# taz.de -- Haustürwahlkampf mit der SPD im Osten: Rote Manöver | |
> 2021 holte die SPD in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg alle | |
> Direktmandate. Können die Genoss*innen das am Sonntag gegen die AfD | |
> wiederholen? | |
Bild: Ein paar Informationen, und Gummibärchen für die gute Laune: Maja Walls… | |
## Die Schiedsrichterin | |
Sie müsse kurz hüpfen, sagt Maja Wallstein und springt vor Freude auf und | |
ab. Ihr Pferdeschwanz wippt mit. Der 1. FC Energie Cottbus hat sie gerade | |
auf Instagram mehrmals erwähnt. Anlass war der Besuch der | |
SPD-Bundestagsabgeordneten einen Tag zuvor. Nichts geht über die Liebe | |
zwischen einem Fan und ihrem Verein. | |
Wallstein kann man als FC-Energie-Ultra bezeichnen. 1987 wurde sie in | |
Cottbus geboren, von klein auf nahm der Vater sie mit ins Stadion. In ihrer | |
Freizeit pfeift sie selbst Spiele in der Amateurliga. Die Cottbuser Kurve | |
steht also. Doch in den Dörfern und Gemeinden südlich von Cottbus, da wird | |
es für Wallstein schon schwieriger, Fans zu finden – Fans für die SPD. | |
Maja Wallstein ist seit 2021 sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete, | |
direkt gewählt in der Lausitz im [1][Wahlkreis Cottbus – Spree-Neiße]. | |
205.000 Menschen leben hier, knapp 40 Prozent von ihnen sind über 60 Jahre | |
alt, der Ausländeranteil beträgt rund 8 Prozent. Knapp 28 Prozent der | |
Wähler:innen stimmten bei der letzten Bundestagswahl für Wallstein, es | |
war ein hauchdünner Vorsprung vor dem AfD-Bewerber. Am Sonntag könnte es | |
andersherum sein. | |
An einem kalten Tag im Januar hat sich Wallstein vormittags die Kreisstadt | |
Forst ausgesucht, um Menschen für sich und die SPD zu begeistern. Die | |
Ortsgruppe hat einen Stand gegenüber von Kaufland aufgebaut. Wallstein | |
spricht Passant:innen an, bietet Gummibärchen an, „Für die gute Laune!“, | |
und Faltblätter, „Ein paar Informationen zur Wahl.“ | |
In Forst sorgten Tuchfabriken einst für Wohlstand, sanierte | |
Gründerzeithäuser zeugen noch vom Glanz vergangener Tage. Seitdem die | |
Industrie weg ist, schrumpft die Stadt, und das sieht man. Jede zweite | |
Fußgänger:in ist mit Rollator unterwegs. Wallstein geht auf eine Gruppe | |
Seniorinnen zu, die vor einem Café mit ausgebleichtem Schild stehen und an | |
ihren Fluppen ziehen. Eine verstaut die Packung in der Handtasche und winkt | |
ab. „SPD ist ja gar nicht meins. Ich wähle die AfD und nischt anderes.“ Die | |
anderen schweigen. | |
Wallstein gibt nicht auf. Was sie sich von der Politik wünschten?, will sie | |
wissen. Und konkreter noch: „Von mir. Sagen Sie mir, was ich falsch gemacht | |
habe.“ Die Frauen sagen, dass alles immer teurer werde und man kaum noch | |
einen Arzt in der Nähe finde. „Beim Augenarzt in Döbern musste Schlange | |
stehen.“ Und die Frauen wünschen sich Frieden auf der Erde, dass das | |
aufhört mit dem Krieg. Alle Parteien hätten da versagt. Alle, außer der | |
AfD. | |
Wallstein könnte sagen, dass es Putin war, der die Ukraine überfallen hat, | |
dass das billige russische Gas seitdem ausblieb und die Energiepreise | |
explodierten. Sie könnte von den drei ukrainischen Frauen und ihren vier | |
Kindern berichten, die sie gleich nach Kriegsbeginn bei sich zu Hause | |
aufgenommen hat. Sie könnte die Krankenhausreform loben, die gerade | |
Standorte im ländlichen Raum sichern soll. Und anmerken, dass die AfD außer | |
