# taz.de -- Historiker über Homo-Gleichstellung: „Der Staat hat eine Schutzp… | |
> Der Koalitionsvertrag bringt keine Gleichstellung: Der Historiker Klaus | |
> Müller über rechtliche Gleichheit für Lesben, Schwule, Bisexuelle, | |
> Trans*- und Intersexuelle. | |
Bild: „Rechtsgleichheit ist die Grundbedingung einer demokratischen Gesellsch… | |
taz: Herr Müller, wie beurteilen Sie als Historiker, der zu LGBTI*-Themen | |
forscht, den schwarzroten Koalitionsvertrag aus der Perspektive von | |
Schwulen und Lesben? | |
Klaus Müller: Wir haben in den letzten Jahren sehr viel erreicht, das Land | |
hat sich verändert, ja. Wenn man aber bedenkt, von welchem Punkt aus dieses | |
viele erreicht wurde … | |
Sie meinen etwa die Weitergeltung des NS-Paragrafen gegen Schwule von 1945 | |
bis 1969? | |
Ja. Die zentrale Forderung, die sich aus der deutschen Geschichte ergibt, | |
ist eine prinzipielle Rechtsgleichheit für Lesben, Schwule, trans*- und | |
intersexuelle Menschen. Diese Überzeugung setzt sich im allgemeinen | |
Bewusstsein mehr und mehr durch, auch weil unsere Eltern, Freunde, Kinder | |
und Kollegen nicht länger verstehen, warum uns Rechte vorenthalten werden. | |
Der Koalitionsvertrag, wie er jetzt zumindest in der SPD zur Abstimmung | |
steht, lässt die Differenz zwischen Hetero- und Homosexuellen im Eherecht | |
jedoch weiterbestehen und beharrt damit auf einer Scheindifferenz. | |
Nun argumentieren nicht nur gemischtgeschlechtlich orientierte Menschen, | |
die Differenz könnte bleiben, weil ja Heteros und Homos wirklich | |
unterschiedlich seien. | |
Manche möchten heiraten, andere nicht. Manche wollen Kinder, andere nicht. | |
Ich sehe da keinen Unterschied zwischen Homo- und Heterosexuellen, sondern | |
individuelle Lebensentwürfe. Wir kommen alle aus denselben Familien. | |
Sicher, es ist ein Fortschritt, dass im Koalitionsvertrag auch Inter- und | |
Transsexuelle überhaupt erwähnt werden – man zollt ihnen „Respekt“. | |
Besonders Transsexuelle sind ja weltweit gefährdet: In den letzten fünf | |
Jahren wurden weltweit mehr als 1.300 Transsexuelle ermordet, und die | |
Dunkelziffer jenseits dieser dokumentieren Opfer liegt weit höher. | |
Es sind viele kleine Schritte realisiert worden, aber es fehlt immer noch | |
eine prinzipielle Rechtsgleichheit, wie sie in Skandinavien, den | |
Niederlanden, Frankreich, Spanien, aber auch in den meisten | |
lateinamerikanischen Ländern oder einzelnen Bundesstaaten der USA | |
garantiert beziehungsweise angestrebt wird. | |
Was vermissen Sie konkret? | |
Wie wäre es mit einem Satz: „Wir als Staat schauen uns den gesamten | |
Gesetzesapparat an und garantieren, dass wir alles ändern, was | |
Homosexuelle, trans*- und intersexuelle Menschen rechtlich benachteiligt | |
und als weniger schutzwürdig definiert als andere Menschen. Unser Leitbild | |
ist Rechtsgleichheit als Grundrecht aller Menschen in diesem Land.“ Wie wir | |
dies in den Bereichen Gleichberechtigung Mann/Frau, Religion oder | |
Behinderung schon längst getan haben. | |
Die Eingetragene Lebenspartnerschaft … | |
… ja, die gibt es seit über zehn Jahren. Aber von der Öffnung der Ehe ist | |
momentan nicht die Rede – das ist eine Differenz zu einer prinzipiellen | |
Rechtsgleichheit, die ich fordere. Dem Staat kommt eine Schutzpflicht zu. | |
Rechtlich wie symbolisch ist dieser Schritt enorm wichtig, weil wir damit | |
