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# taz.de -- Haustürwahlkampf mit der SPD im Osten: Rote Manöver
> 2021 holte die SPD in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg alle
> Direktmandate. Können die Genoss*innen das am Sonntag gegen die AfD
> wiederholen?
Bild: Ein paar Informationen, und Gummibärchen für die gute Laune: Maja Walls…
## Die Schiedsrichterin
Sie müsse kurz hüpfen, sagt Maja Wallstein und springt vor Freude auf und
ab. Ihr Pferdeschwanz wippt mit. Der 1. FC Energie Cottbus hat sie gerade
auf Instagram mehrmals erwähnt. Anlass war der Besuch der
SPD-Bundestagsabgeordneten einen Tag zuvor. Nichts geht über die Liebe
zwischen einem Fan und ihrem Verein.
Wallstein kann man als FC-Energie-Ultra bezeichnen. 1987 wurde sie in
Cottbus geboren, von klein auf nahm der Vater sie mit ins Stadion. In ihrer
Freizeit pfeift sie selbst Spiele in der Amateurliga. Die Cottbuser Kurve
steht also. Doch in den Dörfern und Gemeinden südlich von Cottbus, da wird
es für Wallstein schon schwieriger, Fans zu finden – Fans für die SPD.
Maja Wallstein ist seit 2021 sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete,
direkt gewählt in der Lausitz im [1][Wahlkreis Cottbus – Spree-Neiße].
205.000 Menschen leben hier, knapp 40 Prozent von ihnen sind über 60 Jahre
alt, der Ausländeranteil beträgt rund 8 Prozent. Knapp 28 Prozent der
Wähler:innen stimmten bei der letzten Bundestagswahl für Wallstein, es
war ein hauchdünner Vorsprung vor dem AfD-Bewerber. Am Sonntag könnte es
andersherum sein.
An einem kalten Tag im Januar hat sich Wallstein vormittags die Kreisstadt
Forst ausgesucht, um Menschen für sich und die SPD zu begeistern. Die
Ortsgruppe hat einen Stand gegenüber von Kaufland aufgebaut. Wallstein
spricht Passant:innen an, bietet Gummibärchen an, „Für die gute Laune!“,
und Faltblätter, „Ein paar Informationen zur Wahl.“
In Forst sorgten Tuchfabriken einst für Wohlstand, sanierte
Gründerzeithäuser zeugen noch vom Glanz vergangener Tage. Seitdem die
Industrie weg ist, schrumpft die Stadt, und das sieht man. Jede zweite
Fußgänger:in ist mit Rollator unterwegs. Wallstein geht auf eine Gruppe
Seniorinnen zu, die vor einem Café mit ausgebleichtem Schild stehen und an
ihren Fluppen ziehen. Eine verstaut die Packung in der Handtasche und winkt
ab. „SPD ist ja gar nicht meins. Ich wähle die AfD und nischt anderes.“ Die
anderen schweigen.
Wallstein gibt nicht auf. Was sie sich von der Politik wünschten?, will sie
wissen. Und konkreter noch: „Von mir. Sagen Sie mir, was ich falsch gemacht
habe.“ Die Frauen sagen, dass alles immer teurer werde und man kaum noch
einen Arzt in der Nähe finde. „Beim Augenarzt in Döbern musste Schlange
stehen.“ Und die Frauen wünschen sich Frieden auf der Erde, dass das
aufhört mit dem Krieg. Alle Parteien hätten da versagt. Alle, außer der
AfD.
Wallstein könnte sagen, dass es Putin war, der die Ukraine überfallen hat,
dass das billige russische Gas seitdem ausblieb und die Energiepreise
explodierten. Sie könnte von den drei ukrainischen Frauen und ihren vier
Kindern berichten, die sie gleich nach Kriegsbeginn bei sich zu Hause
aufgenommen hat. Sie könnte die Krankenhausreform loben, die gerade
Standorte im ländlichen Raum sichern soll. Und anmerken, dass die AfD außer
Sprüchen gegen Ausländer für arme Leute nichts zu bieten hat. Aber all das
tut sie nicht. Erstens stimmt es ja, Lebensmittel sind deutlich teurer
geworden. Und auf dem Land gibt es tatsächlich kaum Ärzte.
