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# taz.de -- Nachruf auf Manoel de Oliveira: Mit wunderbaren Zeichen übersätti…
> Er war so alt und zugleich so unermüdlich, dass man zu glauben begann, er
> sei unsterblich. Nun ist der Filmemacher Manoel de Oliveira verstorben.
Bild: Der letzte Regisseur der Stummfilmära: Manoel de Oliveira.
Das schiere Alter macht aus jedem Hundertjährigen eine Legende, doch Manoel
de Oliveira gab sich mit der Rolle des Patriarchen im Ruhestand nie
zufrieden. Als das Filmfestival in Cannes den Senior des portugiesischen
Kinos 2008 mit der Goldenen Palme für sein Gesamtwerk auszeichnete,
benutzte der asketische alte Herr seinen Stock auf der Bühne so lässig wie
Chaplin. Unerschöpflich vital ließ er sich auf Gespräche über seine Filme
ein, aber noch erstaunlicher war die Kontinuität, mit der er scheinbar
unsterblich neue Produktionen präsentierte.
Manoel de Oliveira war der älteste aktive Filmemacher der Welt und der
letzte Regisseur der Stummfilmära. Sein Debüt „Douro, faina fluvial“
entstand 1930 noch im Bann der entfesselten Stummfilmkamera von Walter
Ruttmanns Berlin-Portrait „Sinfonie der Großstadt“. In Ruttmanns Geist
dokumentierte der damals 23jährige Fabrikantensohn aus dem
nordportugiesischen Porto die harte Arbeit der Schiffsleute am Douro, die
reizvolle Flusslandschaft und ihre Kontraste zur mittelalterlichen
Architektur seiner Heimatstadt. In ungewöhnlichen Perspektiven und
Spiegelungen brachen sich in seinem Film moderne Mobilität und archaische
Dauer – ein wiederkehrendes Motiv in Oliveiras Werk.
1907 als Sohn eines Textilfabrikanten geboren, wuchs Oliveira in einer Welt
der Frauen auf, die von der Domäne der Männer isoliert war. Große Häuser
als Resonanzräume überkommener Standes- und Geschlechterordnungen gibt es
viele in seinen Filmen. In ihnen brechen sich maßlose Energien
unterschwelliger Begehrlichkeit und Frustration immer wieder Bahn. Manoel
de Oliveiras Filme sind kühle Tragödien, subtile Horrorfilme über Frauen,
die nach außen ihr Korsett wahren, nach innen die Krankheit der Gefühle
ausleben, die all die besitzvernarrten Väter, spionierenden Tugendwächter
und liebeskranken Romantiker als bloße Schauspieler eines brüchig
gewordenen Systems erscheinen lassen. Das Kino faszinierte den jungen
Bohémien früh.
Porto, zur Stummfilmzeit die Wiege des portugiesischen Kinos, besaß ein
Studio, in dem sich französische und italienische Melodramenmeister dem
Genre stilvoller Literaturadaptionen widmeten. Aus dem Kinofan wäre fast
ein Slapstick-Darsteller geworden: Oliveira besuchte die studioeigene
Schauspielschule und trainierte Stabhochsprung, Boxen und Autofahren. Doch
der erste Dokumentarfilm, mit väterlicher Unterstützung gedreht, blieb ein
Liebhaberstück, denn ab 1932 änderten sich die politischen Voraussetzungen.
Diktator Antonio Salazar zementierte sein Regime des „Estado novo“ und
setzte die portugiesischen Künstler unter Druck.
## Das Spielfilmdebüt 1942
Vier Jahrzehnte überwinterte Oliveira mit wenigen selbst finanzierten, kaum
veröffentlichten dokumentarischen Arbeiten. Er widmete sich dem väterlichen
Betrieb, fuhr Auto-Ralleys und produzierte Portwein. 1937 heiratete er
Maria Isabel Pinto und bekam vier Kinder. Sein Enkel Ricardo Trêpa wurde
ein wichtiger Schauspieler in Oliveiras letzten Filmen.
„Aniki-Bóbó“, sein Spielfilmdebüt, entstand 1942 in Porto. Die düstere
Kindergeschichte, in der zwei Jungen um ein Mädchen rivalisieren, nahm sein
großes Thema des Liebeswahns vorweg. 1963 dokumentierte Oliveira in „O Acto
da Primavera“ ein bäuerliches Passionsspiel und machte dabei auch die
Arbeit des Kamerateams sichtbar – auch dies ein Vorspiel zu seinen
Variationen über Theater und Film.
