Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Grüne in Ostdeutschland: Zwischen Euphorie und Angst
> Die Grünen könnten in Sachsen und Brandenburg in der Regierung landen.
> Die plötzliche Beliebtheit bereitet manchem in der Partei Sorge.
Bild: Die Grünen haben derzeit im Osten soviel Kraft wie noch nie
Da ist Grünen-Chef Robert Habeck, 49, der seine Termine in Sachsen, bei
denen sich die Leute dicht an dicht drängen, gerne mit einem Witz beginnt.
„Sie wissen, dass das eine Veranstaltung der Grünen ist, ja?“
Da ist Wolfram Günther, 46, Grünen-Spitzenkandidat in Sachsen, der an einem
heißen Augusttag in Rochlitz sagt: „Wir erleben eine große Unterstützung,
da tut sich was in Sachsen.“
[1][Und da ist Ursula Nonnemacher, 62, Spitzenfrau in Brandenburg], die auf
dem Marktplatz in Rathenow vorsichtig formuliert, um nicht zu große
Erwartungen zu wecken: „Ja, das ist schon eine sehr, sehr starke
Veränderung.“
Wie spricht man über das nie Dagewesene, ohne überheblich zu wirken? Es ist
so: Den Grünen kann in Ostdeutschland eine kleine Sensation gelingen. Am
Sonntag wird in Brandenburg und Sachsen gewählt. Alles deutet darauf hin,
dass die Grünen die Gewinner sein werden.
14 Prozent in Umfragen in Brandenburg, 11 Prozent in Sachsen. Bibberten die
Grünen hier früher um den Einzug in den Landtag, werden sie nach der Wahl
wahrscheinlich zweistellig sein. Sich also mal eben verdoppeln. Mehr noch,
sie haben gute Chancen, am Ende in zwei neuen Landesregierungen zu sitzen.
Neben dem absehbaren Erstarken der AfD zeichnet sich eine demokratische
Erfolgsgeschichte ab.
Erstmals sind für Grüne im Osten Direktmandate möglich: In Potsdam könnte
die 28-jährige Informatikerin Marie Schäffer gegen eine erfahrene SPDlerin
gewinnen. Auch die nüchtern auftretende Nonnemacher hat in Falkensee, einem
Ort gleich hinter der Berliner Landesgrenze, Chancen gegen eine
Christdemokratin. In Dresden und Leipzig hoffen die Grünen auf mehrere
Direktmandate.
Von wegen Dunkeldeutschland. Wird über die Zukunft Deutschlands vielleicht
nicht rechts außen entschieden, sondern links der Mitte?
Vor gar nicht allzu langer Zeit wäre so ein Szenario undenkbar gewesen. Die
Grünen, das waren im Osten die Spinner aus der Stadt. Die Schlauberger, die
ihren Öko-Lifestyle zur Schau stellen, aber vom Landleben keine Ahnung
haben. Tofugriller, die das Wochenende in ihrem Holzhaus in der Uckermark
verbringen, aber dann schnell wieder nach Berlin flüchten. Und jetzt
überholen sie in Sachsen die SPD und sind in Brandenburg den Volksparteien
auf den Fersen, Linkspartei inklusive.
## Angst, an den Erwartungen zu scheitern
Wie haben die Grünen das geschafft? Und wie managt eine kleine Partei einen
Boom, dem sie selbst misstraut? Hinter der Freude gibt es ja noch etwas
anderes, die Angst, an den Erwartungen zu scheitern. Die Brandenburger
Grünen haben 1.800 Mitglieder, 500 mehr als noch im Herbst 2018. Bei den
Grünen in Sachsen sind es aktuell 2.500 Mitglieder, vor einem Jahr waren es
nur 1.700. Die Leute rennen den Grünen die Bude ein.
Aber im Vergleich mit Westdeutschland sind sie im Osten immer noch schwach.
Allein der Kreisverband München hat knapp 2.700 Mitglieder. Einen Wahlkampf
in Flächenländern wie Brandenburg und Sachsen mit wenigen Leuten zu
bestreiten ist eine Tortur. Die Grünen haben deshalb eine interne
Landverschickung organisiert. Grüne aus Essen, Landau und Schwabing halfen
in Brandenburg, Kölner und Düsseldorfer in Chemnitz.