Und Maja Wallstein ist keine, die den Menschen ihre Meinung aufdrängt. Sie
hört lieber zu. Jeden Sommer geht sie drei Monate auf Zuhörtour, zieht mit
Bollerwagen über die Dörfer und sucht das Gespräch über den Gartenzaun
hinweg. Sie erfahre dort, was die Menschen wirklich bewegt, berichtet
Wallstein. Den Witwer etwa, der über kriminelle Ausländer herzog, aber vor
allem Angst hatte, dass ihm die Vespa seiner verstorbenen Frau auch noch
abhanden kommt. Die Frau, die sie anraunzte, alle SPD-Politiker seien
Verbrecher, aber vor allem wütend war, dass die Krankenkasse ihre
Schmerzmittel nicht mehr bezahlte. Weil sie das falsche Formular ausgefüllt
hatte, wie Wallstein nach einem Telefonat mit der Krankenkasse erfuhr.
Was sie aus diesen Gesprächen mitnimmt? „Dass wir als Gesellschaft noch
nicht verloren sind“, sagt Wallstein. „Egal, wie weit wir auseinander
liegen, 99,9 Prozent der Gespräche enden respektvoll.“ Die Frau, der sie
half, die Erstattung für ihre Medikamente zu beantragen, habe sie sogar
umarmt. Wallstein ist überzeugt: „Es reicht nicht, dass wir gute Politik
machen, wir müssen gute Beziehungen aufbauen.“
Aber das ist mühsam in einer Zeit, in der traditionelle Milieus
auseinanderfallen und die Bindung zwischen klassischen Parteien und
Wähler:innen abnimmt.
Die Beziehung zwischen der SPD und ihren Wähler:innen ist gerade
ziemlich erkaltet. [2][Einer Analyse des Wahlforschungsinstituts Ipsos
zufolge] hat die SPD rund die Hälfte ihrer Wählerschaft seit der
Bundestagswahl 2021 verloren.
Über die Gründe kann Wallstein nur spekulieren. „Ach, in den letzten Jahren
gab es immer was, was gegen uns gesprochen hat. Es gibt ja auch tausend
Dinge, die schlecht laufen.“ Aber genau deshalb engagiere sie sich ja.
Bevor sie 2009 in die SPD eintrat, war sie Mitglied bei den Jusos. Kämpfte,
vergeblich, gegen die Fusion zweier Hochschulen – der damalige
SPD-Ministerpräsident Matthias Platzeck nannte sie „Krawallstein“. „Ich
muss ihm wohl ziemlich auf die Nerven gegangen sein.“ Heute sind sie
befreundet, am Abend desselben Tages wird Platzeck auf ihre Einladung hin
ins Volkshaus Guben zum Gespräch mit Bürger:innen kommen.
Mittags baut die SPD den Stand in Forst ab, Wallstein fährt mit dem Auto
nach Guben, die Neiße entlang. Auf der anderen Flussseite ist schon Polen.
Guben ist eine Grenzstadt, die Innenstadt schmuck saniert. In Kaltenborn
dominieren dagegen vierstöckige Plattenbauten, dazwischen Grünstreifen und
kleine Wäldchen. Die Tür-zu-Tür-App der SPD sagt ihr, dass sie hier ganz
gute Chancen hat, dass man ihr öffnet.
Auf den Klingelschildern stehen deutsche, slawische und arabische Namen.
Hinter manchen Türen bellen Hunde, hinter einer weint ein Kind und eine
schrille Stimme schreit: „Jetzt putz dir endlich die Nase oder biste
bescheuert.“ Die Wände sind dünn, mitunter riecht man Zigarettenrauch aus
einer Wohnung bis ins Treppenhaus.