Sprüchen gegen Ausländer für arme Leute nichts zu bieten hat. Aber all das | |
tut sie nicht. Erstens stimmt es ja, Lebensmittel sind deutlich teurer | |
geworden. Und auf dem Land gibt es tatsächlich kaum Ärzte. | |
Und Maja Wallstein ist keine, die den Menschen ihre Meinung aufdrängt. Sie | |
hört lieber zu. Jeden Sommer geht sie drei Monate auf Zuhörtour, zieht mit | |
Bollerwagen über die Dörfer und sucht das Gespräch über den Gartenzaun | |
hinweg. Sie erfahre dort, was die Menschen wirklich bewegt, berichtet | |
Wallstein. Den Witwer etwa, der über kriminelle Ausländer herzog, aber vor | |
allem Angst hatte, dass ihm die Vespa seiner verstorbenen Frau auch noch | |
abhanden kommt. Die Frau, die sie anraunzte, alle SPD-Politiker seien | |
Verbrecher, aber vor allem wütend war, dass die Krankenkasse ihre | |
Schmerzmittel nicht mehr bezahlte. Weil sie das falsche Formular ausgefüllt | |
hatte, wie Wallstein nach einem Telefonat mit der Krankenkasse erfuhr. | |
Was sie aus diesen Gesprächen mitnimmt? „Dass wir als Gesellschaft noch | |
nicht verloren sind“, sagt Wallstein. „Egal, wie weit wir auseinander | |
liegen, 99,9 Prozent der Gespräche enden respektvoll.“ Die Frau, der sie | |
half, die Erstattung für ihre Medikamente zu beantragen, habe sie sogar | |
umarmt. Wallstein ist überzeugt: „Es reicht nicht, dass wir gute Politik | |
machen, wir müssen gute Beziehungen aufbauen.“ | |
Aber das ist mühsam in einer Zeit, in der traditionelle Milieus | |
auseinanderfallen und die Bindung zwischen klassischen Parteien und | |
Wähler:innen abnimmt. | |
Die Beziehung zwischen der SPD und ihren Wähler:innen ist gerade | |
ziemlich erkaltet. [2][Einer Analyse des Wahlforschungsinstituts Ipsos | |
zufolge] hat die SPD rund die Hälfte ihrer Wählerschaft seit der | |
Bundestagswahl 2021 verloren. | |
Über die Gründe kann Wallstein nur spekulieren. „Ach, in den letzten Jahren | |
gab es immer was, was gegen uns gesprochen hat. Es gibt ja auch tausend | |
Dinge, die schlecht laufen.“ Aber genau deshalb engagiere sie sich ja. | |
Bevor sie 2009 in die SPD eintrat, war sie Mitglied bei den Jusos. Kämpfte, | |
vergeblich, gegen die Fusion zweier Hochschulen – der damalige | |
SPD-Ministerpräsident Matthias Platzeck nannte sie „Krawallstein“. „Ich | |
muss ihm wohl ziemlich auf die Nerven gegangen sein.“ Heute sind sie | |
befreundet, am Abend desselben Tages wird Platzeck auf ihre Einladung hin | |
ins Volkshaus Guben zum Gespräch mit Bürger:innen kommen. | |
Mittags baut die SPD den Stand in Forst ab, Wallstein fährt mit dem Auto | |
nach Guben, die Neiße entlang. Auf der anderen Flussseite ist schon Polen. | |
Guben ist eine Grenzstadt, die Innenstadt schmuck saniert. In Kaltenborn | |
dominieren dagegen vierstöckige Plattenbauten, dazwischen Grünstreifen und | |
kleine Wäldchen. Die Tür-zu-Tür-App der SPD sagt ihr, dass sie hier ganz | |
gute Chancen hat, dass man ihr öffnet. | |
Auf den Klingelschildern stehen deutsche, slawische und arabische Namen. | |
Hinter manchen Türen bellen Hunde, hinter einer weint ein Kind und eine | |
schrille Stimme schreit: „Jetzt putz dir endlich die Nase oder biste | |
bescheuert.“ Die Wände sind dünn, mitunter riecht man Zigarettenrauch aus | |
einer Wohnung bis ins Treppenhaus. | |
Die Menschen, die öffnen, reagieren tatsächlich überwiegend freundlich, die | |
