# taz.de -- Klangkunstfestival „Dystopie“ in Berlin: Auch der Wind spielt m… | |
> In Berliner Kellerräumen lassen Soundinstallationen BesucherInnen | |
> vibrieren. Viele der KünstlerInnen des Festivals kommen aus Brasilien. | |
Bild: Windhorn von Kerstin Erzinger | |
Bereits die Räume sind das Kommen wert. Dicke Tresortüren schließen noch | |
immer einzelne Kellerräume der Alten Münze am Molkenmarkt in Berlin-Mitte | |
ab. In die gelegentliche Party-Location – Corona sorgte auch hier für | |
Einschnitte – hat sich für die kommenden zwei Wochen das ambitionierte | |
[1][Sound Art Festival „Dystopie“] eingemietet. Es präsentiert vor allem | |
[2][Klangkünstler*innen aus Brasilien.] | |
Insgesamt 14 Positionen werden in der Alten Münze vorgestellt. Bei den | |
meisten handelt es sich um komplette Neuproduktionen – ein wichtiges | |
Merkmal dieses vom Komponisten Georg Klein ins Leben gerufenen | |
Produzentenfestivals. Zwei Audio Walks gibt es im Stadtraum, weitere | |
Installationen sowie eine Kollektion von Klangstücken im Projektraum Errant | |
Sound auf der anderen Spreeseite in der Rungestraße. | |
Empfangen wird man in den Kellerräumen der früheren Münzprägeanstalt | |
zunächst von ganz tiefen Tönen. Stefanie Egedy hat eine gewaltige | |
Subwoofer-Box aufgestellt, aus der Subbass-Frequenzen zwischen 35 und 63 | |
Hertz dringen. Die tiefen Frequenzen werden nur marginal mit dem | |
Trommelfell aufgenommen. | |
Stattdessen vibriert der ganze Körper, ja die Luft scheint angefüllt mit | |
pulsierender Materie. Es handelt sich um ein Körpererlebnis, dass Egedy als | |
„besser als Sex“ einordnet, und tatsächlich bringen die Vibrationen Körper | |
und Geist ziemlich in Bewegung. | |
## Per Smartphone mit der Installation verbunden | |
In der Folge hat man es mit sanfteren, feineren Klänge zu tun, und man muss | |
den eigenen Wahrnehmungsapparat dafür auch wieder rekalibrieren. Giuliano | |
Obici verwendet in „Screen Utopia“ Schallwellen, die sich auf Farben | |
beziehen. Die sanften tieferen Frequenzen lässt er durch den Raum strömen. | |
Per Smartphone kann man sich mit der Installation verbinden und empfängt | |
dann auf seinem Endgerät höhere Klangfrequenzen. | |
Statischer und mobiler Kanal ergänzen sich hier, Sehen und Hören vermischen | |
sich. Gar ein Stethoskop – natürlich mit Desinfektionspads versehen – muss | |
man bei Joana Burds Arbeit „The Box“ benutzen. Denn nur mittels des | |
medizinischen Horchinstruments (und Statussymbols) vernimmt man die Stimmen | |
der in die Box eingesperrten Dienstleistungs-KIs Alexa, Siri und Cortana. | |
Die Frauenstimmen, die weniger artifiziell wirken als bei den | |
Originalprodukten, erzählen von ihrem Isoliertsein. Sie versuchen, | |
Beziehungen aufzubauen, und es entsteht der Eindruck, als sehnten sie sich | |
nach einem Körper. Burd verweist mit der Arbeit zugleich auf | |
Genderstereotype im Bereich der Künstlichen Intelligenz. Die | |
Dienstleistungs-KIs der Software-Multis sind allesamt mit weiblich | |
klingenden Stimmen ausgestattet. | |
Wieder lauter wird es bei „Bruto“, einer Installation von Bruno Gola. Man | |
hört Polizeisirenen und Verkehrslärm. Sogar Schüsse fallen. Es handelt sich | |
um Fieldrecordings einer Demonstration in Brasilien gegen die Erhöhung der | |
Fahrpreise im öffentlichen Personennahverkehr. Die Polizei ging brutal | |
dagegen vor. Gola erzählt, dass Brasiliens wichtigste Tageszeitungen die | |
Polizeigewalt anfangs sogar anstachelten. „Die Haltung änderte sich erst, | |
als Journalisten von Polizeikugeln getroffen wurden“, sagt Gola der taz. | |
## Protestmusik gegen Brasiliens Rechte | |
Die Demonstrationen verselbstständigten sich später, gingen über die | |
ursprünglichen Forderungen hinaus – die übrigens erfüllt wurden – und | |
mündeten in eine Mobilisierungsbewegung von Brasiliens Rechten. „Es führt | |
eine direkte Linie von den späteren Demonstrationen zu [3][Bolsonaro]“, | |
erklärt Gola. Das alles hört man nicht unbedingt, aber Hören und | |
Kontextwissen verbinden sich. | |
Eine sehr feine, so poetische wie politische Installation verhinderte im | |
Übrigen die Deutsche Bahn. Im winddurchtosten Bereich unter der | |
Jannowitzbrücke wollte die Künstlerin Kerstin Ergenzinger große Pfeifen | |
installieren. Sie nannte sie Whistleblowers, weil sie den Wind im | |
öffentlichen Raum in Klang übersetzen. | |
Das Unternehmen Deutsche Bahn hat aber offenbar etwas gegen | |
[4][Whistleblowers] und untersagte die Installation mit Hinweis auf nicht | |
näher spezifizierte Verwaltungsvorschriften. Jetzt ist eine der Pfeifen im | |
Keller der Alten Münze installiert. | |
Zahlreiche Live Acts und Workshops begleiten das Festival. Kurator Georg | |
Klein hofft, die hier entstandenen Arbeiten im kommenden Jahr auch in | |
Brasilien präsentieren zu können. Das Produzentenfestival in Berlin soll so | |
auf die öffentlich nicht gerade üppig geförderte Klangkunstszene in | |
Brasilien zurückwirken. Besucher in Berlin sollten sich – coronabedingt – | |
in Timeslots voranmelden. | |
Bis 1. 11., Alte Münze, Stadtraum, Errant Sound | |
18 Oct 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.dystopie-festival.net/2020/?lang=de | |
[2] /No-Wave-aus-Rio-de-Janeiro/!5716145 | |
[3] /Bolsonaro-Regierung-gefaehrdet-Umwelt/!5717778 | |
[4] /Auslieferungsverfahren-Julian-Assange/!5717554 | |
## AUTOREN | |
Tom Mustroph | |
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