Aufs Regieren sind die Grünen in Brandenburg und Sachsen nur bedingt
vorbereitet. Wie auch? Noch vor einem Jahr schien es darum zu gehen, wieder
über die 5-Prozent-Hürde zu hüpfen. Eine „echte Herausforderung“ sei die
nächste Regierungsbildung, glaubt Nonnemacher. Auch dem Sachsen Günther
schwant, dass eine solche „extrem schwierig“ würde.
Wenn man verspricht, sie nicht namentlich zu zitieren, reden Grüne noch
offener. „Wir schwanken zwischen Euphorie und Überforderung“, räumt eine
Brandenburgerin ein. Sie machen gerade ziemlich viel zum ersten Mal:
überlegen, wer MinisterIn werden könnte, wer StaatssekretärIn. Wer
unbedingt ins Team für Koalitionsgespräche muss. Welche Inhalte Priorität
haben, welche nicht. Wie man das überhaupt macht, regieren.
Wer in den vergangenen Wochen mit Robert Habeck durch Ostdeutschland
reiste, erlebte eine interessierte Zivilgesellschaft, die das Klischee des
braunen Ostens widerlegte. Bei Grünen-Veranstaltungen waren kein Hass auf
Flüchtlinge zu spüren und keine Ressentiments gegen das System, welches
auch immer. Stattdessen fragten Menschen freundlich und gut informiert nach
Inhalten. E-Mobilität, Infrastruktur in der Provinz, Kohleausstieg,
Insektensterben. Von allem ist die Rede, nur nicht von einem imaginierten
Zuviel an Migration.
Der Gasometer in Zwickau, ein imposanter Backsteinbau, Stahlträger unter
der Holzdecke, grüne Strahler leuchten die Bühne aus. 470 Leute sind da,
viele stehen, weil die Stühle nicht reichen. Ein Mann, Typ verrenteter
Ingenieur, nimmt sich das Mikro und legt los. Die Ökobilanz von E-Autos sei
schlechter als die von Verbrennern. Den Ausbau der Ladestruktur müssten die
Bürger bezahlen, dafür werde dann Kohle- und Atomstrom aus Polen und
Frankreich importiert. Es sei falsch, die deutschen Atomkraftwerke
abzuschalten, die sichersten der Welt. Einige im Publikum nicken heftig.
Habeck antwortet. Mit ruhiger Stimme arbeitet er die Punkte ab, nimmt sich
Zeit. Später, in seinem Schlusswort, sagt er, dass das für die Grünen im
Moment eine „neue Rolle“ sei. „Eine, die uns Verantwortung auflädt.“ Er
wisse, dass viele im Saal die Grünen für bescheuert hielten, aber auch sie
hätten ihre Kritik in Fragen gekleidet. Er habe hier das Gegenteil von
Sichanbrüllen erlebt. „Ich bin so ein bisschen Wahl-Sachse geworden in den
letzten Tagen.“
Natürlich finden die meisten hier die Grünen gut. Aber Habecks Trick
funktioniert. Der E-Auto-Kritiker verschränkt die Arme, sein Bekannter,
der neben ihm sitzt, klatscht.
Habeck wäre nicht Habeck, wenn er die ostdeutschen Wahlen nicht mit einer
großen Story verbände. Der Rechtspopulismus versuche, „den Osten“ für si…
zu beanspruchen – inklusive der friedlichen Revolution, schreibt er in
seinem Blog. Um damit die Spaltung des Landes zu zementieren. Wenn es eine
Aufgabe gebe, dann die, „dieses Klischee zu brechen“.
Die Grünen wollen das Lagerfeuer sein, an dem sich liberale und weltoffene
Leute zusammenfinden gegen die Wut von rechts. Ein warmer Ort für das
aufgeklärte Bürgertum. Habeck denkt gerne groß, aber im Kleinen ist das
Große manchmal schwierig.
„Darf ich Ihnen das in die Hand drücken?“ Ursula Nonnemacher, Brille,
kinnlanges braunes Haar, wendet sich auf dem Wochenmarkt in Rathenow,
Brandenburg lächelnd einer Rentnerin zu, hält ihr einen Flyer hin. Die
presst die Lippen zusammen, schüttelt den Kopf. Nonnemacher legt ihr kurz
die Hand auf den Arm. „Beiße aber nicht.“ Freundlich bleiben, auch wenn man
auf Ablehnung stößt. Nonnemacher hat da Übung. Sie ist seit 1997 bei den
Grünen, seit 2009 sitzt sie im Landtag.