meisten nehmen Faltblatt samt Gummibärchen. Ein Junge gibt die Gummibärchen | |
zurück: „Wir dürfen nicht, wir sind Muslime.“ Ein älterer Mann mit einem | |
Che-Guevara-Shirt lädt sie auf einen Tee ein, aber Wallstein will noch ein | |
paar Türen schaffen. Eine Rentnerin würde gern am Abend zum Gesprächsabend | |
mit Platzeck kommen, aber der Bus fährt ab halb acht nicht mehr ins | |
Zentrum. Wallstein organisiert ihr ein Taxi. Und geht treppab, treppauf zur | |
nächsten Tür, Block für Block. Der Wahlkampf wird zur Fitnesseinheit. | |
Während Wallstein kaum Ermüdungserscheinungen zeigt, wankt die Reporterin | |
und wird am nächsten Tag Muskelkater haben. | |
Vor einem Aufgang gehen zwei grauhaarige Damen spazieren: die ältere auf | |
ihren Rollator und auf den Arm ihrer Begleiterin gestützt. Wallstein sagt | |
ihr Sprüchlein auf: „Guten Tag, ich bin Maja Wallstein, ihre | |
Bundestagsabgeordnete, ich …“ – „Ich habe sie doch beim letzten Mal | |
gewählt“, unterbricht sie die jüngere der beiden. – „Es wird unfassbar | |
knapp dieses Jahr“, sagt Wallstein und schaut gequält. Diesmal könnte der | |
AfD-Kandidat gewinnen. „Hoffentlich“, fügt sie an, „gehen wenigstens alle | |
zur Wahl, die eine demokratische Partei wollen.“ Die ältere schüttelt den | |
Kopf. „Ich geh nicht mehr wählen.“ Die jüngere guckt sie streng an. „Al… | |
das kleine Stück bis zum Wahllokal können wir alle laufen.“ Sie nickt | |
Wallstein aufmunternd zu. Die ist immerhin über die Landesliste abgesichert | |
– Platz 2, das sollte reichen für den Einzug in den Bundestag. | |
Zu dem Gespräch mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten kommen am Abend etwa | |
50 Leute nach Guben, darunter die Dame mit dem Taxi samt Freundin, und ein | |
Ehepaar aus einem der umliegenden Dörfer. Wallstein haben sie auf deren | |
Zuhörtour kennengelernt, ihre Namen wollen sie nicht nennen. „Das können | |
wir uns auf dem Dorf nicht leisten“, sagt die Frau bestimmt. „Nicht, dass | |
wieder Schuhcreme im Briefkasten ist.“ Aber die Maja, die hat sie beide | |
überzeugt. „Die hat Herz. Sie belehrt nicht nur, sie will wirklich was | |
erfahren.“ Beide werden wohl die SPD wählen. Wegen Maja. | |
## Der Aufklärer | |
„Der Blick ins Gelände ist durch nichts zu ersetzen“, sagt Johannes Arlt. | |
Der 40-Jährige ist Soldat durch und durch. Schnittiger Scheitel, | |
raspelkurze Seiten, klare Ansagen. Arlt ist Offizier der Luftwaffe, | |
Abteilung Drohnenaufklärung. Siebenmal war er in Auslandseinsätzen, viermal | |
Afghanistan und dreimal Mali. An diesem nebligen Tag im Januar ist er in | |
der Mecklenburgischen Pampa unterwegs, im Haustürwahlkampf | |
Sein [3][Wahlkreis umfasst die Mecklenburgische Seenplatte und den | |
Landkreis Rostock], von der Fläche her der größte Wahlkreis in Deutschland | |
und dabei einer der am dünnsten besiedelten. 243.000 Menschen verteilen | |
sich über 6.000 Quadratkilometer, knapp 40 Prozent von ihnen sind über 60 | |
Jahre alt, der Ausländeranteil liegt bei 4 Prozent. Von einem höheren | |
Mindestlohn, wie die SPD ihn in ihrem Wahlprogramm fordert, würden hier ein | |
Drittel der Erwerbstätigen profitieren. | |
Arlt und sein Team stehen vor dem Konsum von Hohen Demzin, der seit Sommer | |
geschlossen hat. Auch das Dorf scheint menschenleer zu sein. Arlt schaut | |
auf seine Armbanduhr. „Es ist jetzt 10.26 Uhr, also ein bisschen später als | |
