| # taz.de -- Kommissar-Maigret-Autor neu übersetzt: Ein Jedermann im Trenchcoat | |
| > Der Vielschreiber George Simenon, der mit einfachsten Mitteln magische | |
| > Wirkungen erzeugen konnte, ist nun als Klassiker ganz neu zu entdecken. | |
| Bild: Eine der großen Pfeifen-Rollen des Kinos: Jean Gabin als Simenons Inspek… | |
| Die Rolle, die Stephen King heute im internationalen Literaturbetrieb | |
| spielt – die des uneinholbar produktiven und verkaufsstarken | |
| Auflagenmillionärs – hatte bis weit in die sechziger Jahre des letzten | |
| Jahrhunderts der belgische Kriminalschriftsteller und Autor psychologischer | |
| Romane, George Simenon, inne. Anders als King führte er ein Leben als | |
| Salonlöwe, berühmter Womanizer und (wie das damals hieß:) Jet-Setter in | |
| Paris, New York und verschiedenen mondänen Orten der Côte d’Azur und der | |
| Bretagne. Und ebenfalls anders als Stephen King ist ihm die Kreation einer | |
| literarischen Figur gelungen, die wie Hamlet oder Pippi Langstrumpf ins | |
| kollektive Unbewusste nicht nur seiner eigenen Zeit eingegangen ist: | |
| Kommissar Maigret. | |
| Maigret ist ein Jedermann im Trenchcoat, ein stoischer Beobachter der | |
| menschlichen Tragikomödie, wortkarg und einfühlungsstark, erfüllt von | |
| Melancholie und Verständnis für die menschlichen Abgründe, die er aufklärt, | |
| indem er sich in die Psyche der Täter und der Opfer hineinzudenken versteht | |
| wie ein Psychoanalytiker oder ein naturalistischer Schriftsteller. Maigret | |
| stellt man sich unwillkürlich als Filmfigur vor. Und Simenons Kommissar ist | |
| eine der „großen Rollen“ des klassischen Kinos geworden, am wuchtigsten | |
| verwirklicht von Jean Gabin, am wenigsten plausibel von Heinz Rühmann. | |
| Jahrzehntelang hat im deutschen Sprachraum der Diogenes-Verlag Simenon | |
| betreut. 2016 hat aber Daniel Kampa, langjähriger Diogenes-Mitarbeiter, von | |
| Simenons zweitältestem Sohn John die Rechte übertragen bekommen. Kampa | |
| unternimmt derzeit in seinem eigenen, neu gegründeten Verlag einen | |
| vielbeachteten Relaunch der Maigret- und der „Non-Maigret“-Romane. Und je | |
| weiter man sich in diese sämtlich neu übersetzten, schön gedruckten und | |
| einheitlich gestalteten Bände hineinliest – und dann auch die monumentalen | |
| (und monumental sentimentalen) „Intimen Memoiren“ Georges Simenons von 1981 | |
| (Hoffmann und Campe) zur Kenntnis nimmt – desto deutlicher zeichnet sich in | |
| der aufmerksamen Leserin die Überzeugung ab, dass wir es bei dem Schöpfer | |
| des Jules Maigret mit einem spätrömischen Schriftsteller zu tun haben. | |
| Dieses Urteil ist natürlich stark erklärungsbedürftig. | |
| ## Römische kulturelle DNA | |
| In seinen aufregenden Büchern über Spätantike und Frühmittelalter | |
| beschreibt der britische Althistoriker Peter Heather, wie die germanischen | |
| Franken in einer entlegenen Ecke des untergegangenen römischen Westreichs | |
| (etwa in der Gegend von Lüttich, wo Simenon 1903 zur Welt kam) aus der DNA | |
| der kulturellen und politischen Institutionen Roms etwas einerseits Neues, | |
| andererseits wiedererkennbar Noch-Römisches geformt haben. Wer Kultur und | |
| Politik unserer linksrheinischen Nachbarn aufmerksam beobachtet, kann das | |
| Nachleben (die longue durée) dieser spätrömischen kulturellen DNA an oft | |
| unscheinbaren oder überraschenden Details wahrnehmen. | |
| Zum Beispiel eben an den analytischen Dramen der Kriminalromane George | |
| Simenons, in denen nämlich durchgehend verhandelt wird, wie das Schicksal | |
| (fatum, Tyche) eine Person so zurichtet, dass er oder sie einen Mord begeht | |
| oder erleidet (mit Maigret selbst als kulturell säkularisiertem antiken | |
| Chor). Oder in der im Kern antikisierend heroischen Selbstdarstellung des | |
| Autors Simenon, dessen schriftstellerische Heldentaten – ganz wie | |
| diejenigen Cäsars oder Ammianus Marcellinus’ – gar nicht als das eigentlich | |
| Bedeutsame seines Lebenslaufs gelten können. | |
| Vielmehr besteht dieses Eigentliche für die erwähnten römischen | |
| Schriftsteller vielmehr in der heldischen Bewährung als General und Warlord | |
| oder – modern säkularisiert bei Simenon – im Aufstieg des kleinbürgerlich | |
| armen Schreibers von den Demütigungen der journalistischen und | |
| trivialliterarischen Galeerensklaverei zu den ausführlich und | |
| selbstgefällig beschriebenen heldischen Höhenlagen eines internationalen | |
| Mannes von Welt. Der dem fatum natürlich auch auf dem selbst eroberten | |
| Gipfel nicht entgehen kann: Es ereilt ihn noch – ja gerade dort! – in | |
