# taz.de -- Grüne in Ostdeutschland: Zwischen Euphorie und Angst | |
> Die Grünen könnten in Sachsen und Brandenburg in der Regierung landen. | |
> Die plötzliche Beliebtheit bereitet manchem in der Partei Sorge. | |
Bild: Die Grünen haben derzeit im Osten soviel Kraft wie noch nie | |
Da ist Grünen-Chef Robert Habeck, 49, der seine Termine in Sachsen, bei | |
denen sich die Leute dicht an dicht drängen, gerne mit einem Witz beginnt. | |
„Sie wissen, dass das eine Veranstaltung der Grünen ist, ja?“ | |
Da ist Wolfram Günther, 46, Grünen-Spitzenkandidat in Sachsen, der an einem | |
heißen Augusttag in Rochlitz sagt: „Wir erleben eine große Unterstützung, | |
da tut sich was in Sachsen.“ | |
[1][Und da ist Ursula Nonnemacher, 62, Spitzenfrau in Brandenburg], die auf | |
dem Marktplatz in Rathenow vorsichtig formuliert, um nicht zu große | |
Erwartungen zu wecken: „Ja, das ist schon eine sehr, sehr starke | |
Veränderung.“ | |
Wie spricht man über das nie Dagewesene, ohne überheblich zu wirken? Es ist | |
so: Den Grünen kann in Ostdeutschland eine kleine Sensation gelingen. Am | |
Sonntag wird in Brandenburg und Sachsen gewählt. Alles deutet darauf hin, | |
dass die Grünen die Gewinner sein werden. | |
14 Prozent in Umfragen in Brandenburg, 11 Prozent in Sachsen. Bibberten die | |
Grünen hier früher um den Einzug in den Landtag, werden sie nach der Wahl | |
wahrscheinlich zweistellig sein. Sich also mal eben verdoppeln. Mehr noch, | |
sie haben gute Chancen, am Ende in zwei neuen Landesregierungen zu sitzen. | |
Neben dem absehbaren Erstarken der AfD zeichnet sich eine demokratische | |
Erfolgsgeschichte ab. | |
Erstmals sind für Grüne im Osten Direktmandate möglich: In Potsdam könnte | |
die 28-jährige Informatikerin Marie Schäffer gegen eine erfahrene SPDlerin | |
gewinnen. Auch die nüchtern auftretende Nonnemacher hat in Falkensee, einem | |
Ort gleich hinter der Berliner Landesgrenze, Chancen gegen eine | |
Christdemokratin. In Dresden und Leipzig hoffen die Grünen auf mehrere | |
Direktmandate. | |
Von wegen Dunkeldeutschland. Wird über die Zukunft Deutschlands vielleicht | |
nicht rechts außen entschieden, sondern links der Mitte? | |
Vor gar nicht allzu langer Zeit wäre so ein Szenario undenkbar gewesen. Die | |
Grünen, das waren im Osten die Spinner aus der Stadt. Die Schlauberger, die | |
ihren Öko-Lifestyle zur Schau stellen, aber vom Landleben keine Ahnung | |
haben. Tofugriller, die das Wochenende in ihrem Holzhaus in der Uckermark | |
verbringen, aber dann schnell wieder nach Berlin flüchten. Und jetzt | |
überholen sie in Sachsen die SPD und sind in Brandenburg den Volksparteien | |
auf den Fersen, Linkspartei inklusive. | |
## Angst, an den Erwartungen zu scheitern | |
Wie haben die Grünen das geschafft? Und wie managt eine kleine Partei einen | |
Boom, dem sie selbst misstraut? Hinter der Freude gibt es ja noch etwas | |
anderes, die Angst, an den Erwartungen zu scheitern. Die Brandenburger | |
Grünen haben 1.800 Mitglieder, 500 mehr als noch im Herbst 2018. Bei den | |
Grünen in Sachsen sind es aktuell 2.500 Mitglieder, vor einem Jahr waren es | |
nur 1.700. Die Leute rennen den Grünen die Bude ein. | |
Aber im Vergleich mit Westdeutschland sind sie im Osten immer noch schwach. | |
Allein der Kreisverband München hat knapp 2.700 Mitglieder. Einen Wahlkampf | |
in Flächenländern wie Brandenburg und Sachsen mit wenigen Leuten zu | |
bestreiten ist eine Tortur. Die Grünen haben deshalb eine interne | |
Landverschickung organisiert. Grüne aus Essen, Landau und Schwabing halfen | |
in Brandenburg, Kölner und Düsseldorfer in Chemnitz. | |
Aufs Regieren sind die Grünen in Brandenburg und Sachsen nur bedingt | |
vorbereitet. Wie auch? Noch vor einem Jahr schien es darum zu gehen, wieder | |
über die 5-Prozent-Hürde zu hüpfen. Eine „echte Herausforderung“ sei die | |
nächste Regierungsbildung, glaubt Nonnemacher. Auch dem Sachsen Günther | |
schwant, dass eine solche „extrem schwierig“ würde. | |
Wenn man verspricht, sie nicht namentlich zu zitieren, reden Grüne noch | |
offener. „Wir schwanken zwischen Euphorie und Überforderung“, räumt eine | |
Brandenburgerin ein. Sie machen gerade ziemlich viel zum ersten Mal: | |
überlegen, wer MinisterIn werden könnte, wer StaatssekretärIn. Wer | |