geplant.“ Er wendet sich an die drei Wahlkampfhelfer, die im Halbkreis um | |
ihn stehen. „Bastian, kannst du Datenerhebung machen? Ich würde rechts der | |
Kirche Haustürwahlkampf machen, und das andere Team geht links runter, da | |
werfen wir nur Flyer ein. Wir treffen uns dann hier wieder und bewegen uns | |
gemeinsam in Richtung des nächsten Ortes.“ Sie teilen sich auf. | |
Den Kleinbus hat er neben dem Feuerlöschteich geparkt, auf der Kühlerhaube | |
prangt ein großer Bundesadler. Der Bus ist ein E-Auto, aber Arlt verzichtet | |
auf die äußere Kennzeichnung: „Sonst kommt man mit den Leuten gar nicht ins | |
Gespräch.“ Auch bei Arlt würde man nicht auf Anhieb vermuten, dass er als | |
Schüler ein Musikgymnasium besucht hat und ursprünglich Geige studieren | |
wollte. Dass er drei Firmen gegründet hat, die erste als Schüler. Zugleich | |
ist er seit seiner Jugend SPD-Mitglied, weil ihm Solidarität wichtig ist. | |
Sein Vater hatte die Partei in der DDR mitgegründet. Er war es auch, der | |
ihn dazu überredete, Wehrdienst zu leisten. Arlt blieb dann beim Bund. | |
Seine Dienstuniform ist derzeit im militärhistorischen Museum in Dresden | |
ausgestellt, als Leihgabe. Seit 2021 besteht seine Arbeitskleidung aus Hemd | |
und Jackett. Vor dreieinhalb Jahren eroberte er den Wahlkreis von der CDU, | |
nun tritt er erneut als Direktkandidat an, und zwar ausschließlich. Nach | |
Streit mit seinem Landesverband um die Position auf der Liste verzichtete | |
er ganz auf einen Platz: „Sollen die Bürger entscheiden, ob ich meine | |
Arbeit gut gemacht habe.“ | |
Mit roter Umhängetasche und einem Packen Zettel in der Hand nähert er sich | |
einem Gehöft. Der Schlüssel steckt von außen. „Das ist typisch hier“, sa… | |
Arlt, „viele schließen nicht ab.“ Er klingelt. Keiner da. Arlt will | |
weitergehen, da kommt ein Mann mit Anorak und Schlappen über den Hof. „Der | |
Herr Arlt“, begrüßt er ihn. „Sie kennen mich?“, fragt Arlt und bleibt | |
stehen. „Na klar, von der Zeitung“, sagt der Mann in breitem Mecklenburger | |
Dialekt. Er arbeitet sonst als Fahrer bei einer Abrissfirma, ist gerade | |
krankgeschrieben. Arlt reicht ihm einen Zettel. „Meine Bilanz. Zum Beispiel | |
das Krankenhaus in Teterow, das bleibt. Das konnte ich erkämpfen.“ Der Mann | |
nickt. „Das ist wichtig.“ Er habe seit Juli 2023 keinen Zahnarzt mehr, seit | |
dieser in Rente gegangen und keine Nachfolger gefunden habe. | |
Dass gerade in ländlichen Regionen Praxen mangels Nachwuchs schließen | |
müssen, ist ein gesamtdeutsches Phänomen. In den ostdeutschen | |
Flächenländern kommt jedoch noch der Aufstieg der AfD erschwerend hinzu. | |
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach warnte im August davor, dass sich | |
ausländische Ärzte „bedanken“ würden, wenn sie in einer AfD-Hochburg | |
landeten. In Mecklenburg-Vorpommern hat jede siebte Ärztin einen | |
ausländischen Pass. In Umfragen liegt die AfD, die im Wahlprogramm | |
„Remigration“ fordert, mit 30 Prozent deutlich vor CDU und SPD. | |
Wen er wählt, das will der Abrissfahrer nicht verraten. Aber so viel steht | |
für ihn fest: „Die AfD darf man nicht ranlassen. Da geht hier alles den | |
Bach runter.“ | |
2021 gewann Arlt das Direktmandat mit 31,1 Prozent deutlich vor CDU und | |
AfD. Diesmal wird es viel knapper, „wir kämpfen buchstäblich um jede | |
Stimme“. Doch er hofft, dass er sich gegen die AfD-Bewerberin durchsetzen | |