Die Menschen, die öffnen, reagieren tatsächlich überwiegend freundlich, die
meisten nehmen Faltblatt samt Gummibärchen. Ein Junge gibt die Gummibärchen
zurück: „Wir dürfen nicht, wir sind Muslime.“ Ein älterer Mann mit einem
Che-Guevara-Shirt lädt sie auf einen Tee ein, aber Wallstein will noch ein
paar Türen schaffen. Eine Rentnerin würde gern am Abend zum Gesprächsabend
mit Platzeck kommen, aber der Bus fährt ab halb acht nicht mehr ins
Zentrum. Wallstein organisiert ihr ein Taxi. Und geht treppab, treppauf zur
nächsten Tür, Block für Block. Der Wahlkampf wird zur Fitnesseinheit.
Während Wallstein kaum Ermüdungserscheinungen zeigt, wankt die Reporterin
und wird am nächsten Tag Muskelkater haben.
Vor einem Aufgang gehen zwei grauhaarige Damen spazieren: die ältere auf
ihren Rollator und auf den Arm ihrer Begleiterin gestützt. Wallstein sagt
ihr Sprüchlein auf: „Guten Tag, ich bin Maja Wallstein, ihre
Bundestagsabgeordnete, ich …“ – „Ich habe sie doch beim letzten Mal
gewählt“, unterbricht sie die jüngere der beiden. – „Es wird unfassbar
knapp dieses Jahr“, sagt Wallstein und schaut gequält. Diesmal könnte der
AfD-Kandidat gewinnen. „Hoffentlich“, fügt sie an, „gehen wenigstens alle
zur Wahl, die eine demokratische Partei wollen.“ Die ältere schüttelt den
Kopf. „Ich geh nicht mehr wählen.“ Die jüngere guckt sie streng an. „Al…
das kleine Stück bis zum Wahllokal können wir alle laufen.“ Sie nickt
Wallstein aufmunternd zu. Die ist immerhin über die Landesliste abgesichert
– Platz 2, das sollte reichen für den Einzug in den Bundestag.
Zu dem Gespräch mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten kommen am Abend etwa
50 Leute nach Guben, darunter die Dame mit dem Taxi samt Freundin, und ein
Ehepaar aus einem der umliegenden Dörfer. Wallstein haben sie auf deren
Zuhörtour kennengelernt, ihre Namen wollen sie nicht nennen. „Das können
wir uns auf dem Dorf nicht leisten“, sagt die Frau bestimmt. „Nicht, dass
wieder Schuhcreme im Briefkasten ist.“ Aber die Maja, die hat sie beide
überzeugt. „Die hat Herz. Sie belehrt nicht nur, sie will wirklich was
erfahren.“ Beide werden wohl die SPD wählen. Wegen Maja.
## Der Aufklärer
„Der Blick ins Gelände ist durch nichts zu ersetzen“, sagt Johannes Arlt.
Der 40-Jährige ist Soldat durch und durch. Schnittiger Scheitel,
raspelkurze Seiten, klare Ansagen. Arlt ist Offizier der Luftwaffe,
Abteilung Drohnenaufklärung. Siebenmal war er in Auslandseinsätzen, viermal
Afghanistan und dreimal Mali. An diesem nebligen Tag im Januar ist er in
der Mecklenburgischen Pampa unterwegs, im Haustürwahlkampf
Sein [3][Wahlkreis umfasst die Mecklenburgische Seenplatte und den
Landkreis Rostock], von der Fläche her der größte Wahlkreis in Deutschland
und dabei einer der am dünnsten besiedelten. 243.000 Menschen verteilen
sich über 6.000 Quadratkilometer, knapp 40 Prozent von ihnen sind über 60
Jahre alt, der Ausländeranteil liegt bei 4 Prozent. Von einem höheren
Mindestlohn, wie die SPD ihn in ihrem Wahlprogramm fordert, würden hier ein
Drittel der Erwerbstätigen profitieren.
