Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Stadt in Belgien erneuert sich: „Eine Stadt für den zweiten Blic…
> Die Geburtsstadt des großen Krimiautors Georges Simenon hat mit dem
> spektakulären Bahnhof Liège-Guillemins eine Spirale der Modernisierung
> ausgelöst.
Bild: Gare de Liège-Guillemins von dem spanischen Architekten Santiago Calatra…
„Al Capone Guilty“ schlagzeilt die Chicago Evening Tribune zu einem Foto
des Obermafioso samt Melone. Daneben ein Fahndungsplakat: „John Dillinger:
Wanted!“, samt ansprechender Verbrechervisage. Dokumente wie diese
empfangen die Abendgäste an den Wänden des chicen Restaurants Le Thème. Bis
hin zu den Kloschildern ist alles auf 20er Jahre gestylt; auf US-Gaunertum,
Glamour, Prohibition. Demoschilder stehen in der Ecke: „We want beer!“ Aus
den Lautsprechern perlt dezent Swing und Jazz über die Speisenden, als wäre
man in einem Film von Woody Allan. Oufti!
Oufti? Oufti ist Lütticher Slang und so was wie ein Markenzeichen der
Stadt. Es bedeutet: Alles klar, logo, sag ich doch“. Das Themenrestaurant
wechselt alle zwei Jahre komplett sein Interieur, zuletzt war man im
Orientexpress, in der Hölle, in der Rubenszeit.
Und eine Lütticher Zeitreise – im Kopf: Hätte man vor 13 Jahren
herumgefragt, wie dieses Liège im Jahr 2018 aussehen wird, wären die
Antworten sicher mehrheitlich weit hinter der Wirklichkeit zurückgeblieben.
Lüttich galt immer als schmuddelig, gestrig, attraktionsarm. Und wie
heruntergekommen muffig es da riecht. Was soll da bis 2018 schon groß
passieren?
Und da kommt der spektakuläre TGV-Bahnhof Liège-Guillemins ins Spiel.
Dieser grandiose weiße Bau voll lichter Eleganz des spanischen
Stararchitekten Santiago Calatrava. Ein futuristischer Bahnhof. Er hat
nämlich, wie unser Stadtführer Mike erklärt, mit seiner Eröffnung 2009
unerwartet „eine Spirale der Modernisierung Lüttichs ausgelöst“.
Anfangs stand Calatravas Prachtwerk „vor einer halben Bronx“ Richtung
Stadtzentrum: weite Brachfläche, Schuttberge, daneben das Elend so vieler
Bahnhofsviertel dieser Welt. Aber Lüttich begann zu bauen und zu
renovieren, erst mit städtischen Mitteln, dazu mit üppigen Zuschüssen von
der Wallonie und aus Brüssel – etwa den gläsernen gigantischen Finanzturm
dem Bahnhof gegenüber, den neuen Park La Boverie samt Kunstmuseum und
Kongresszentrum. „Dann kamen sehr schnell auch private Investoren, immer
weiter.“ Oufti!
## Zeitreise in die Zukunft
In der Tat: Die größte Stadt der Wallonie hat schwer aufgeräumt. Marode
Quartiere sind aufgehübscht worden im engen Gassengewimmel. Das alte
Opernhaus wurde komplett umgebaut – in nur vier Jahren, da hatten die
Kölner noch nicht ihre Planungen abgeschlossen. Straßen wurden in den
Untergrund verlegt – welche Wohltat. Und zwei großzügige Boulevards an der
Maas angelegt.
Ja, sagt Mike, alle Besucher staunten, auch Belgier, wenn sie nach Jahren
mal wieder nach Lüttich kämen. „Das ist typisch für unser Land: Wir
verkaufen uns schlecht. Schlechtes kommt an die große Glocke, damit man
lästern kann; Gutes reden wir herunter. In den Niederlanden ist das
übrigens genau umgekehrt.“
Die Zeitreise in Lüttich geht derzeit auch in die andere Richtung, dreizehn
Jahre in die Zukunft. Leider nur noch bis 3. Juni läuft die Ausstellung
„2030 werde ich 20 sein“ – initiiert zum 200. Geburtstag der Uni Lüttich…
vergangenen Jahr, mit Blick auf den 200. Geburtstag von Belgiens
staatsgründender Revolution im Jahr 1830.
Die Ausstellung findet an einem ungewöhnlichen Ort statt, im weitläufigen
Untergeschoss des TGV-Bahnhofs Liège-Guillemins. Die Ausstellungsmacher
haben hier in den letzten Jahren sehr erfolgreiche Ausstellungen
präsentiert, die sich allesamt großer Publikumsresonanz erfreuten, von „SOS
Planet“ über „Golden Sixties“ bis hin zu Dalì und der Terrakotta-Armee.
