert einen verkrachten Tourmanager. Er tourt mit
einer Truppe nicht ganz junger US-Stripteasetänzerinnen durch Frankreich.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.