Arlt und sein Team stehen vor dem Konsum von Hohen Demzin, der seit Sommer
geschlossen hat. Auch das Dorf scheint menschenleer zu sein. Arlt schaut
auf seine Armbanduhr. „Es ist jetzt 10.26 Uhr, also ein bisschen später als
geplant.“ Er wendet sich an die drei Wahlkampfhelfer, die im Halbkreis um
ihn stehen. „Bastian, kannst du Datenerhebung machen? Ich würde rechts der
Kirche Haustürwahlkampf machen, und das andere Team geht links runter, da
werfen wir nur Flyer ein. Wir treffen uns dann hier wieder und bewegen uns
gemeinsam in Richtung des nächsten Ortes.“ Sie teilen sich auf.
Den Kleinbus hat er neben dem Feuerlöschteich geparkt, auf der Kühlerhaube
prangt ein großer Bundesadler. Der Bus ist ein E-Auto, aber Arlt verzichtet
auf die äußere Kennzeichnung: „Sonst kommt man mit den Leuten gar nicht ins
Gespräch.“ Auch bei Arlt würde man nicht auf Anhieb vermuten, dass er als
Schüler ein Musikgymnasium besucht hat und ursprünglich Geige studieren
wollte. Dass er drei Firmen gegründet hat, die erste als Schüler. Zugleich
ist er seit seiner Jugend SPD-Mitglied, weil ihm Solidarität wichtig ist.
Sein Vater hatte die Partei in der DDR mitgegründet. Er war es auch, der
ihn dazu überredete, Wehrdienst zu leisten. Arlt blieb dann beim Bund.
Seine Dienstuniform ist derzeit im militärhistorischen Museum in Dresden
ausgestellt, als Leihgabe. Seit 2021 besteht seine Arbeitskleidung aus Hemd
und Jackett. Vor dreieinhalb Jahren eroberte er den Wahlkreis von der CDU,
nun tritt er erneut als Direktkandidat an, und zwar ausschließlich. Nach
Streit mit seinem Landesverband um die Position auf der Liste verzichtete
er ganz auf einen Platz: „Sollen die Bürger entscheiden, ob ich meine
Arbeit gut gemacht habe.“
Mit roter Umhängetasche und einem Packen Zettel in der Hand nähert er sich
einem Gehöft. Der Schlüssel steckt von außen. „Das ist typisch hier“, sa…
Arlt, „viele schließen nicht ab.“ Er klingelt. Keiner da. Arlt will
weitergehen, da kommt ein Mann mit Anorak und Schlappen über den Hof. „Der
Herr Arlt“, begrüßt er ihn. „Sie kennen mich?“, fragt Arlt und bleibt
stehen. „Na klar, von der Zeitung“, sagt der Mann in breitem Mecklenburger
Dialekt. Er arbeitet sonst als Fahrer bei einer Abrissfirma, ist gerade
krankgeschrieben. Arlt reicht ihm einen Zettel. „Meine Bilanz. Zum Beispiel
das Krankenhaus in Teterow, das bleibt. Das konnte ich erkämpfen.“ Der Mann
nickt. „Das ist wichtig.“ Er habe seit Juli 2023 keinen Zahnarzt mehr, seit
dieser in Rente gegangen und keine Nachfolger gefunden habe.
Dass gerade in ländlichen Regionen Praxen mangels Nachwuchs schließen
müssen, ist ein gesamtdeutsches Phänomen. In den ostdeutschen
Flächenländern kommt jedoch noch der Aufstieg der AfD erschwerend hinzu.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach warnte im August davor, dass sich
ausländische Ärzte „bedanken“ würden, wenn sie in einer AfD-Hochburg
landeten. In Mecklenburg-Vorpommern hat jede siebte Ärztin einen
ausländischen Pass. In Umfragen liegt die AfD, die im Wahlprogramm
„Remigration“ fordert, mit 30 Prozent deutlich vor CDU und SPD.