endlich die Behauptung der Andersartigkeit zumindest juristisch beenden. | |
Man wartet auf weitere Bundesverfassungsgerichts-Urteile. | |
Eine zynische Haltung – Politik wird von einer demokratisch gewählten | |
Regierung, den Parteien, den Ländern gemacht. Der Hinweis auf Karlsruhe ist | |
die Verweigerung des Politischen durch die Parteien. Mir fehlt das | |
moralische Bewusstsein. | |
Vor allem die Union beruft sich auf ihre WählerInnen, die eine Öffnung der | |
Ehe nicht wollen. | |
Umfragen belegen, dass die Mehrheit der Unionswähler einer Öffnung der Ehe | |
nicht im Weg steht. Davon abgesehen, wollen wir Grundrechte wie das der | |
sexuellen und geschlechtlichen Selbstbestimmung als verhandelbar ansehen? | |
Auch Minderheiten unterliegen der Schutzpflicht des Staates. | |
Weshalb legen Sie auf Rechtsgleichheit so viel Wert? Viele glauben, dass es | |
auf Zivilgesellschaftliches ankommt, Initiativen und Förderprogramme. | |
Rechtsgleichheit ist die Grundbedingung einer demokratischen Gesellschaft. | |
Forderungen nach Toleranz können erst mit Macht vorgetragen werden, wenn | |
diese Gleichheit im Rechtlichen verwirklicht ist. | |
Und innenpolitisch? | |
Hier glaubt man sich Gesten erlauben zu können, die eigentlich den Mangel | |
an politischer Führung zeigen. Ich stelle mir etwa Kanzlerin Merkel im | |
Gespräch mit Russlands Präsident Wladimir Putin vor, und der sagt: Was | |
kritisieren Sie mich wegen der antihomosexuellen Gesetze – Sie haben doch | |
auch noch Vorbehalte. In dieser Hinsicht ist Deutschland ziemlich weit | |
zurück – im Vergleich zu unseren Nachbarn, aber ebenso zu | |
lateinamerikanischen Staaten oder Südafrika. | |
Eine russische Aktivistin antwortete sehr klug auf die Frage: Wie können | |
wir euch helfen? „Macht eure Hausaufgaben, ihr seid noch nicht dort, wo ihr | |
sein könntet. Wenn Deutschland sich weiterentwickelt, stärkt uns dies auch | |
international.“ | |
In Frankreich haben im Frühsommer Massendemonstrationen gegen die | |
Rechtsgleichheit von Homosexuellen stattgefunden. Waren die Reformen der | |
Regierung François Hollande zu rabiat und zu schnell? | |
Ich wüsste nicht, was daran rabiat ist, wenn man allen Menschen gleiche | |
Rechte gewährt. Übrigens das Programm der Französischen Revolution. Dass es | |
Widerstände gibt, weiß man. Es gibt Rassismus, Homophobie und andere Übel. | |
Denen beugt man sich nicht, sondern man geht politisch mit ihnen um. Zu | |
sagen, bestimmte Menschen seien noch nicht so weit, befördert nur einen | |
elitären Begriff von Demokratie. | |
In manchen Staaten ist es durch die öffentliche Performances von Schwulen, | |
Lesben, Trans* und Inter eher zur Verschlechterung des gesellschaftlichen | |
Klimas gekommen. Wie kann Solidarität denn gelebt werden? | |
Eine Solidarität hat sich weltweit tatsächlich entwickelt – zwischen | |
Initiativen, Aktivisten, Stiftungen und auch Staaten. Eine missionarische | |
Haltung aus dem Westen ist unangebracht – vielfach stammen ja homo- und | |
transphobe Gesetze noch aus unserer Kolonialzeit. Es geht um einen engen | |
Dialog mit einheimischen LGBTI*-Aktivisten. Diese kennen Risiken und | |
Chancen ihrer Arbeit. Wir nicht. Ohne Absprache, etwa mit den AktivistInnen | |
in Russland, geht nichts. Das gilt gerade im Hinblick auf die Olympischen | |
Spiele in Sotschi. Gleichzeitig sind deutliche Signale wichtig: Die Absage | |
