# taz.de -- Grüne und das Kanzleramt: Kandidatur mit Sprengkraft | |
> Wird Robert Habeck Kanzlerkandidat? Oder Annalena Baerbock? Die Frage | |
> könnte einen Keil zwischen das harmonisch agierende Spitzenduo treiben. | |
Bild: Habeck (l.) oder Baerbock (r.)? Im Kanzleramt ist eine Doppelspitze leide… | |
BERLIN taz | Robert Habeck hat sich mehrere Gesichtsausdrücke zugelegt, um | |
Journalisten zu kontern, die nach einem grünen Kanzlerkandidaten fragen. | |
Stirn in Falten legen, Kinn runter, resignierter Dackelblick. Augenbrauen | |
hoch, Mundwinkel auch, amüsierter Politcheckerblick. Habeck sagt dann das, | |
was man so sagt, wenn man nichts sagen will. Eine „unernste Frage“ sei das, | |
dieser ganze „Kanzlerquatsch“. Wer Posten besetze, sei angesichts der | |
großen Probleme der Zeit unwichtig. | |
Habeck weiß natürlich, dass das recht unernster Quatsch ist. Die Grünen | |
liegen in Umfragen vor der Union, eine nie dagewesene Sensation. Könnten | |
die Deutschen den Bundeskanzler direkt wählen, würden sich laut einer | |
repräsentativen Emnid-Umfrage 51 Prozent für Habeck entscheiden. Nur 24 | |
Prozent fänden die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer besser. Was | |
Habeck als Quatsch abtut, ist inzwischen eine reale Option: der erste grüne | |
Kanzler der bundesdeutschen Geschichte – oder eben die erste Kanzlerin. | |
Der Lauf der Grünen scheint nicht zu bremsen zu sein. Das Klimathema, ihre | |
große Kompetenz, ist im breiten Mainstream angekommen. Zehntausende | |
SchülerInnen von Fridays vor Future gehen mit urgrünen Anliegen auf die | |
Straße. Und die beiden Vorsitzenden Habeck und Annalena Baerbock wirken im | |
Vergleich mit ScholzLindnerKramp-Karrenbauer geradezu unverschämt gut | |
gelaunt, lässig und zukunftszugewandt. | |
Längst rauben die Grünen nicht mehr nur der SPD massenhaft Wählerstimmen, | |
sondern auch der CDU. Wie attraktiv sie für konservative Milieus sind, | |
zeigte sich bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern und eindrucksvoll | |
bei der Europawahl, bei der sie es auf Platz 2 unter den deutschen Parteien | |
schafften. | |
## Auf die müde Groko wettet keiner mehr | |
Vorsichtige Strategen versuchen, den Druck aus der Debatte zu nehmen. Die | |
Legislaturperiode ende erst 2021, sagen sie, und die Wählergunst sei | |
bekanntlich volatil. „Wir beschäftigen uns rechtzeitig mit Wahlkampffragen, | |
wenn Wahlen konkret anstehen“, sagt die Bundestagsabgeordnete Franziska | |
Brantner, die den Realo-Flügel koordiniert. Solange konzentriere man sich | |
auf gesellschaftliche Fragen und Themen wie den Klimaschutz oder ein | |
gestärktes Europa. | |
Das Problem ist nur: Auf die müde Große Koalition wetten in Berlin nicht | |
mehr viele. Wenn das Bündnis platzt, vielleicht noch vor Weihnachten, | |
stünden schnell Neuwahlen an. Für die Grünen wäre das eigentlich nur gut, | |
so könnten sie im Bund die Dividende des Umfragehochs einfahren. | |
Aber deshalb birgt die K-Frage, anders als es alle suggerieren wollen, | |
Sprengkraft. Sie könnte einen Keil in das Spitzenduo treiben, das bisher | |
sehr harmonisch agiert und so den Erfolg der Grünen prägt. Eine | |
Doppelspitze im Kanzleramt lässt das Grundgesetz nicht zu, zum Leidwesen | |
der quotenverliebten Grünen. | |
Entscheidend ist deshalb, ob sich Habeck und Baerbock gütlich einigen – | |
oder nicht. „Wenn einer dem anderen den Vortritt lässt, ist alles gut“, | |
sagt ein wichtiger Grüner. „Wenn nicht, dann wird es, äh, interessant.“ Es | |
wäre ein Match der ChefInnen: Weitere BewerberInnen in ihrer Gewichtsklasse | |
sind nicht in Sicht. | |
## Kein Kaninchen aus dem Hut | |
Bundesgeschäftsführer Michael Kellner ist derjenige, der das Verfahren | |
festlegen und managen muss. Fragt man ihn, wie es mit der Kanzlerkandidatur | |
laufe, sagt er: „Wir wissen um unsere Verantwortung. Und deshalb werden wir | |
die relevanten Fragen rechtzeitig vor einer Wahl beantworten, gemeinsam mit | |
der Partei.“ | |
Wirklich aufregend klingt das nicht, aber in dem Satz stecken mehrere | |
Ansagen. Erstens: Den Grünen ist sehr wohl bewusst, wie riesig der | |
Vertrauensvorschuss der BürgerInnen ist. | |
Zweitens: Die Kanzlerkandidatur würde im Fall des Falles früh geklärt. Die | |
Menschen müssten wissen, wen sie ins Kanzleramt wählen – dies sei ein Gebot | |
der Transparenz. So sehen es viele in der Partei. Die Variante, mit einer | |
gleichberechtigten Doppelspitze in den Wahlkampf zu ziehen, um dann kurz | |
