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# taz.de -- „Simenon-Frühling“ in Lüttich: Mit Pfeife und Leica in die We…
> In Lüttich gibt es den Autor der „Maigret“-Romane als Fotografen zu
> entdecken. Und als Reporter, der die Krisen seiner Zeit eindringlich
> beschrieb.
Bild: Chronist einer Welt in der Krise: Georges Simenon
„In den engen Gassen um die Nikolauskirche wimmelt es von Kindern. Sie
spielen im Bach, der nach Armut, nach Lumpen und Unrat riecht. Ihre Füße
stecken in Holzschuhen, Frauen auf den Türschwellen, mit gerundeten
Leibern, ihre Hände in die Hüften gestützt, rufen einander mit schriller
Stimme zu.“
Die beschriebene Szene erinnert an Zilles Berliner „Milljöh“-Bilder. Doch
stammt sie aus Georges Simenons Lebensbeschreibung „Intime Memoiren“, in
denen er auf seine Kindheit in Lüttich zurückblickte.
Lüttich (französisch: Liège), die in der Wallonie, [1][im frankofonen Teil
Belgiens] gelegene Stadt an der Maas, feiert gerade den „Simenon-Frühling“
anlässlich des 120. Geburtstages ihres berühmtesten Sohnes. Zur Eröffnung
richtete sie ein Literaturfestival aus, das diskutierte, welche Bedeutung
der Autor von rund 75 „Maigret“-Romanen und 117 weiteren Romanen heute noch
hat.
Georges Simenon gehört zu den meistgelesenen und -übersetzten
französischsprachigen Autoren. Sein staubtrockener, zugleich lebensnaher
Erzählstil liest sich erstaunlich modern, seine psychologisch genaue
Einfühlung in seine Charaktere beeindruckten schon William Faulkner und
Patricia Highsmith.
Die Stadt Lüttich will mit dem Festival auch die jüngere Generation auf den
1989 verstorbenen Autor neugierig machen. John Simenon, 74-jähriger Sohn
von Georges und dessen Rechteverwalter, beteiligte sich an der Konzeption
des Events und weihte einen neuen touristischen Rundgang ein, der dazu
einlädt, auf den Spuren seines Vaters zu wandeln.
## Kindheit im Arbeiterviertel
Im Jahr 1903 wurde er im Altstadtviertel Carré geboren. Vor dem Lütticher
Rathaus steht eine Skulptur, die den „typischen“ Simenon mit Hut, Mantel
und pfeiferauchend auf einer Sitzbank darstellt. Die Tour geht weiter über
die Maas nach Outremeuse – ins Arbeiterviertel, in dem er aufwuchs und das
er auch, nachdem er bereits mit 19 Jahren nach Paris gezogen war, immer
wieder in seinen Romanen aufgriff.
Die neugotische Kirche Saint Pholien wurde 1922 zum Schauplatz einer
Tragödie, als der Maler Joseph Kleine, Mitglied der Künstlergruppe La Caque
(Heringsfass) an ihrem Portal erhängt aufgefunden wurde. Simenon war selbst
Teil dieses Kreises und machte aus dem Suizid 1931 einen Mordfall in dem
frühen Maigret-Roman „Der Gehängte von Saint-Pholien“.
Bereits mit 16 Jahren wurde Simenon Journalist bei der Gazette de Liège und
ging jeden Tag zum Rathaus, um die neuesten Polizeiberichte zu hören. Im
selben Alter begann er mit dem Schreiben von Groschenromanen. Zweihundert
Romane unter 27 Pseudonymen (unter anderem „Georges Sim“) entstanden, bis
er um 1930 den Kommissar Jules Maigret erfand, der seinen Autor umgehend
bekannt machte.
Abgesehen von diesen puren Kriminalromanen schuf er 117 romans durs, laut
Simenon „schwer zu schreibende“ Romane, die sich nicht eindeutig einem
Genre zuordnen lassen und meist menschliche Abgründe ausloten.
## Höhepunkt des Festivals
Den Kern des Simenon-Frühlings bilden zwei Ausstellungen. Die eine stellt
eine neue Comic- Publikationsreihe des Dargaud Verlags vor, die von John
Simenon initiiert wurde. Der Sohn schätzt die Kunstform seit seiner
Kindheit und verbindet sie mit Erinnerungen an Ausflüge und Lesesonntage
mit seinem Vater.
So zeichnet etwa Jacques de Loustal mit „Simenon, l’Ostrogoth“ eine
Biografie über Simenons junge Jahre in Lüttich. In kantigen Linien werden
so eine vergangene Zeit und der La-Caque-Bohèmekreis, über den Georges auch
seine erste Frau, die Malerin Régine Renchon (Tigy genannt), kennenlernte,
lebendig.
Eine auf acht Bände angelegte Reihe adaptiert zudem wichtige roman durs.
Den Auftakt machen „Der Passagier der Polarlys“ (Bilder: Christian
Cailleaux) und „Der Schnee war schmutzig“, gezeichnet von Yslaire. Die im
Fonds Patrimoniaux ausgestellten Seiten aus den Comics treffen die düstere
Stimmung der Romane sehr gut und lassen John Simenons Konzept einer
Neubelebung aufgehen.