| Gestalt des Ewigweiblichen: Ehefrauen, die ihm seine tausendfachen | |
| Seitensprünge skandalöserweise übelnehmen statt sie ihm freundlich zu | |
| gönnen – und dazu noch viel zu viel von seinem Geld ausgeben. | |
| ## Der berühmte Stil | |
| Die erwähnte späte Autobiografie ist „intim“ vor allem darin, dass sie | |
| ausführlich schildert und dokumentiert, wie seine jüngste Tochter in einer | |
| Wohlstandsverwahrlosung umkommt, die Simenon – blind wie Ödipus – | |
| einerseits anrichtet, andererseits mit allen schaurigen Konsequenzen | |
| ausbaden muss. Und so weiter. Übrigens kann man wohl überhaupt die subtile | |
| – und oft auch weniger subtile – Frauenverachtung dieses Schriftstellers | |
| und seiner männlichen Figuren (sie macht die Lektüre seiner Romane | |
| stellenweise zu einem so ambivalenten Erlebnis wie die Ernest Hemingways) | |
| seinem spätrömischen kulturellen Erbteil zurechnen. | |
| Das sich aber vor allem in dem berühmten Stil Simenons zeigt. Hier, in | |
| seiner eigentlich weiterwirkenden literarischen Leistung, kommt das | |
| Lateinische dieses Schriftstellers zu sich selbst. Colette soll es gewesen | |
| sein, die dem jungen Schriftsteller den Rat gab: „Streichen sie alles | |
| ‚Literarische‘.“ | |
| Das Beeindruckende an Simenons Prosa besteht darin, dass es ihm gelingt, | |
| mit ganz einfachen und unprätentiösen Sätzen dichte Atmosphären, glaubhafte | |
| Charaktere und nicht nachlassende Spannung zu erzeugen. Er beschreibt nicht | |
| nur, wie das höhnische Schicksal mit einfachen, oft bemitleidenswert | |
| gebeutelten Menschen sein Spiel treibt (wodurch er in uns eine Katharsis | |
| bewirkt, die uns im gelungenen Fall, wie das antike Drama, davor bewahrt, | |
| selbst kriminell zu werden). Er tut es zugleich in einer Sprache, die | |
| einerseits jeder einfache Mensch verstehen kann, die aber deswegen | |
| andererseits keinen Moment lang vulgär, herablassend, anbiedernd oder | |
| volkspädagogisch wird. | |
| ## Kunstvolle Unauffälligkeit | |
| „Der kleine Mann zog sein Taschentuch hervor und begann, seine Brille zu | |
| putzen, als wäre dies jetzt von allergrößter Wichtigkeit. Plötzlich | |
| schienen seine Pupillen zu verschwinden, sich aufzulösen. Nur sein Mund | |
| zeigte eine Regung, eine fast kindliche Regung.“ Es ist ein Stil, an dem | |
| einen nichts stört, weil er in seiner kunstvollen Unauffälligkeit | |
| vollkommen durchsichtig geworden ist. | |
| Im Deutschen, dessen literarische Kultur nicht auf spätrömische Wurzeln | |
| zurückgreifen kann, sondern im Barock entstand und deshalb oft ausufernd, | |
| ironisch, manieristisch geprägt ist, findet sich dieser Stil selten – bei | |
| Fontane vielleicht oder im Nachkriegsdeutschen bei Sebastian Haffner oder | |
| Hermann Lenz. Adorno schrieb über Eichendorffs Gedichte, sie erzeugten ihre | |
| nicht-triviale Wirkung mit literarischen Versatzstücken, die schon zu ihrer | |
| Zeit abgegriffen und trivial gewesen sind. Der spätrömische Schriftsteller | |
| Simenon erzeugt – wie außer ihm vielleicht allenfalls der spätrömische | |
| Schriftsteller Jorge Luis Borges – magische Wirkungen mit den | |
| alltäglichsten und einfachsten literarischen Bauteilen. | |
| Wie Cäsar in seinem „Gallischen Krieg“ bedient sich Simenon eines populär | |
| vereinfachten Attizismus – minimales Vokabular, einfache Sätze, klassische | |
| Wirkung: Veni, vidi, vici. „Maigret bemerkte etwas Rundes in der Asche. Er | |
| stocherte mit dem Schüreisen darin, fand ein paar ungeschälte Kartoffeln | |
| und verstand.“ | |
| Man wünscht dem neugegründeten Kampa-Verlag und dem Verlag Hoffmann und | |
| Campe, die sich die Editionsarbeit teilen, eine realistische Chance, diese | |
| Art von Schriftstellerei in Deutschland wieder gegenwärtig und populär zu | |
| machen. Auf der Backlist von Diogenes waren Simenons Bücher zuletzt in eine | |
| Art Winterschlaf verfallen, nachdem Simenon in den fünfziger und sechziger | |
| Jahren zum ersten Mal beliebt gewesen war – damals als der Krimiautor für | |
| den frankophilen Bildungsbürger mit Pfeife, Baskenmütze und höherem | |
| Bildungsabschluss. | |
| Heute muss sich das Genre nicht mehr distinguieren und legitimieren, es ist | |
| längst das einzige, mit dem Verlage noch Geschäfte machen können. Die | |
| zweite Welle der Simenon-Rezeption im deutschsprachigen Raum wird diesen | |
| spätrömischen Schriftsteller deshalb in mehr als einem Sinn als einen | |
| Klassiker entdecken können. | |
| 9 Feb 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Stephan Wackwitz | |
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