vor dem Wahlsonntag den oder die Kandidatin wie ein Kaninchen aus dem Hut | |
zu zaubern, ist damit vom Tisch. | |
Noch eine dritte wichtige Botschaft steckt in Kellners Satz: Die Partei | |
wird an der Entscheidung beteiligt, es gibt also keine Ordre du mufti. | |
## Einfach oder aufwendig | |
Die gütliche – und einfachste – Lösung sähe so aus: Baerbock sagt Habeck | |
irgendwann unter vier Augen, dass sie ihm den Vortritt lässt. Das könnte | |
sie bei passender Gelegenheit in einem großen Interview verkünden, ein | |
Parteitag müsste die Entscheidung dann nur noch bestätigen. Auch der | |
umgekehrte Fall ist denkbar. Habeck könnte zugunsten von Baerbock | |
verzichten. Warum sollten ausgerechnet die Grünen den Mann ins Kanzleramt | |
schicken? | |
Schwieriger wird es, wenn beide den Spitzenjob wollen. Dann müsste vor dem | |
Wahlkampf eine Klärung her. Ein Instrument dafür wäre eine Urwahl. Bei den | |
Bundestagswahlen 2013 und 2017 ließen die Grünen ihre Mitglieder | |
entscheiden, wer den Wahlkampf als Spitzenkandidat anführen soll. | |
In der Parteizentrale wird allerdings darauf verwiesen, wie aufwändig das | |
Verfahren ist. Die in der Satzung geregelte Urwahl sieht diverse Fristen | |
vor. BewerberInnen müssen sich erstmal melden und dann der Basis in | |
Urwahlforen vorstellen, Stimmzettel versendet und zurückgeschickt werden. | |
Dauer: etwa drei Monate. | |
Falls die Groko platzt, wäre eine Urwahl nicht machbar, allein aus | |
organisatorischen Gründen. Kellners Leute müssten dann in Windeseile eine | |
Kampagne auf die Beine stellen, Programmprozesse klären und den Wahlkampf | |
organisieren. Entprechend, heißt es bei den Grünen, müsste ein Parteitag | |
ersatzweise über die Kanzlerkandidatur entscheiden. Anders sieht es aus, | |
wenn die Legislaturperiode wie vorgesehen 2021 endet. Dann wäre reichlich | |
Zeit. | |
## Grüne Frauen für Baerbock | |
Bisher ist völlig offen, wie sich das Spitzenduo entscheidet. Beide | |
ChefInnen bringen unterschiedliche Qualitäten mit, beide können mit Recht | |
Ansprüche geltend machen. Habeck liegt in Beliebtheitsumfragen für | |
SpitzenpolitikerInnen regelmäßig ganz vorn. Er ist der wesentlich | |
Prominentere und wird von vielen Medien präferiert. Anders als Baerbock | |
verfügt er über Regierungserfahrung, weil er in Schleswig-Holstein sechs | |
Jahre lang Minister für Umwelt, Landwirtschaft und Energiewende war. | |
Aber Baerbock ist auch nicht ohne. Sie gilt in der Partei als nüchternes | |
Korrektiv zu Habeck, der manchmal zum Überschwang neigt. Und sie hat in | |
eineinhalb Jahren aus dem Nichts heraus ein enormes Standing entwickelt. | |
Nicht zuletzt hätte sie viele Frauen hinter sich. | |
Schließlich verstehen sich die Grünen als feministische Kraft, die Frauen | |
bei gleicher Eignung bewusst nach vorne schiebt. Als die taz Ende Mai in | |
einem Debattenbeitrag darauf hinwies, dass es seltsam sei, dass nur Habeck, | |
der Mann, für die Kanzlerkandidatur gehandelt werde, wurde dieser auf | |
Twitter über 800 Mal geliked. | |
Viele grüne Frauen sehen nicht ein, warum Habeck im Rennen ums Kanzleramt | |
gesetzt sein sollte. „Ich würde sehr gerne in einem Land leben, in dem | |
Annalena Baerbock Kanzlerin ist“, twitterte etwa die Grüne Alexandra Geese, | |
die bald im Europaparlament sitzt. | |
## Selbstbewusst gegen Alphamännchen | |
Baerbock hat in der Vergangenheit deutlich gemacht, dass sie sich von | |
Alphamännern nicht die Butter vom Brot nehmen lässt. Sie setzt | |
selbstbewusst Akzente, auch bei heiklen Themen wie der Migrationspolitik. | |
Sie hat kein Problem damit, Habeck in kleiner Runde zurecht zu stutzen, | |
wenn er sich zu sehr spreizt. | |
Ihr Selbstbewusstsein zeigte sie schon ganz am Anfang, im Dezember 2017, | |
als sie ihren Hut für den Parteivorsitz in den Ring warf. Habeck hatte | |
damals der taz ein Interview gegeben, in dem er seine eigene Kandidatur | |
ankündigen wollte. Kurz vor dem Erscheinungstermin steckte Baerbock einer | |
Nachrichtenagentur, dass sie selbst antreten werde, ohne sich groß in der | |
Partei abzusprechen. | |
Während Habeck noch Parteifreunde anrief, um sie zu informieren, preschte | |
sie an ihm vorbei – und setzte selbst die Schlagzeilen. Das grüne Rennen um | |
die Kanzlerkandidatur könnte spannender werden, als manche denken. | |
16 Jun 2019 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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