Wen er wählt, das will der Abrissfahrer nicht verraten. Aber so viel steht
für ihn fest: „Die AfD darf man nicht ranlassen. Da geht hier alles den
Bach runter.“
2021 gewann Arlt das Direktmandat mit 31,1 Prozent deutlich vor CDU und
AfD. Diesmal wird es viel knapper, „wir kämpfen buchstäblich um jede
Stimme“. Doch er hofft, dass er sich gegen die AfD-Bewerberin durchsetzen
kann: „Ich komme ja nicht mit leeren Händen. Ich habe einiges vorzuweisen.“
Drei Dörfer weiter klingelt Arlt bei einem Mann, der erzählt, er arbeite
als Zugbegleiter. Er beschwert sich bei Arlt über die „Migranten“, die
jeden Tag aus Langeweile mit der Bahn fahren würden, die Frauen
anquatschten und vor dem Bahnhof abhingen. „Das ist nicht mehr schön“, sagt
der Mann. Arlt verweist auf die geltende Rechtslage, nach der Asylbewerber
die ersten Monate nach ihrer Ankunft in Deutschland nicht arbeiten dürfen.
„Wir verbieten es ihnen. Wir erziehen die Leute zum Gammeln.“ Vielleicht
müsse man mal mit der Polizei reden, ein bisschen mehr Präsenz am Bahnhof
würde womöglich schon ausreichen. Aber er gibt dem Mann auch recht. „Wir
müssen das Problem in den Griff bekommen.“
Aus dem Wahlkampf versucht Arlt, das Thema Migration rauszuhalten, auch
wenn er nach den Anschlägen von München und Aschaffenburg häufiger darauf
angesprochen werde. Er sagt dann, dass er das dänische Migrationsmodell der
sozialdemokratisch geführten Regierung unterstützt. „Und dafür werde ich
mich in meiner Partei auch weiter einsetzen.“ Dänemark tut alles, um
möglichst wenig Asylbewerber:innen ins Land zu lassen, Ankommende
werden in Sammellagern untergebracht. Und für diejenigen, die Asyl
bekommen, gilt eine Integrations- und Arbeitspflicht. Arlt ist mit einem
Dänen verheiratet, er pendelt mit ihm und seinem kleinen Sohn zwischen
Neustrelitz, Kopenhagen und Berlin.
Arlt verhehlt auch nicht, dass er die Entscheidung der SPD für Olaf Scholz
als Kanzlerkandidat falsch fand. Er hatte für Verteidigungsminister Boris
Pistorius geworben. Zu diesem hat er einen guten Draht, hat ihn für den
Abend zum Bürger:innengespräch nach Teterow eingeladen. Der Saal im
Kulturhaus ist bis auf den letzten Platz besetzt, 100 Menschen sind
gekommen.
Vor dem Kulturhaus demonstrieren gleichzeitig etwa 50 Menschen gegen die
Veranstaltung, das Bündnis Sahra Wagenknecht und diverse Friedensgruppen
haben dazu aufgerufen. Arlt schnappt sich eine Thermoskanne mit Kaffee und
Pappbecher und geht raus zu den Demonstranten. „Danke, dass Sie von Ihrem
Demonstrationsrecht Gebrauch machen. Darf ich Ihnen was Warmes anbieten?“ –
„Vorsicht, da ist Blut drin!“, ruft ein weißhaariger Mann.
Drinnen im Saal nimmt Boris Pistorius die eher skeptische Stimmung wahr,
erzählt als Erstes von seinen Austauschfahrten als Schüler in die damalige
Sowjetunion, von Russisch als Abiturfach. Und dass er den Job als
Verteidigungsminister mache, damit die Menschen in Deutschland weiter in
Frieden leben können. „Wir wollen keinen Krieg“, ruft er. Selbst die
Skeptischen applaudieren.
## Die Integrationsbeauftragte
„Was bist denn du für ein süßer Schatz“, fragt die ältere Dame und beugt
sich verzückt über den Kinderwagen. Hellrosa ist der Wagen, hellrosa ist
auch der Mantel von Rasha Nasr. Zwei schicke Farbtupfer im Grau des
nieselkalten Nachmittags. Nasr hat ihre sechs Monate alte Tochter zum
Wahlkampfstand mitgenommen. Es ging nicht anders, ihr Mann, der sie
betreuen wollte, ist krank. Aber das entpuppt sich nun als Vorteil. Nasr
beugt sich verschwörerisch zur Seite: „Die Kleine ist meine beste
Wahlkampfhelferin“, sagt sie fröhlich in sächsischem Singsang. Der
kinderlieben Dame drückt sie ein Faltblatt der SPD in die Hand.