## Großtrappe statt Transrapid
Nonnemacher kann sich noch daran erinnern, wie Brandenburger Grüne Ende der
90er auf der Straße beschimpft wurden. Manchmal auch bedroht. Der Bund
wollte damals den Transrapid bauen, die Brandenburger freuten sich auf
Jobs. Aber die Grünen wollten lieber die Großtrappe schützen, eine
Vogelart, gerne in offenen Wiesenlandschaften unterwegs.
An einem Stehtisch vor einem Imbiss erzählt Nonnemacher, wie ihr
Landesverband mit dem Wahnsinn umgeht. Es riecht nach Erbsensuppe und
Kesselgulasch, die Bockwurst kostet 1,50 Euro. Neue Mitglieder machten vor
allem aus zwei Gründen bei den Grünen mit, sagt Nonnemacher. Sie wollten
etwas gegen den Klimawandel tun – und gegen die starke AfD. „Wir werden als
der überzeugendste Gegenpol zur AfD wahrgenommen, weil wir mit ihr keine
Schnittmengen haben – weder programmatisch noch in der Wählerklientel.“
Der Run bringt auch Probleme mit sich, Wachstumsschmerzen. Die Neuen,
voller Elan, möchten etwas tun – haben aber keine Erfahrung. Sie wissen
nicht, wie man samstags einen Wahlkampfstand organisiert, welche
Forderungen im Programm stehen. „Da stellen sich sehr konkrete Fragen: Wer
macht ein professionelles Foto von der Direktkandidatin, welcher Spruch
kommt drauf?“, sagt Nonnemacher. Manche Kreisverbände seien so klamm, dass
sie sich keine professionellen Pappplakate leisten könnten. Dann treffen
sich zehn Leute im Garten zur Plakatierparty: Ein paar Eimer mit Kleister,
Tapeziertische, Papier auf Pressspan.
Das ist gut fürs Teambuilding, aber irre ineffizient. Jedenfalls für einen
Wahlkampf, der auf eine Regierungsbeteiligung zielt. Nonnemacher lacht. Sie
muss los. „Was uns an Ressourcen fehlt, gleichen wir durch den
Enthusiasmus und das große Engagement der Mitglieder aus.“
## Aufbauarbeit im Muldental
Wolfram Günther läuft mit großen Schritten neben Habeck her, grüßt mal
links, mal rechts. Ein Ortstermin in Rochlitz, einem
6.000-Einwohner-Städtchen in Mittelsachsen. Am Hang thront das wuchtige
Schloss mit den zwei Türmen, am Markt stehen hübsch restaurierte
Patrizierhäuser, ein paar Meter weiter fließt sanft die Mulde vorbei.
Hinter dem Erfolg stecke „kleinteilige Aufbauarbeit“, sagt Günther. Partei
und Fraktion hätten in Sachsen eng zusammengearbeitet. Gezielt grün
tickende Leute angesprochen, überall. Bundestags- und Europaabgeordnete
eingespannt.
Früher habe es in manchen Regionen keine Grünen gegeben, „weiße Flecken auf
unserer Landkarte“. Heute gebe es in jedem Landkreis, in jeder größeren
Stadt ein Büro von einem Abgeordneten. Der Weg zum nächsten Grünen sei
nicht mehr weit.
Günther nimmt einen Espresso, den ihm der Besitzer des Cafés am Marktplatz
in die Hand drückt. „Du brauchst einen, der anfängt. Dann finden sich
schnell Leute, die sich engagieren wollen.“ In Rochlitz war es genauso. Vor
fünf Jahren trafen sich ökobewegte BürgerInnen zu einem grünen Stammtisch.
Sie organisierten einen Regionalmarkt, der Händler und Kunden aus der
ganzen Region anlockt. „Solche Keimzellen sind wichtig.“ Einige aus der
Gruppe gründeten eine Bürgervereinigung mit. Sie holte bei den
Kommunalwahlen im Mai aus dem Stand 29 Prozent.
Es ist ganz einfach: Demokratisches Engagement beginnt im Kleinen. Und es
ändert die Atmosphäre in einer Stadt. Früher fuhren Rechtsextreme mit
ihrem schwarzen Audi um den Marktplatz, Frakturschrift auf der Heckscheibe.
Heute sind die Nazis im Straßenbild nicht mehr so dominant. Verschwunden
sind sie aber nicht.
