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# taz.de -- „Heroines of Sound“-Festival in Berlin: Musik hat Macht
> Wie klingen VHS-Bänder? Wie werden E-Gitarren zur Klangskulptur?
> Antworten gab es bei der 10. Ausgabe des feministischen Festivals
> „Heroines of Sound“.
Bild: Marina Khorkova an ihrem selbstgebauten Tast-, Schlag- und Saiteninstrume…
Neulich an der Obi-Kasse: „Moment, zu den Bolzen und Dübeln nehme ich noch
einen Schwung Nieten für mein Klavier“. So oder ähnlich könnte es gewesen
sein, als die Komponistin Marina Khorkova sich für ihren Auftritt auf der
diesjährigen Ausgabe des „Heroines of Sound“-Festivals eindeckte, die von
Donnerstag bis Sonntag in den Berliner Stadtbezirken Friedrichshain und
Mitte über die Bühne ging. Es war das zehnte Jubiläum [1][eines Festivals,
das es sich zur Aufgabe gemacht hat, „weibliche Akteure in der Musik
(wieder) zu entdecken und die öffentliche Präsenz ihrer Musik zu
steigern“], wie es programmatisch in einer Selbstbeschreibung heißt. Das
schließt frühe Heldinnen und junge Akteure gleichermaßen ein, und Khorkovas
Auftritt war einer der markantesten dieses Jahres.
Tatsächlich hat Khorkova mit ihren Einkäufen aus dem Baumarkt und vielen
anderen, erst einmal musikfern wirkenden Utensilien ein Eigenbau-Klavier
entwickelt, das wie eine Kreuzung aus offenem Konzertflügel und
angeschlossener Harfe wirkt. Die Saiten sind aus Angelschnur und alten
VHS-Bändern, die einen bespielt Khorkova perkussiv, die anderen schon mal
mit angefeuchteten Fingern. „Klangliche Täuschungen in drei Interaktionen“
hat sie ihre Komposition für multiphonisches Klavier und Elektronik
genannt, und das Stück führt gar nicht in die Irre, sondern verdeutlicht,
um was für ein hybrides Instrument es sich beim Klavier handelt: Es ist ein
Tasteninstrument, bei Khorkovas Spielweise eher ein Tastinstrument, dann
ein Schlag- und Saiteninstrument. Khorkovas Komposition verbindet alle drei
Aspekte und kommt spielerisch daher, dabei liegt dem Stück eine längere
Beschäftigung mit [2][dem präparierten Klavier von John Cage zugrunde].
Die „Heroines of Sound“ machen Klangräume und Klangmaterialien
unterschiedlichster Art erfahrbar: In einer Außenstation im Klangkunstraum
Errant Sound in der Rungestraße haben die Künstlerinnen Ece Canli, Angélica
Salvi und Vuduvum Vadavã unter dem Titel „Poisogem“ eine Art Labor
aufgebaut, das noch über das „Heroines of Sound“-Festival hinaus bis zum
12. Juli besucht werden kann. Teil der Ausstellung ist eine Dunkelkammer,
in der über ein Mehrkanal-Soundsystem eine 25-minütige Komposition aus
Harfenklängen, elektronischen Schleifen und kristallinem Klingeln läuft und
mit wechselnden Lichteffekten kombiniert wird. Auf der Straßenseite
gegenüber befand sich in den Achtzigerjahren die Ausbildungsstätte des
Volkseigenen Betriebes Secura, und in den Werkhallen und Pausenräumen der
ausgehenden DDR klangen und flackerten die Neonröhren ähnlich.
Rumorende Räume
Gefährlich mutet der Raum an, den [3][Stefanie Egedy] im obersten Stockwerk
des Radialsystems in der Holzmarktstraße, dem hauptsächlichen
Austragungsort des Festivals, bespielt. „Zutritt auf eigenes Risiko“ steht
an der Stahltür, und auf dem Weg dahin ist ein merkliches Rumoren und
Rütteln im Fahrstuhlschacht zu vernehmen. Bei geöffnetem Fenster geht das
bis in den Garten und an das Spreeufer. „Bodies and Subwoofers“ heißt
Egedys Beitrag, in dem sie mit tieffrequenten Schallwellen, Resonanzen und
Nachhall im Zusammenspiel mit der Raumarchitektur arbeitet.
Das Publikum nimmt liegend teil, und der Klang fegt förmlich über es
hinweg, fährt aber auch in die Teilnehmer hinein. Musik hat Macht, das wird
hier sehr deutlich. In Egedys Beispiel ist das potentiell und tatsächlich
therapeutisch, in anderen Händen sicher aber auch militärisch verwendbar.
Soviel zum Doppelcharakter des Genusses. „After Conflict“ heißt nicht von
ungefähr eine Komposition Egedys, die sie gemeinsam mit dem auf dem
Festival kontinuierlich fulminant spielendem Ensemble KNM zur Aufführung
bringt.
Die Musik dieses verlängerten tropischen Wochenendes mag an einigen Stellen
akademisch wirken, allein, sie muss das nicht sein. Einen Schwerpunkt
bildet die E-Gitarre. Und es sind gleich sieben an der Zahl, die Catherine
Lorent im Eingangsbereich des Radialsystems in einer Klangskulptur
arrangiert hat; und es handelt sich nicht um irgendwelche E-Gitarren,
sondern um Gibson Explorer, ein Modell, das für Jazzgitarristen konzipiert,
von diesen nicht angenommen, aber später vom Hard Rock und Heavy Metal
adaptiert worden ist. Die schnittigen Instrumente gehören zum
Erscheinungsbild jeder amtlichen und lautstarken Langhaarrotte, Lorent
überführt sie in ein barockes Klangbild, das die Zuschauer im Vorbeigehen
unwissentlich über ein elektromagnetisches Steuersystem in Gang setzen.
Draußen vor der Tür meldet sich derweil die Wasserstoff-Zapfsäule einer
Tankstelle. Der Sound hat Potenzial.
11 Jul 2023
## LINKS
[1] /Heroines-of-Sound-Festival-in-Berlin/!5862578
[2] /Ausstellung-ueber-Prepared-Pianos/!5654108
[3] /Klangkunstfestival-Dystopie-in-Berlin/!5720035
## AUTOREN
Robert Mießner
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