Den Höhepunkt des Festivals markiert die zweite, über 150 Exponate
umfassende Ausstellung „Images d’un monde en crise“ (Bilder einer Welt in
der Krise) in Lüttichs größtem Museum Grand Curtius, einem imposanten
Renaissancebau mit großen Sammlungen, etwa zur Archäologie.
## Fotograf und Weltreisender
Kuratiert von dem Simenon-Forscher Benoît Denis wird hier eine
überraschende Seite des Schriftstellers gewürdigt: die des Fotografen und
Weltreisenden. Im Jahr 2004 wurde erstmals eine Auswahl seiner rund 3.000
Fotografien aus den frühen 30er Jahren in einer Pariser Ausstellung
präsentiert. In Lüttich werden sie nun profunder analysiert und
kontextualisiert.
Nachdem Simenon nach Paris gezogen war, kaufte er sich ein eigenes kleines
Schiff und befuhr damit ab 1928 zusammen mit seiner Frau Tigy und dem
Dienstmädchen Henriette Liberge (genannt Boule) die französischen Kanäle
und Flüsse. Für eine Fotoreportage („Unbekanntes Frankreich“, 1931) über
diese Tour ließ er nachträglich von dem tschechischen Fotografen Hans
Oplatka Fotografien machen.
Simenon inspirierte das dazu, sich selbst die Technik anzueignen. Er
benutzte fortan eine Leica und eine Rolleiflex für seine Touren, die
zunächst durch Europa und dann durch die ganze Welt führen sollten.
Stationen waren unter anderem Nordafrika und Belgisch-Kongo (1932),
Deutschland, Osteuropa, Mittelmeerstaaten und die Türkei (1933/34). Eine
Weltreise führte ihn 1935 über New York, Mittelamerika, Panama nach
Polynesien und Australien, Indien und zurück ans Mittelmeer.
## Bettelnde Frauen mit Kindern
Schon auf Frankreichs Kanälen interessierte er sich vor allem für die
petites gens (die kleinen Leute) – Fischer im Hafen, Arbeiter in Kneipen,
Kellnerinnen. In Belgisch-Kongo, das sich damals auf dem Zenit der
Ausbeutung durch die belgische Kolonialmacht befand, wird Simenon von
seiner Frau Tigy mit Tropenhelm und weißer Kleidung festgehalten, im
Gegensatz zu den nackt fotografierten Einheimischen. Doch Simenon
akzentuiert nicht die Distanz, er kommt den Menschen nahe, zeigt sie
respektvoll in ihrem Alltag.
Er verfasste jeweils große Reportageserien über seine Reisen und schrieb
1932 für die Zeitschrift Voilà einen äußerst kritischen Artikel über das
belgische Kolonialsystem. Auch unterwegs arbeitete er an seinen Romanen
weiter und bezog Inspiration aus den Reisen.
Anfang der 30er Jahre war die Weltwirtschaftskrise in vielen Ländern
spürbar. In Warschau fotografierte Simenon bettelnde Frauen mit Kindern,
denen der Hunger ins Gesicht geschrieben stand. Der „nackte Mensch“, den
Simenon laut späteren Interviews in seinen Romanen zu finden suchte, hier
war er bereits.
In Wilna – heute Vilnius, Hauptstadt von Litauen, damals zu Polen gehörend
– suchte er das ärmliche jüdische Viertel mit seinen maroden Holzhütten auf
und fand eine Menge lachender Kinder. Diese Welt sollte wenige Jahre später
durch die Verwerfungen des Zweiten Weltkrieges verschwunden sein.
## Völker, die hungern
Die „Welt in der Krise“ zeigte sich im Osten sehr deutlich, auch in der
jungen Sowjetunion, die Simenon am Schwarzen Meer, im Bereich der heutigen
Ukraine und der Krim, streifte. Das Elend des Holodomors, der von Stalin
und dessen menschenverachtender Wirtschaftspolitik herbeigeführten
[2][Großen Hungersnot,] sah er aus nächster Nähe, doch durfte er die
Missstände nicht fotografieren: Sowjetische Aufpasser begleiteten den
westlichen Besucher und verboten ihm, die Wahrheit zu zeigen.
Dafür hatte er Worte. Simenon schrieb hierüber 1934 die Reportage „Völker,
die hungern“ in Le jour, in der er als einer der wenigen Zeitgenossen über
die sowjetische Realität berichtete.
Für ihn hatte die Fotografie keine künstlerische Bedeutung, er sah die
Kamera als Werkzeug zur Illustration seiner Reportagen. Die Bilder fielen
ähnlich nüchtern und zugleich ausdrucksstark aus wie seine Texte. Die
Empathie für die porträtierten Menschen ist jedoch immer zu spüren. Die
Ausstellung schließt eine wichtige Lücke im Werk eines
Ausnahmeschriftstellers, der seine eigene, krisenhafte Zeit kritisch
begleitete.
„Denn ich habe überall geschrieben, in Panama wie in Tahiti oder in
Australien. Was war unser Ziel? Wo ging es hin? Irgendwohin. Nirgends. Auf
der Suche wonach? Auf jeden Fall nicht nach dem Pittoresken, aber auf die
Suche nach den Menschen“, heißt es in seinen „Intimen Erinnerungen“.
15 Apr 2023
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## AUTOREN
Ralph Trommer
## TAGS
Literatur
Klassiker
Belgien
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Kolonialismus
George Simenon
Reiseland Belgien
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