kann: „Ich komme ja nicht mit leeren Händen. Ich habe einiges vorzuweisen.“ | |
Drei Dörfer weiter klingelt Arlt bei einem Mann, der erzählt, er arbeite | |
als Zugbegleiter. Er beschwert sich bei Arlt über die „Migranten“, die | |
jeden Tag aus Langeweile mit der Bahn fahren würden, die Frauen | |
anquatschten und vor dem Bahnhof abhingen. „Das ist nicht mehr schön“, sagt | |
der Mann. Arlt verweist auf die geltende Rechtslage, nach der Asylbewerber | |
die ersten Monate nach ihrer Ankunft in Deutschland nicht arbeiten dürfen. | |
„Wir verbieten es ihnen. Wir erziehen die Leute zum Gammeln.“ Vielleicht | |
müsse man mal mit der Polizei reden, ein bisschen mehr Präsenz am Bahnhof | |
würde womöglich schon ausreichen. Aber er gibt dem Mann auch recht. „Wir | |
müssen das Problem in den Griff bekommen.“ | |
Aus dem Wahlkampf versucht Arlt, das Thema Migration rauszuhalten, auch | |
wenn er nach den Anschlägen von München und Aschaffenburg häufiger darauf | |
angesprochen werde. Er sagt dann, dass er das dänische Migrationsmodell der | |
sozialdemokratisch geführten Regierung unterstützt. „Und dafür werde ich | |
mich in meiner Partei auch weiter einsetzen.“ Dänemark tut alles, um | |
möglichst wenig Asylbewerber:innen ins Land zu lassen, Ankommende | |
werden in Sammellagern untergebracht. Und für diejenigen, die Asyl | |
bekommen, gilt eine Integrations- und Arbeitspflicht. Arlt ist mit einem | |
Dänen verheiratet, er pendelt mit ihm und seinem kleinen Sohn zwischen | |
Neustrelitz, Kopenhagen und Berlin. | |
Arlt verhehlt auch nicht, dass er die Entscheidung der SPD für Olaf Scholz | |
als Kanzlerkandidat falsch fand. Er hatte für Verteidigungsminister Boris | |
Pistorius geworben. Zu diesem hat er einen guten Draht, hat ihn für den | |
Abend zum Bürger:innengespräch nach Teterow eingeladen. Der Saal im | |
Kulturhaus ist bis auf den letzten Platz besetzt, 100 Menschen sind | |
gekommen. | |
Vor dem Kulturhaus demonstrieren gleichzeitig etwa 50 Menschen gegen die | |
Veranstaltung, das Bündnis Sahra Wagenknecht und diverse Friedensgruppen | |
haben dazu aufgerufen. Arlt schnappt sich eine Thermoskanne mit Kaffee und | |
Pappbecher und geht raus zu den Demonstranten. „Danke, dass Sie von Ihrem | |
Demonstrationsrecht Gebrauch machen. Darf ich Ihnen was Warmes anbieten?“ – | |
„Vorsicht, da ist Blut drin!“, ruft ein weißhaariger Mann. | |
Drinnen im Saal nimmt Boris Pistorius die eher skeptische Stimmung wahr, | |
erzählt als Erstes von seinen Austauschfahrten als Schüler in die damalige | |
Sowjetunion, von Russisch als Abiturfach. Und dass er den Job als | |
Verteidigungsminister mache, damit die Menschen in Deutschland weiter in | |
Frieden leben können. „Wir wollen keinen Krieg“, ruft er. Selbst die | |
Skeptischen applaudieren. | |
## Die Integrationsbeauftragte | |
„Was bist denn du für ein süßer Schatz“, fragt die ältere Dame und beugt | |
sich verzückt über den Kinderwagen. Hellrosa ist der Wagen, hellrosa ist | |
auch der Mantel von Rasha Nasr. Zwei schicke Farbtupfer im Grau des | |
nieselkalten Nachmittags. Nasr hat ihre sechs Monate alte Tochter zum | |
Wahlkampfstand mitgenommen. Es ging nicht anders, ihr Mann, der sie | |
betreuen wollte, ist krank. Aber das entpuppt sich nun als Vorteil. Nasr | |
beugt sich verschwörerisch zur Seite: „Die Kleine ist meine beste | |
Wahlkampfhelferin“, sagt sie fröhlich in sächsischem Singsang. Der | |