## Die West-Grünen waren echte Besserwessis
Der Erfolg der Grünen in Sachsen und Brandenburg kommt nicht aus dem
Nichts. Er ist langsam gewachsen. Den Grünen, dieser sehr westdeutschen
Partei, war Ostdeutschland ja lange Zeit völlig schnuppe. Unvergessen, wie
die West-Grünen im Bundestagswahlkampf 1990 mit dem Slogan „Alle reden von
Deutschland. Wir reden vom Wetter“ warben. Die Ignoranz gegenüber dem
historischen Ereignis der Wiedervereinigung wurde bestraft. Die West-Grünen
flogen aus dem Bundestag, die Bündnis-90-Fraktion durfte einziehen, weil
sie in Ostdeutschland besser abgeschnitten hatte.
Auch der Zusammenschluss zu Bündnis 90/Die Grünen im Jahr 1993 erfolgte
nicht auf Augenhöhe. Anfangs drückten die westdeutschen Routiniers die
Leute von Bündnis 90 in der fusionierten Partei an die Wand. Die
West-Grünen waren echte Besserwessis.
Annalena Baerbock und Robert Habeck, seit gut eineinhalb Jahren im Amt,
haben solche Reflexe vermieden. [2][Baerbock, 38, wohnt mit Mann und
Kindern in Potsdam], sie führte vier Jahre lang den Brandenburger
Landesverband, bevor sie Bundesvorsitzende wurde. In ihrer Bewerbungsrede
rief sie den Delegierten zu: Sie kämpfe für den Kohleausstieg, aber auch
dafür, dass die Lausitz nicht abgehängt werde.
Programmatisch hat die Grünen-Spitze dieses Versprechen eingelöst. Sie
wollen den Kohlekonzern LEAG umbauen, in der Lausitz Fotovoltaik und
Ökolandwirtschaft kombinieren, den öffentlichen Nahverkehr stärken, ja
sogar oberleitungsgebundene Elektro-Lkws fahren lassen. Manches davon kommt
aus dem grünen Fantasialand, nicht alles wird funktionieren. Aber eines
kann man den Grünen nicht vorwerfen: dass sie keinen Plan für ostdeutsche
Regionen hätten. Wann immer Baerbock kann, zieht sie das Thema
Daseinsfürsorge hoch. Weist darauf hin, dass Funklöcher, stillgelegte
Bahnstrecken oder geschlossene Arztpraxen das Gefühl des Abgehängtseins
verstärken.
Habeck und Baerbock fanden erstaunlich kritische Worte über die Rolle der
eigenen Partei, über die Treuhand und über die 90er, in denen der Osten zu
einem „Versuchslabor neoliberaler Ideen“ geworden sei. Über einen
Vorstandsbeschluss schrieben sie vor einem halben Jahr ein Zitat aus
Bertolt Brechts Kinderhymne: „Nicht über und nicht unter“.
Zarte Signale sind das. Wir verstehen, was euch wichtig ist. Oder präziser:
Wir bemühen uns, es zu verstehen. Etwas Neues war bei den Grünen zu spüren,
eine ernsthafte, fragende Zugewandtheit. Nur einmal hat Habeck es
verbaselt, als er in einem Video dafür warb, Thüringen zu einem freien,
demokratischen Land zu machen. War es das vorher nicht? Habeck schämte sich
– und verabschiedete sich von Twitter.
Das grüne Spitzenduo reiste im Wahlkampf nicht nur in die Städte, nach
Leipzig, nach Dresden-Neustadt oder in den Berliner Speckgürtel. Dorthin,
wo die Grünen stark sind. Sie fuhren auch in die Provinz, nach Rochlitz,
Neukieritzsch oder Rathenow.
Wer mit Habeck in Sachsen und Brandenburg unterwegs ist, kann immer wieder
überraschende Szenen beobachten. Vor dem Karl-Marx-Monument in Chemnitz
sagt ein Mann mit eisengrauem Bürstenhaarschnitt, dass er nicht grün wähle,
sich aber die Argumente habe anhören wollen. Ein Ehepaar in beigen Jacken
nickt. Bei den Grünen bleiben nicht mehr nur die üblichen Verdächtigen
stehen.
Im Gasometer in Zwickau meldet sich ein älterer Herr, das weiße Haar
sorgfältig gekämmt. Er sei Bergbauveteran, habe drei Enkel und er möge
Optimisten. Die hätten Flugzeuge gebaut, Pessimisten nur den Fallschirm
erfunden. Er gratuliere den Grünen zu ihren Vorsitzenden, er schätze ihre
klare Sprache.