Der Spielfilm „A Caça“ griff im Jahr darauf eine Zeitungsmeldung über eine
atavistische Jagdgesellschaft auf, die einen in einem Sumpf versinkenden
Jugendlichen mangels Schwarmintelligenz nicht zu retten vermochte. Der
pessimistische Schluss seines Films trug Oliveira eine Woche Haft bei der
Geheimpolizei ein. In einem Alter, in dem sich Regisseure gewöhnlich
zurückziehen, begann Oliveira seine professionelle Karriere. Der
filmbesessene Unternehmer hatte im Zug der Kollektivierung während der
Nelkenrevolution seine Fabrik verloren und musste für ein Einkommen sorgen.
Über Porto in jener Zeit drehte er ein filmisches Vermächtnis, das bis nach
seinem Tod im Archiv der portugiesischen Kinemathek zurückgehalten wurde
und nun zur öffentlichen Vorführung kommt.
Schon vor dem Ende des Diktators Salazar wandte sich Oliveira dem visuellen
Dialog mit Werken prominenter portugiesischer Roman- und Theaterautoren wie
José Regio, Camilo Castelo Branco und Agustina Bessa-Luis zu. Schritt für
Schritt perfektionierte er eine komplexe Ästhetik, die an die älteren
Künste anschloss und Grundfragen seines liberal katholischen Weltbildes
einer kühl pessimistischen Analyse unterwarf. Über dreißig Filme von z. T.
monumentaler Länge entstanden bis zu seinem Tod und sicherten seinen Ruf
als Klassiker des europäischen Autorenkinos.
## Das Kino als „audiovisuelles Theater“
„Passado e o presente“, ein bizarres Zeitstück, und die folgenden
historischen Parabeln seiner „Tetralogie der gescheiterten Lieben“
begründeten in den siebziger Jahren Oliveiras Begriff vom Kino als einem
„audiovisuellen Theater“. Die Textstrenge der literarischen Sprache
bestimmte den Sound, der das Raisonnement der Gefühle entwickelte.
Schauplätze wurden zu imaginären Bühnen verengt, Studiobauten blieben
sichtbar als Material. Kamera, Lichtführung, Musik und Geräuschmontagen
schärften das Phantasmagorische, wie es den Blicken ewig getrennter
Liebender entspricht. Die unterdrückte Sexualität der Frauen schuf ein
Fluidum von Aufschub und Erwartung, nah an der Grenze zur Paranoia. Die
Jungfrauen waren es, die in Oliveiras Welt die tragische Lächerlichkeit und
zynische Ignoranz der Männer offenbarten, indem sie sie zu Voyeuren
stempelten.
In „Passado e o presente“ gibt sich eine Frau die Aura einer Jungfrau,
indem sie ihren Mann mit dem Kult betrügt, den sie um ihren verstorbenen
ersten Mann betreibt. In „Benilde ou a virgem-mãe“ behauptet eine junge
Hysterikerin, jungfräulich Mutter geworden zu sein und die Kamera fährt wie
mit Furien um den Bretterverschlag der rückwärtigen Studiobauten in den
theatralen Schauplatz hinein.
Hier wie in „Amor de perdição“, einem dreistündigen Romeo-und-Julia-Drama
aus Portugals Kolonialepoche, und in der Dreieckstragödie „Francisca“
sterben die Frauen einen ekstatischen Tod und folgen ihnen die Männer in
den Selbstmord. Stets geht es um die Repräsentation der Gefühle, um
Konventionen, Riten und gesellschaftliche Zwänge, in denen der Tod präsent
ist. „Saudade“, das Gefühl uneinholbarer Sehnsucht, ist Manoel de Oliveiras
Grundton, doch seine unterkühlte Intensität hielt Distanz zum Klischee
portugiesischer Befindlichkeit.
Eine ironische Variante des typischen Oliveira-Melodrams waren die
literarisch-musikalischen Horrormovies, die sich der philosophische
Connaisseur leistete. In „Os Canibais“, einer Filmoper mit Musik von João
Paes, liebt ein Mädchen einen melancholischen Vicomte, der sich am Ende in
einer exhibitionistischen Groteske als horribler Torso erweist. Das in
Paris gedrehte Alterswerk „Je rentre à la maison“ konfrontierte Michel
Piccoli, der auf dem Theater König Ubu spielt und um sein Gedächtnis
fürchtet, mit den Folgen eines schrecklichen Autounfalls: der monomanische
Künstler muss sich seinem Enkelkind zuwenden, das seine Eltern verlor.
In „O Convento“ gerät Cathérine Deneuve als gelangweilte Gattin des
faustischen Literaturprofessors John Malkovich am Ende in die Fänge eines
eleganten Teufels in Menschengestalt. Das Kino, das Manoel de Oliveira
verkörperte, war für ihn „eine Übersättigung mit wunderbaren Zeichen, die
im Lichte ihrer Erklärungslosigkeit baden.“
2 Apr 2015
## AUTOREN
Claudia Lenssen
## TAGS
Filmemacher
Kino
Film
Tanz
Schwerpunkt Filmfestspiele Venedig
Film
Cannes Cannes
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