Das Einkaufszentrum, vor dem Nasr und die SPD ihren Wahlkampfstand
aufgebaut haben, ist nur spärlich besucht, einige wenige Menschen bleiben
stehen und suchen das Gespräch. Kein Wunder: Es ist kalt. Und um vier Uhr
beginnt es bereits zu dämmern. Ein Wahlkampf mitten im Winter und gegen
einen Rechtsruck in der Gesellschaft. Gibt es etwas Mühsameres? Rasha Nasr
lacht. „Ich habe noch keinen Wahlkampf geführt, der nicht mühsam war. Aber
wir Sachsensozis sind eben dickköpfig.“
Dass Nasr im [4][Wahlkreis Dresden I] das Direktmandat holen wird, ist
extrem unwahrscheinlich. Der Wahlkreis geht traditionell an die CDU, so
auch 2021. Aber damals lag die SPD beim Zweitstimmenergebnis knapp vorn,
erst auf Platz zwei folgte die AfD. 306.000 Menschen wohnen hier, von der
barocken Altstadt bis zu den Plattenbauten in Prohlis. Ein Viertel der
Bevölkerung ist jünger als 24 Jahre, der Ausländeranteil liegt bei 13,6
Prozent, für Sachsen ist das ungewöhnlich viel. Rasha Nasr selbst ist 32
und gebürtige Dresdnerin. Ihre Eltern kamen einst aus Syrien in die DDR.
Die Tochter machte ihr Abitur in Nassau und studierte an der TU Dresden
Politikwissenschaft. Anschließend arbeitete sie unter anderem als
Integrationsbeauftragte der Stadt Freiberg.
Der damalige Landesvorsitzende Martin Dulig begeisterte sie 2017 für die
SPD. Ähnlich wie der grüne Kanzlerkandidat Robert Habeck heute traf Dulig
damals Menschen am Küchentisch. Sie fand das damals so cool, erzählt Nasr
beim Kaffee im Center, dass sie in die SPD eintrat, mitten in einer der
größten Krisen der Partei. Die Sozialdemokraten verloren die Bundestagswahl
2017 mit ihrem damaligen Spitzenkandidaten Martin Schulz mit 20 Prozent,
ein historisch schlechtes Ergebnis. Dieses Mal könnte es noch schlimmer
kommen. Mit Nasr kamen vor dreieinhalb Jahren 48 Abgeordnete im Juso-Alter
in den Bundestag, so viel wie noch nie. Linke SPDler hofften, dass die
Jungen die Fraktion aufmischen würden, aber es kam anders. Putins Überfall
auf die Ukraine disziplinierte, außerdem sahen sich viele gar nicht als
Jusos. Nasr ist bei der reformpolitischen Gruppe der Netzwerker in der
SPD-Bundestagsfraktion aktiv. Sie habe schnell gelernt, sagt sie, „dass
Arschbombe aufs Buffet nichts bringt“. Sie wurde stellvertretende
Sprecherin der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales, verhandelte das
Fachkräfteeinwanderungsgesetz mit. Dabei habe sie gelernt, wie das
politische Spiel funktioniere. „Alle lügen. Man muss lernen, die Interessen
zu lesen.“ Mittlerweile könne sie sicher übers politische Parkett laufen,
„wenn auch noch nicht tanzen“.
