# taz.de -- Debatte Krise in Belgien: Das Land des Surrealismus | |
> Steht Belgien vor dem endgültigen Zerfall? Die Wallonen fürchten um ihre | |
> Privilegien, die Flamen wollen keinen neuen Kompromiss. In diesem | |
> Konflikt steckt viel Geschichte. | |
Bild: Gare de Liège-Guillemins von dem spanischen Architekten Santiago Calatra… | |
Von außen betrachtet steckt Belgien in einer tiefen Krise. Zum ersten Mal | |
sorgen sich ziemlich viele Belgier um den Erhalt ihrer Nation, darunter | |
auch politische Führer, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften. Die | |
belgische Fahne hängt von Brüsseler Fenstern und wird auf Demonstrationen | |
als positives Symbol gewedelt. Darauf muss man erst mal kommen. Zur | |
gleichen Zeit scheint alles ganz normal. Brüssel ist bis heute Sitz der EU | |
und der Nato geblieben - wen kümmert es da, ob es auch eine belgische | |
Regierung gibt? In Ländern wie Italien, den Niederlanden oder Tschechien | |
sind schließlich auch schon ganze Monate vergangen, ohne dass eine | |
Regierung gebildet werden konnte. | |
Morgens, mittags und abends bombardieren die Medien das Land mit dem | |
neuesten Stand der Krise. Dennoch steht Belgien keineswegs am Rande eines | |
Bürgerkriegs. Es hat keine Gewaltausbrüche zwischen Flamen und Wallonen | |
gegeben. Nur die Politiker beschimpfen sich, aber die sind nicht | |
repräsentativ für die Masse der Gesellschaft. | |
Belgien ist das Land des Surrealismus. Diese Krise, so scheint es, ist | |
ungefähr so wirklich wie die nackten Frauen auf den Bildern des Malers Paul | |
Delvaux, der gerne mit einem Ausdruck völliger Losgelöstheit von den Sorgen | |
der Welt in Parks und Bahnhöfen herumzuspazieren zu pflegte. Belgiens | |
Regierungskrise dreht sich seit fast einem halben Jahr um die Bildung einer | |
Koalition zwischen "orangen" Christsozialen und "blauen" Liberalen - eine | |
ähnliche Farbkonstellation wie im Comic-Film "Tim und die Blauen Orangen". | |
Es war das Votum eines flämischen Parlamentsausschusses, das am 8. November | |
zum vorläufigen Abbruch der Koalitionsverhandlungen führte. | |
Das Votum vom 8. November handelte von der Aufteilung des Wahlbezirks | |
Bruxelles-Halle-Vilvorde, der die Vorstädte der belgischen Hauptstadt | |
umfasst. Hier wohnen viele Frankophone auf nominell flämischem Gebiet, und | |
bisher besitzen sie das Recht, Parteien ihrer Sprache zu wählen und mit | |
Behörden oder Gerichten in ihrer eigenen Sprache verkehren zu dürfen. Dass | |
Frankophone weiterhin auf ihrer Sprache bestehen, obwohl sie im flämischen | |
Landesteil leben, wird in Flandern jedoch als permanente Herausforderung | |
betrachtet. Der Ausschuss schaffte diese Privilegien also ab. | |
Vieles bleibt in diesem Streit ungesagt. Die Flamen finden die Wallonen | |
hochnäsig, arrogant oder einfach nachlässig, weil sie sich keine Mühe | |
geben, Flämisch zu lernen, während viele Flamen durchaus Französisch | |
können. Die Wallonen wiederum fragen sich, wieso sie das auf | |
internationalem Parkett völlig unbedeutende Flämisch lernen sollen, wo sie | |
doch ihre eigene, viel wichtigere Sprache haben. | |
Es steckt viel Geschichte in diesen Missverständnissen. Früher herrschte in | |
Belgien unangefochten das Französische vor; auch in Flandern war es die | |
Sprache der Aristokratie und des Bürgertums. Noch während des Ersten | |
Weltkrieges wurde so mancher flämischer Soldat hingerichtet, weil er die | |
auf Französisch erteilten Befehle nicht verstand. Das Flämische setzte sich | |
von unten durch, als Reaktion auf den schleichenden Verfall der alten | |
belgischen Oberschicht. | |
Heute ist Flandern reicher als Wallonien. Der aufstrebende Landesteil will | |
nicht mehr so viel Geld in einen belgischen Bundeshaushalt stecken, aus dem | |
sich dann wallonische Politiker, Sozialisten insbesondere, freizügig | |
bedienen. Walloniens informelle Hauptstadt Lüttich ist legendär für seine | |
Misswirtschaft und Korruption. Daher speist sich die Forderung nach einer | |
Verfassungsreform, um mehr Kompetenzen als bisher von der föderalen auf die | |