Die jetzt zu Ende gehende Show schafft mit leichter Hand den Spagat
zwischen Fatalismus in einer klimabedrohten Welt und optimistischen
Visionen. Modelle von Elektrocoptern und Personendrohnen sind zu sehen –
die ersten Drohnenmodelle der Welt wurden an der Uni Lüttich entwickelt. Da
wird der Traum von der automatisierten Stadt mit Photovoltaikstraßen
vorgestellt, es geht um urbane Landwirtschaft (Gemüse aus Häuserwänden) wie
auch schwimmende Wasserstädte, die dem steigenden Meeresspiegel
widerstehen: Aus den Niederlanden würden schrittweise Hochlande. Meist sind
die Exponate und Ideen angedockt an aktuelle Projekte der Lütticher
Universität, die vor allem in der Weltraumforschung weit vorn in Europa
ist, etwa mit dem Modell eines Marsmobils.
Und einmal wurde die Konzeption auch von der Realität überholt. „Der
3-D-Ducker für Schokolade schien uns bei der Planung vor drei Jahren eine
Superidee“, sagt Mitkurator Manfred Dahmen von der ostbelgischen Agentur
„Europa 50“, „mittlerweile ist so was längst nichts Besonderes mehr.“
## Im Talkessel der Maas
Vom alten Lüttich ist gleichwohl vieles geblieben, von der einst „feurigen
Stadt“, mit den vielen Hochöfen rundherum, deren Lichter nach
Sonnenuntergang das Firmament flackern ließen. Mit dem alten
Malocherviertel Seraing neben den Stahlhütten des Cockerill-Imperiums, vor
150 Jahren die größte Stahlfirma der Welt.
Mit dem Stolz, dass die Industrialisierung Kontinentaleuropas genau hier im
Talkessel der Maas begonnen hat. Mit dem scheußlichen Verwaltungsturm aus
der Nachkriegszeit im Zentrum, der die Aufschrift trägt: „Die Lütticher
wurden nie wie die Esel gezähmt. Stattdessen haben sie immer das Zaumzeug
abgeworfen.“ Oufti!
Auch die breite Treppe mit den 374 Stufen in die Oberstadt bleibt als
Attraktion. Gebaut 1880 als Route für besoffene Soldaten, damit sie von den
Kneipen der Stadt in ihre Zitadelle nicht lärmend durch die Quartiere der
Reichen torkeln mussten. Heute gibt es neben der Treppe zauberhafte Routen
nach oben, die sich durch wilde Gärten schlängeln, vorbei an den ersten
Beginenhöfen aus dem 11. Jahrhundert. Ein gutes Beispiel für Lüttichs
zweiten Namen: „Die Stadt für den zweiten Blick.“
Von oben sieht Lüttich aus wie zusammengepuzzelt. Ein halbes Jahrtausend
hat hier verschiedene Gebäude hinterlassen: vorneweg das Fürstbischöfliche
Palais, Kirchenklötze, Neubauensembles oder die typischen Hochhauszeilen am
Fluss direkt nach dem Krieg gebaut, weil nach damaligem belgischem Recht
vor Hochhäusern genügend Platz sein musste – und den bot das Wasser nun
mal.
## Historische Größe
Die mächtige Kathedrale Saint-Paul ist nur Ersatz für die einst noch
größere gotische Kathedrale Saint-Lambert, die im 14. Jahrhundert 4.000
Betern Platz bot und damit das christliche Gotteshaus mit dem größten
Innenraum Westeuropas war. Für die Aufständischen in den französischen
Revolutionsjahren war die Kathedrale Symbol für die Gewaltherrschaft des
Fürstbischofs. Weg mit dem Zaumzeug! Eine Commission destructive
organisierte den Abriss. Die Aufgabe war erst dreißig Jahre später
abgeschlossen, restefrei. Bis heute klafft hier mitten in der Stadt eine
Freifläche.
Für weltliche Macht und immensen Privatreichtum steht der europaweit tätige
Lütticher Waffenhändler Jean Curtius, der ab 1600 von unzähligen Kriegen
mit Großlieferungen von Schießpulver, Kanonen und Gewehren profitierte wie
kaum ein anderer. Seine Bauten wurden nicht geschleift. Heute sind die
renovierten Familienpaläste des Curtius-Clans, äußerlich in beige und
knalligem Rot, die wahrscheinlich schönsten Häuser der Stadt: maasländische
Baukunst der Renaissance direkt am Fluss. Sie beherbergen unterschiedliche
Museen.
Berühmteste Bürger Lüttichs sind Karl der Große und der
Kriminalschriftsteller Georges Simenon (1903 bis 1989). Der war zwar mit
gerade 19 Jahren nach Paris gezogen, beteuerte aber später, all seine
Geschichten hätten ihren Ursprung in Fantasien seiner Kindheit und Jugend.
Er wuchs in Outremeuse auf, dem Revier der kleinen Leute in Lüttich, wo man
heute auf seinen Spuren wandeln kann.