kinderlieben Dame drückt sie ein Faltblatt der SPD in die Hand. | |
Das Einkaufszentrum, vor dem Nasr und die SPD ihren Wahlkampfstand | |
aufgebaut haben, ist nur spärlich besucht, einige wenige Menschen bleiben | |
stehen und suchen das Gespräch. Kein Wunder: Es ist kalt. Und um vier Uhr | |
beginnt es bereits zu dämmern. Ein Wahlkampf mitten im Winter und gegen | |
einen Rechtsruck in der Gesellschaft. Gibt es etwas Mühsameres? Rasha Nasr | |
lacht. „Ich habe noch keinen Wahlkampf geführt, der nicht mühsam war. Aber | |
wir Sachsensozis sind eben dickköpfig.“ | |
Dass Nasr im [4][Wahlkreis Dresden I] das Direktmandat holen wird, ist | |
extrem unwahrscheinlich. Der Wahlkreis geht traditionell an die CDU, so | |
auch 2021. Aber damals lag die SPD beim Zweitstimmenergebnis knapp vorn, | |
erst auf Platz zwei folgte die AfD. 306.000 Menschen wohnen hier, von der | |
barocken Altstadt bis zu den Plattenbauten in Prohlis. Ein Viertel der | |
Bevölkerung ist jünger als 24 Jahre, der Ausländeranteil liegt bei 13,6 | |
Prozent, für Sachsen ist das ungewöhnlich viel. Rasha Nasr selbst ist 32 | |
und gebürtige Dresdnerin. Ihre Eltern kamen einst aus Syrien in die DDR. | |
Die Tochter machte ihr Abitur in Nassau und studierte an der TU Dresden | |
Politikwissenschaft. Anschließend arbeitete sie unter anderem als | |
Integrationsbeauftragte der Stadt Freiberg. | |
Der damalige Landesvorsitzende Martin Dulig begeisterte sie 2017 für die | |
SPD. Ähnlich wie der grüne Kanzlerkandidat Robert Habeck heute traf Dulig | |
damals Menschen am Küchentisch. Sie fand das damals so cool, erzählt Nasr | |
beim Kaffee im Center, dass sie in die SPD eintrat, mitten in einer der | |
größten Krisen der Partei. Die Sozialdemokraten verloren die Bundestagswahl | |
2017 mit ihrem damaligen Spitzenkandidaten Martin Schulz mit 20 Prozent, | |
ein historisch schlechtes Ergebnis. Dieses Mal könnte es noch schlimmer | |
kommen. Mit Nasr kamen vor dreieinhalb Jahren 48 Abgeordnete im Juso-Alter | |
in den Bundestag, so viel wie noch nie. Linke SPDler hofften, dass die | |
Jungen die Fraktion aufmischen würden, aber es kam anders. Putins Überfall | |
auf die Ukraine disziplinierte, außerdem sahen sich viele gar nicht als | |
Jusos. Nasr ist bei der reformpolitischen Gruppe der Netzwerker in der | |
SPD-Bundestagsfraktion aktiv. Sie habe schnell gelernt, sagt sie, „dass | |
Arschbombe aufs Buffet nichts bringt“. Sie wurde stellvertretende | |
Sprecherin der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales, verhandelte das | |
Fachkräfteeinwanderungsgesetz mit. Dabei habe sie gelernt, wie das | |
politische Spiel funktioniere. „Alle lügen. Man muss lernen, die Interessen | |
zu lesen.“ Mittlerweile könne sie sicher übers politische Parkett laufen, | |
„wenn auch noch nicht tanzen“. | |
Mit dem dritten Platz auf der Landesliste ist ihr Einzug in den neuen | |
Bundestag relativ sicher. Dass sie, wie 2021, acht Abgeordnete aus Sachsen | |
sein werden, glaubt Nasr jedoch nicht: „Wenn wir zu fünft wären und | |
bundesweit bei 20 Prozent lägen, wäre das schon toll.“ | |
Aber selbst danach sieht es im Moment nicht aus. Vor Weihnachten überfuhr | |
ein saudi-arabischer Bürger Hunderte Menschen auf einem Weihnachtsmarkt in | |
Magdeburg, im Januar tötete ein abgelehnter afghanischer Asylbewerber ein | |