regionale Ebene zu verlagern und sicherzustellen, dass die Flamen allein | |
über ihr Verkehrswesen, die Post, das Gesundheitssystem und die | |
Sozialversicherungen verfügen können. | |
Nach dem Mehrheitsprinzip müsste es so sein, dass wenn die Flamen etwas in | |
Belgien wollen, es dann auch geschieht - finden die Flamen. Die Wallonen | |
sehen sich dadurch in ihrer Existenz bedroht. Sie sehen, wie ihnen die | |
Kontrolle über die belgischen Institutionen entgleitet, und ziehen sich aus | |
ihnen zurück. Doch wenn eine Sprachgruppe aus dem Parlament auszieht, kann | |
die andere nicht im Alleingang die Verfassung ändern. Deshalb kann nicht | |
einmal das berühmte Ausschussvotum vom 8. November Gesetzeskraft erlangen. | |
Dazu bräuchte es eine Regierung, und deshalb gibt es keine. | |
Den Wallonen macht die Unversöhnlichkeit vieler Flamen Angst. Die größte | |
Partei Flanderns ist der rechtsextreme Vlaams Belang, und viele flämische | |
Politiker verlangen eine Amnestie für flämisch-belgische Kollaborateure | |
während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg, während viele | |
Wallonen damals im Widerstand waren. Zum Vorwurf, die Flamen seien | |
Faschisten, ist es da nicht weit, zumal viele Flamen ganz offen die | |
Abschaffung Belgiens predigen. | |
Der flämische Christsoziale Yves Leterme, derzeit mit der Regierungsbildung | |
beauftragt, verkörpert den belgischen Surrealismus wie kein Zweiter. Als er | |
im Fernsehen gebeten wurde, die belgische Nationalhymne zu singen, stimmte | |
er die französische Marseillaise an. Kann so jemand Belgien führen? | |
Immerhin hat Belgiens König, neben dem Bier das letzte Symbol der | |
belgischen Nation, die Initiative ergriffen. Er hat die Präsidenten der | |
beiden Parlamentskammern - den Flamen Herman Van Rompuy und den Wallonen | |
Armand de Decker - zu "Versöhnern" ernannt, die jetzt Gespräche mit der | |
Legislative führen sollen. | |
Die Mehrheit der Flamen findet aber: lieber keine Regierung als ein neuer | |
Kompromiss. Notfalls eben ohne Belgien und ohne König. Und in Wallonien | |
regt sich die fast vergessene Bewegung der "Rattachisten", die den | |
frankophonen Landesteil an Frankreich anschließen will. Es ist ja schon | |
lange so, dass ein Wallone nur in Paris etwas werden kann - die Sänger | |
Jacques Brel und Annie Cordy, die Filmschauspieler Benoit Poelvoorde und | |
Marie Gillain sind dafür gute Beispiele. Auch dieser Traum zeugt vom | |
wallonischen Minderwertigkeitskomplex. Kein Flame käme schließlich auf die | |
Idee, den kulturlosen Niederlanden beitreten zu wollen. | |
So zerfällt der belgische Staat allmählich von innen. Der Zentralstaat | |
sieht zu, wie die Regionen immer mehr Kompetenzen an sich ziehen. Im | |
Ausland wird deshalb schon das tschechoslowakische Szenario erwogen, mit | |
einer friedlichen Teilung des Landes in zwei Teile. Das funktioniert in | |
Belgien aber nicht, denn was würde dann aus Brüssel? Die Hauptstadt liegt | |
zwar in Flandern, ist aber zu 85 Prozent frankophon geprägt. | |
Währenddessen geht das Leben seinen Gang. In Alltag spielt die Frage, ob es | |
denn inzwischen eine Regierung gibt, keine große Rolle. Die politische | |
Klasse und die Bevölkerung leben in verschiedenen Welten. "Dies ist keine | |
Pfeife" heißt das berühmteste Bild des belgischen surrealistischen Malers | |
René Magritte, das eine Pfeife zeigt. "Dies ist keine Krise" könnte man den | |
Zustand Belgiens heute beschreiben. | |
25 Nov 2007 | |
## AUTOREN | |
François Misser | |
## TAGS | |
Reiseland Belgien | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Stadt in Belgien erneuert sich: „Eine Stadt für den zweiten Blick“ | |
Die Geburtsstadt des großen Krimiautors Georges Simenon hat mit dem | |
spektakulären Bahnhof Liège-Guillemins eine Spirale der Modernisierung | |
ausgelöst. | |
Nach neun Monaten steht das Kabinett: Belgien beendet Regierungskrise | |
Nach endlosen Verhandlungen ist es dem flämischen Konservativen Yves | |
Leterme gelungen, eine Regierung zu bilden. Doch der Koalitionsvertrag ließ | |
strittige Punkte aus. |