Simenon, anfangs Anarchist, Freund von Kokain und Alkohol,
Literaturverschlinger, passionierter Pfeiferaucher wie sein Held Kommissar
Jules Maigret und ausdauernder Bordellbesucher, war ein rekordverdächtiger
Schnellschreiber. Für die Rohfassung eines Werkes brauchte der „Inhaber
literarischer und erotischer Weltrekorde“ (Grenzecho, Eupen) kaum mehr als
eine Woche. Alfred Hitchcock hat, so die Legende, einmal bei ihm angerufen,
weil er über eine Verfilmung sprechen wollte. Simenons Frau sagte, ihr Mann
habe gerade seinen neuen Roman begonnen und dürfe nicht gestört werden bis
er fertig sei. Macht nichts, soll Hitchcock geraunt haben, ich bleibe so
lange am Apparat.
## Beliebt. Livevolksmusik
Eine der versteckten Attraktionen Lüttichs ist das CaféLes Olivettes gleich
am Maasufer, ein Gesangscafé. Mit Karaoke-Partygeplärre hat das nichts zu
tun: Hier sitzt ein betagter Pianist mit Monstermoustache live auf der
winzigen Eckbühne, und wer spontan Lust hat, singt ein, zwei Lieder.
Programm, Organisation? Non. Wer singt, der singt. Die Kneipengäste auf den
harten Kaffeehausstühlen trinken derweil ihren Kaffee oder das nächste
Bier. Sie lauschen, sie applaudieren – oder sie kümmern sich nur am Rande
um die Livevolksmusik.
Viele einheimische Hobbysänger sind jenseits der 60, auch deutlich über 70.
Sie schmettern ihre Lieblingschansons, mit großer Würde und völlig uneitel,
in den kleinen, mit altbelgischem Mobiliar geschmückten Raum. Man meint,
ihr schweres Leben, ihr Liebesleid in den Gesichtern zu lesen,
melancholisch und tapfer ertragen. „La vie en rose“ ist meist dabei und „…
ne regrette rien“.Belgien, berichtet ein Stammgast, habe eine ganz andere
Gesangskultur: „Wenn der Wallone vor Publikum ein Lied zum Besten geben
will, sagt er: ich gehe singen. Den interessiert gar nicht, dass er auf
einer Bühne steht. Die Deutschen sagen: Ich habe einen Auftritt.“
Solche Gesangscafés sind ein beliebter Bestandteil der frankofonen Kultur,
in der Wallonie noch mehr als ein Frankreich selbst. Lüttich hatte Anfang
der achtziger Jahre noch fünf solcher Kneipen, jetzt ist nur noch diese
geblieben. Sonntagnachmittags ist hier Primetime. Dann kommen die Besucher
des drei Kilometer langen MarktsLa Batte am Maasufer (früher Flohmarkt,
heute mehr Wochenmarkt von Obst und Gemüse), um den Tag im Olivettes
weiterklingen zu lassen. Mit Liedern aus Zeiten, als die Antiquitäten vonLa
Battenoch Neuwaren waren.
Eine Idee haben sie im Themenrestaurant übrigens verpasst. Trotz Zeitreise
in die Ära der Prohibition muss man nicht in einen Nebenraum, um heimlich
zu trinken oder einen Capone-Knecht bei der versteckten Alk-Order zu
bestechen. Bier und Wein werden tatsächlich am Tisch serviert. Oufti!
29 May 2018
## AUTOREN
Bernd Müllender
## TAGS
Reiseland Belgien
Lüttich
Stadtentwicklung
Literatur
George Simenon
AKW
Beutekunst
## ARTIKEL ZUM THEMA
„Simenon-Frühling“ in Lüttich: Mit Pfeife und Leica in die Welt
In Lüttich gibt es den Autor der „Maigret“-Romane als Fotografen zu
entdecken. Und als Reporter, der die Krisen seiner Zeit eindringlich
beschrieb.
Kommissar-Maigret-Autor neu übersetzt: Ein Jedermann im Trenchcoat
Der Vielschreiber George Simenon, der mit einfachsten Mitteln magische
Wirkungen erzeugen konnte, ist nun als Klassiker ganz neu zu entdecken.
Protest gegen belgische Reaktoren: AKW-Gegner überschreiten Grenzen
Zehntausende aus den Niederlanden, Belgien und Deutschland demonstrieren
mit einer Menschenkette gegen belgische Atommeiler.
Ausstellung in Lüttich: Kunst im Kontext
Das Museum La Boverie im belgischen Lüttich zeigt mit „21 rue la Boétie“
Kunst-, Sozial- und Politikgeschichte. Warum das spannend und wichtig ist.
Debatte Krise in Belgien: Das Land des Surrealismus
Steht Belgien vor dem endgültigen Zerfall? Die Wallonen fürchten um ihre
Privilegien, die Flamen wollen keinen neuen Kompromiss. In diesem Konflikt
steckt viel Geschichte.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.