Kleinkind und einen Familienvater. Im Februar fuhr ein Afghane, der vor | |
acht Jahren als Minderjähriger nach Deutschland flüchtete, in München | |
absichtlich in eine Gewerkschaftsdemo. Die Fälle lassen sich kaum | |
vergleichen, zwei der Täter gelten als psychisch krank, der Magdeburger | |
Attentäter stand der AfD nahe, der in München rief islamistische Parolen. | |
Doch seitdem ist Migration das Top-Thema im Wahlkampf, und auch Nasr und | |
ihre Sachsensozis werden im Wahlkampf immer wieder darauf angesprochen. | |
„Die einen sagen, es kommen zu viele, wir wollen, dass unsere Kinder wieder | |
sicher sind. Die anderen sagen: Bleibt stabil, überlass es nicht allein der | |
Linkspartei, für eine humane Asylpolitik zu werben.“ | |
Nasr hat sich entschieden. Sie findet es falsch, dass die SPD versuche, mit | |
immer schärferen Gesetzen gegen Asylbewerber vorzugehen. Sie hat Olaf | |
Scholz öffentlich dafür kritisiert und im Bundestag gegen [5][das | |
Sicherheitspaket der SPD-Innenministerin] gestimmt, das für | |
ausreisepflichtige Flüchtlinge keinerlei Sozialleistungen mehr vorsieht. | |
Sie sei nicht naiv, habe gar nichts gegen Abschiebungen, sagt sie. Aber das | |
sei eben auch nicht die Antwort auf alle Probleme. Sie sieht ihre Partei | |
beim Thema Migration vom rechten Zeitgeist getrieben und warnt: „Jedes Mal, | |
wenn Parteien der Mitte dort versucht haben, strenger zu werden oder | |
Vorschläge von der AfD übernommen haben, hat es nur der AfD in die Hände | |
gespielt.“ | |
Doch auch in der migrantischen Community ihrer Eltern verspüre sie den | |
Wunsch nach schärferen Gesetzen. „Die Menschen mit Migrationsgeschichte, | |
die es geschafft haben, wollen sich stark abgrenzen von denen, die neu | |
dazukommen. Da heißt es: Die machen Probleme, die versauen uns den Ruf.“ | |
Es sei schade, sagt sie, dass Deutschland nicht den Anspruch habe, die | |
Gesellschaft so weiterzuentwickeln, dass sich möglichst viele Menschen als | |
Teil dieses Landes sehen. Stattdessen versuche man seit Jahrzehnten, die | |
Grenzen möglichst eng zu ziehen. | |
Nasr weiß, wohin es führt, wenn „Fremde“ vor allem als Problem betrachtet | |
werden. Als sie im Sommer hochschwanger im Supermarkt einkaufte, habe ein | |
Mann versucht, ihr seinen Einkaufswagen in den Bauch zu rammen. „Dann sind | |
wir dich und dein Balg endlich los“, zischte er. Sie war so geschockt, dass | |
sie nicht mal Anzeige erstattete. Es war nicht das erste Mal, dass sie | |
bedroht wurde. Sie hat deshalb mit ihrem Team einen Selbstverteidigungskurs | |
gemacht. „Da haben wir gelernt, wie man sich groß machen kann.“ | |
Die Anfeindungen hinterlassen ein bitteres Gefühl. Nasr hofft, dass die | |
Bundestagswahl glimpflich ausgeht, auch für ihre Partei. Und dass die SPD | |
danach wieder knallhart auf Sozialpolitik setzt. | |
21 Feb 2025 | |
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[1] https://www.bundeswahlleiterin.de/bundestagswahlen/2025/strukturdaten/bund-… | |
[2] https://www.ipsos.com/de-de/meinungsumfragen/politische-meinungslage-deutsc… | |
[3] https://www.bundeswahlleiterin.de/bundestagswahlen/2025/strukturdaten/bund-… | |
[4] https://www.bundeswahlleiterin.de/bundestagswahlen/2025/strukturdaten/bund-… | |
[5] /Sicherheitspaket-der-Ampelparteien/!6039696 | |
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Anna Lehmann | |
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