Mit dem dritten Platz auf der Landesliste ist ihr Einzug in den neuen
Bundestag relativ sicher. Dass sie, wie 2021, acht Abgeordnete aus Sachsen
sein werden, glaubt Nasr jedoch nicht: „Wenn wir zu fünft wären und
bundesweit bei 20 Prozent lägen, wäre das schon toll.“
Aber selbst danach sieht es im Moment nicht aus. Vor Weihnachten überfuhr
ein saudi-arabischer Bürger Hunderte Menschen auf einem Weihnachtsmarkt in
Magdeburg, im Januar tötete ein abgelehnter afghanischer Asylbewerber ein
Kleinkind und einen Familienvater. Im Februar fuhr ein Afghane, der vor
acht Jahren als Minderjähriger nach Deutschland flüchtete, in München
absichtlich in eine Gewerkschaftsdemo. Die Fälle lassen sich kaum
vergleichen, zwei der Täter gelten als psychisch krank, der Magdeburger
Attentäter stand der AfD nahe, der in München rief islamistische Parolen.
Doch seitdem ist Migration das Top-Thema im Wahlkampf, und auch Nasr und
ihre Sachsensozis werden im Wahlkampf immer wieder darauf angesprochen.
„Die einen sagen, es kommen zu viele, wir wollen, dass unsere Kinder wieder
sicher sind. Die anderen sagen: Bleibt stabil, überlass es nicht allein der
Linkspartei, für eine humane Asylpolitik zu werben.“
Nasr hat sich entschieden. Sie findet es falsch, dass die SPD versuche, mit
immer schärferen Gesetzen gegen Asylbewerber vorzugehen. Sie hat Olaf
Scholz öffentlich dafür kritisiert und im Bundestag gegen [5][das
Sicherheitspaket der SPD-Innenministerin] gestimmt, das für
ausreisepflichtige Flüchtlinge keinerlei Sozialleistungen mehr vorsieht.
Sie sei nicht naiv, habe gar nichts gegen Abschiebungen, sagt sie. Aber das
sei eben auch nicht die Antwort auf alle Probleme. Sie sieht ihre Partei
beim Thema Migration vom rechten Zeitgeist getrieben und warnt: „Jedes Mal,
wenn Parteien der Mitte dort versucht haben, strenger zu werden oder
Vorschläge von der AfD übernommen haben, hat es nur der AfD in die Hände
gespielt.“
Doch auch in der migrantischen Community ihrer Eltern verspüre sie den
Wunsch nach schärferen Gesetzen. „Die Menschen mit Migrationsgeschichte,
die es geschafft haben, wollen sich stark abgrenzen von denen, die neu
dazukommen. Da heißt es: Die machen Probleme, die versauen uns den Ruf.“
Es sei schade, sagt sie, dass Deutschland nicht den Anspruch habe, die
Gesellschaft so weiterzuentwickeln, dass sich möglichst viele Menschen als
Teil dieses Landes sehen. Stattdessen versuche man seit Jahrzehnten, die
Grenzen möglichst eng zu ziehen.
Nasr weiß, wohin es führt, wenn „Fremde“ vor allem als Problem betrachtet
werden. Als sie im Sommer hochschwanger im Supermarkt einkaufte, habe ein
Mann versucht, ihr seinen Einkaufswagen in den Bauch zu rammen. „Dann sind
wir dich und dein Balg endlich los“, zischte er. Sie war so geschockt, dass
sie nicht mal Anzeige erstattete. Es war nicht das erste Mal, dass sie
bedroht wurde. Sie hat deshalb mit ihrem Team einen Selbstverteidigungskurs
gemacht. „Da haben wir gelernt, wie man sich groß machen kann.“
Die Anfeindungen hinterlassen ein bitteres Gefühl. Nasr hofft, dass die
Bundestagswahl glimpflich ausgeht, auch für ihre Partei. Und dass die SPD
danach wieder knallhart auf Sozialpolitik setzt.
21 Feb 2025
## LINKS
[1] https://www.bundeswahlleiterin.de/bundestagswahlen/2025/strukturdaten/bund-…
[2] https://www.ipsos.com/de-de/meinungsumfragen/politische-meinungslage-deutsc…
[3] https://www.bundeswahlleiterin.de/bundestagswahlen/2025/strukturdaten/bund-…
[4] https://www.bundeswahlleiterin.de/bundestagswahlen/2025/strukturdaten/bund-…
[5] /Sicherheitspaket-der-Ampelparteien/!6039696
## AUTOREN
Anna Lehmann
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