## „Was würden Sie anders machen?“
Auf dem Marktplatz in Rathenow klagt eine ältere Dame minutenlang. Der
Staat sei marode, die Schulen seien es auch, die Regierung züchte eine
Jugend heran, die zu faul zum Arbeiten sei. So könnte auch eine
AfD-Sympathisantin klingen, aber am Ende sagt sie zu Habeck: „Sie sind mir
sympathisch. Was würden Sie anders machen?“
Das ist, nebenbei bemerkt, eine sehr gute Frage. Selbst Spitzengrüne wissen
ja nicht so genau, was ein Kanzler Habeck alles anstellen würde. Eine
gewisse Unbestimmtheit gehört zum Erfolg der Grünen dazu. Sie sind im
Moment eine riesige Projektionsfläche, auch im Osten. Der Boom überstrahlt,
dass vieles ungeklärt ist.
Wer wird denn nun Kanzlerkandidat, Habeck oder Baerbock? Ein Wettstreit
könnte die Partei in die Luft sprengen. Sagen sie ihren WählerInnen, dass
sie die riesigen Erwartungen nie erfüllen werden? Eine schwarz-grüne
Koalition wäre ja kein radikal realistisches Projekt, sondern mühsames
Klein-Klein. Und was ist mit wichtigen Inhalten? Dass die
Bundestagsfraktion bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr nicht geschlossen,
sondern quer durchs Gemüsebeet abstimmt, wirkt in der Opposition
sympathisch. Eine Regierung wäre in akuter Gefahr.
Den Grünen geht es wie einem kleinen, hippen Start-up. Vorne in der Lounge
erzählen die gut aussehenden ChefInnen Journalisten eine tolle Story. Aber
hinten in den Büros ächzen die MitarbeiterInnen unter der Anfragenflut. Die
Parteienstruktur ist auf alte Wahlergebnisse zugeschnitten, auf die 8,9
Prozent etwa, die die Grünen 2017 schafften. Aber die Erwartungen an eine
20-Prozent-Partei sind viel höher. Mehr Termine, mehr Interview- und
Porträtwünsche. „Das zehrt“, sagt Bundesgeschäftsführer Michael Kellner.
„Ende 2018 war das Team der Geschäftsstelle so platt wie nach einer
Bundestagswahl.“
Früher hatten die Grünen nur in Südwestdeutschland die Chance,
Oberbürgermeisterwahlen zu gewinnen. Jetzt spielen sie quer durch die
Republik auf Sieg. Und natürlich will jeder Kandidat und jede Kandidatin,
dass die prominenten Bundesvorsitzenden mal vorbeikommen.
## Unerfahrene Neulinge und Querdenker
Auch die Fraktionen werden größer und unberechenbarer. Plötzlich ziehen
Leute auf hinteren, ursprünglich chancenlosen Listenplätzen in Parlamente
ein. Unerfahrene Neulinge und Querdenker, mit denen keiner gerechnet hatte.
„Nach der Europawahl haben wir erst mal erschrocken geguckt, wer noch so
auf der Liste steht“, sagt eine gut vernetzte Grüne.
Auch wenn sich Michael Kellner im Moment über satte Mehreinnahmen freuen
kann, die Konkurrenz hat viel mehr Geld. Der Grüne muss im nächsten
Bundestagswahlkampf mit weniger Mitteln ein ähnliches oder besseres
Ergebnis hinkriegen als Union und SPD. Davor habe er großen Respekt, gibt
er zu. „Da denke ich manchmal: Wow, das ist ein ganz schönes Unterfangen.“
In den ostdeutschen Ländern könnte das Regieren fürchterlich werden. Wegen
der Schwäche der SPD reicht es in Brandenburg nicht mehr für Rot-Rot. Die
Grünen könnten in eine komplizierte Dreierkonstellation einsteigen. Was
lässt sich bewegen an der Seite einer SPD, die seit der Wende
ununterbrochen regiert? [3][Die Brandenburger Sozialdemokraten sind
strukturkonservativ], sie hängen an der Massentierhaltung und natürlich an
der Kohle. SPD-Abgeordnete beendeten ihre Reden zur Lausitz im Parlament
gerne mit einem „Glück auf!“
Nonnemacher weiß um die großen Differenzen. Bewusst zieht sie keine roten
Linien, betont aber: „Führen wir Koalitionsverhandlungen, wird unser
zentraler Punkt der Ausstieg aus der Braunkohle sein.“ Für die Grünen steht
ihre Glaubwürdigkeit auf dem Spiel. Sie haben im Wahlkampf für Veränderung
geworben, bald müssen sie liefern.