des Bundespräsidenten hat Gewicht. | |
Hilft das auch Menschen, die sich beispielsweise in Russland zwar als | |
oppositionell verstehen, aber nicht mit LGBTI*- Gruppen arbeiten wollen? | |
Durch die extreme Zuspitzung der Lage für Homo- und Transsexuelle in | |
Russland hat sich mittlerweile ein Dialog mit anderen Menschenrechtsgruppen | |
ergeben, der vorher nicht existierte. Auch wir können dazu beitragen, | |
Brücken zu bauen. Botschaften etwa sind neutrale Räume, ermöglichen | |
Kontakte zwischen Gruppen, die nicht miteinander sprechen. Hier gibt es | |
viel Potenzial. Übrigens auch für die staatlichen Stiftungen mit ihrem | |
weltweiten Netzwerk. | |
Organisiert es sich untereinander in Internetforen am besten? | |
Nein, nicht umstandslos und vor allem nicht unbedingt frei. Die Stichworte | |
Big Data oder NSA beschäftigen uns ja alle. Im Netz hinterlassen Millionen | |
ihre Datenspuren, sind präsent mit ihren Intimdaten – ohne zu wissen, wie | |
diese künftig benutzt werden könnten. Was, wenn staatliche Instanzen, | |
Polizei und Gerichte dies als Material benutzen? Früher wurden Profile und | |
private Daten mühsam in Verhören ermittelt. Heute ist unser Datenschatten | |
immer schon vor uns da. In gewisser Weise sind wir Anfang des 21. | |
Jahrhunderts durch die über uns jederzeit zur Verfügung stehende | |
Information schutzloser als jemals zuvor. | |
Ist das nicht paranoid? | |
Wir wissen doch alle, hetero oder homo, dass wir durch unseren | |
Datenschatten Gefahr laufen, unsere Privatheit, die ja auch immer einen | |
Schutzraum darstellte, zu verlieren. In Uganda gab es einen Moment, wo | |
Zeitungen Profile von Aktivisten veröffentlichten, mit Foto, womöglich | |
Adresse: Die Informationen lagen ja vor, Facebook lässt grüßen. Die Türkei | |
hat gerade schwule virtuelle Kontaktforen geschlossen; die Regierung | |
beendet damit quasi auf Knopfdruck, was für viele der einzige sichere Weg | |
war, andere Männer kennenzulernen. Möglich ist da viel, die Frage wird | |
sein, ob und wo diese neuen Möglichkeiten angewandt werden und wie die | |
internationale Gemeinschaft reagiert. | |
Im Kontext der sogenannten Israelkritik sprechen einige AktivistInnen von | |
„Homonationalismus“, wenn etwa das Außenministerium in Jerusalem Promotion | |
mit der liberalen Lebensweise von Schwulen und Lesben macht. | |
Ich mache mir Sorgen um Freunde in Uganda oder Russland. Schwule und | |
Lesben, die aus dem Iran flüchten müssen. Transsexuelle Kollegen, die | |
Gewalt ausgesetzt sind, in Deutschland wie anderswo. Ich mache mir keine | |
Sorgen, wenn Regierungen Lebensweisen von LGBTI*-Menschen öffentlich | |
wertschätzen und sogar damit für sich selbst werben. Das ist historisch neu | |
und gut. Weniger überraschend: Regierungen sollen bekanntlich eine Tendenz | |
haben, sich positiv darzustellen. Wir werden sie daran messen. | |
Die von der Queer-Theoretikerin Judith Butler beflügelte Diskussion über | |
Homonationalismus rückt die Länder aus dem Blick, in denen Verfolgung von | |
LGBTI*-Menschen jeden Tag stattfindet. Sie zeugt von Gleichgültigkeit und | |
Selbstgerechtigkeit. Dass sich die Debatte dabei auf Israel zuspitzt, | |
scheint mir von anderen Motiven getragen, auch von antisemitischen | |
Impulsen. | |
12 Dec 2013 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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