Noch kniffliger ist es in Sachsen. Dort hat Schwarz-Rot keine Zukunft, weil
CDU und SPD wohl stark verlieren werden. Die Grünen müssten beiden zur
Mehrheit verhelfen, auch um die starke AfD von der Macht fernzuhalten. Eine
Kenia-Koalition, wie sie auch in Sachsen-Anhalt regiert. Habeck bezeichnet
es bei der Klausur des Bundesvorstands in Dresden als „reale Gefahr“,
[4][dass sich eine CDU-Minderheitsregierung von der AfD tolerieren lässt].
Die Grünen stehen unter enormem Druck, sie sind zum Regieren verdammt. Und
das wird wehtun.
Eine Regierungsbeteiligung sei kein Automatismus, sagt Günther tapfer –
wissend, dass das eigentlich nicht stimmt. „Wir wollen grüne Inhalte
durchsetzen: etwa für mehr Klimaschutz, stärkere Förderung von
Sozialwohnungsbau und einen besseren Artenschutz.“ Und er redet den
Gesprächspartnern von CDU und SPD schon vorab ins Gewissen: „Um eine
stabile Mehrheit zu bilden, wäre große Disziplin und viel guter Wille bei
allen Beteiligten nötig.“
Wirklich glücklich klingt Günther dabei nicht.
30 Aug 2019
## LINKS
[1] /Landtagswahl-in-Brandenburg/!5614653
[2] /Debatte-Gruenes-Spitzenpersonal/!5595302
[3] /SPD-vor-der-Landtagswahl-in-Brandenburg/!5616162
[4] /Vor-den-Landtagswahlen-in-Sachsen/!5617904
## AUTOREN
Ulrich Schulte
## TAGS
Annalena Baerbock
Robert Habeck
Grüne
Schwerpunkt Landtagswahl Sachsen 2024
Wahlen in Ostdeutschland 2024
Schwerpunkt Landtagswahl 2019 in Brandenburg
Cem Özdemir
Schwerpunkt Landtagswahlen
Schwerpunkt Landtagswahlen
Robert Habeck
Schwerpunkt Klimawandel
Annalena Baerbock
## ARTIKEL ZUM THEMA
Grünen-Parteitag in Brandenburg: „Keenja“ für Kenia
In Kleinmachnow stimmen die Brandenburger Grünen für rot-schwarz-grüne
Koalitionsgespräche. Die Grünen Jugend ist so gar nicht einverstanden.
Cem Özdemir als grüner Fraktionschef: Der Herausforderer
Ob Cem Özdemir den Grünen als Fraktionschef guttun würde, ist fraglich.
Sein raumgreifendes Auftreten hat ihm in der Vergangenheit Kritik
eingebracht.
Grüne nach den Landtagswahlen: Die Regierungsmacher
In Brandenburg und Sachsen gewannen die Grünen Stimmen dazu und werden
damit zu gefragten Mehrheitsbeschaffern.
Sächsische Spitzengrüne Katja Meier: „Ausloten, was da geht“
Die Prognosen für Sachsens Grüne stehen gut. Werden sie mit der CDU
koalieren? Katja Meier über das Interesse an grünen Themen und mögliche
Verhandlungen.
Grüne in Ostdeutschland: Clash der Realitäten
Grünen-Chef Robert Habeck tourt im Wahlkampf durch Sachsen. Er muss
erfahren, dass der Kampf gegen rechts schwieriger ist als gedacht.
Debatte die Grünen und Sozialpolitik: Jenseits der Gutverdiener
Zwischen Habeck und Lindner liegt nicht viel. Denn die Grünen vergessen
beim Kampf fürs Klima soziale Fragen und Solidarität mit Marginalisierten.
Grüne und das Kanzleramt: Kandidatur mit Sprengkraft
Wird Robert Habeck Kanzlerkandidat? Oder Annalena Baerbock? Die Frage
könnte einen Keil zwischen das harmonisch agierende Spitzenduo treiben.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.