unbedingt ins Team für Koalitionsgespräche muss. Welche Inhalte Priorität | |
haben, welche nicht. Wie man das überhaupt macht, regieren. | |
Wer in den vergangenen Wochen mit Robert Habeck durch Ostdeutschland | |
reiste, erlebte eine interessierte Zivilgesellschaft, die das Klischee des | |
braunen Ostens widerlegte. Bei Grünen-Veranstaltungen waren kein Hass auf | |
Flüchtlinge zu spüren und keine Ressentiments gegen das System, welches | |
auch immer. Stattdessen fragten Menschen freundlich und gut informiert nach | |
Inhalten. E-Mobilität, Infrastruktur in der Provinz, Kohleausstieg, | |
Insektensterben. Von allem ist die Rede, nur nicht von einem imaginierten | |
Zuviel an Migration. | |
Der Gasometer in Zwickau, ein imposanter Backsteinbau, Stahlträger unter | |
der Holzdecke, grüne Strahler leuchten die Bühne aus. 470 Leute sind da, | |
viele stehen, weil die Stühle nicht reichen. Ein Mann, Typ verrenteter | |
Ingenieur, nimmt sich das Mikro und legt los. Die Ökobilanz von E-Autos sei | |
schlechter als die von Verbrennern. Den Ausbau der Ladestruktur müssten die | |
Bürger bezahlen, dafür werde dann Kohle- und Atomstrom aus Polen und | |
Frankreich importiert. Es sei falsch, die deutschen Atomkraftwerke | |
abzuschalten, die sichersten der Welt. Einige im Publikum nicken heftig. | |
Habeck antwortet. Mit ruhiger Stimme arbeitet er die Punkte ab, nimmt sich | |
Zeit. Später, in seinem Schlusswort, sagt er, dass das für die Grünen im | |
Moment eine „neue Rolle“ sei. „Eine, die uns Verantwortung auflädt.“ Er | |
wisse, dass viele im Saal die Grünen für bescheuert hielten, aber auch sie | |
hätten ihre Kritik in Fragen gekleidet. Er habe hier das Gegenteil von | |
Sichanbrüllen erlebt. „Ich bin so ein bisschen Wahl-Sachse geworden in den | |
letzten Tagen.“ | |
Natürlich finden die meisten hier die Grünen gut. Aber Habecks Trick | |
funktioniert. Der E-Auto-Kritiker verschränkt die Arme, sein Bekannter, | |
der neben ihm sitzt, klatscht. | |
Habeck wäre nicht Habeck, wenn er die ostdeutschen Wahlen nicht mit einer | |
großen Story verbände. Der Rechtspopulismus versuche, „den Osten“ für si… | |
zu beanspruchen – inklusive der friedlichen Revolution, schreibt er in | |
seinem Blog. Um damit die Spaltung des Landes zu zementieren. Wenn es eine | |
Aufgabe gebe, dann die, „dieses Klischee zu brechen“. | |
Die Grünen wollen das Lagerfeuer sein, an dem sich liberale und weltoffene | |
Leute zusammenfinden gegen die Wut von rechts. Ein warmer Ort für das | |
aufgeklärte Bürgertum. Habeck denkt gerne groß, aber im Kleinen ist das | |
Große manchmal schwierig. | |
„Darf ich Ihnen das in die Hand drücken?“ Ursula Nonnemacher, Brille, | |
kinnlanges braunes Haar, wendet sich auf dem Wochenmarkt in Rathenow, | |
Brandenburg lächelnd einer Rentnerin zu, hält ihr einen Flyer hin. Die | |
presst die Lippen zusammen, schüttelt den Kopf. Nonnemacher legt ihr kurz | |
die Hand auf den Arm. „Beiße aber nicht.“ Freundlich bleiben, auch wenn man | |
auf Ablehnung stößt. Nonnemacher hat da Übung. Sie ist seit 1997 bei den | |
Grünen, seit 2009 sitzt sie im Landtag. | |
## Großtrappe statt Transrapid | |
Nonnemacher kann sich noch daran erinnern, wie Brandenburger Grüne Ende der | |
90er auf der Straße beschimpft wurden. Manchmal auch bedroht. Der Bund | |
wollte damals den Transrapid bauen, die Brandenburger freuten sich auf | |
Jobs. Aber die Grünen wollten lieber die Großtrappe schützen, eine | |
Vogelart, gerne in offenen Wiesenlandschaften unterwegs. | |
An einem Stehtisch vor einem Imbiss erzählt Nonnemacher, wie ihr | |
Landesverband mit dem Wahnsinn umgeht. Es riecht nach Erbsensuppe und | |
Kesselgulasch, die Bockwurst kostet 1,50 Euro. Neue Mitglieder machten vor | |
allem aus zwei Gründen bei den Grünen mit, sagt Nonnemacher. Sie wollten | |
etwas gegen den Klimawandel tun – und gegen die starke AfD. „Wir werden als | |
der überzeugendste Gegenpol zur AfD wahrgenommen, weil wir mit ihr keine | |
Schnittmengen haben – weder programmatisch noch in der Wählerklientel.“ | |
Der Run bringt auch Probleme mit sich, Wachstumsschmerzen. Die Neuen, | |
voller Elan, möchten etwas tun – haben aber keine Erfahrung. Sie wissen | |
nicht, wie man samstags einen Wahlkampfstand organisiert, welche | |
Forderungen im Programm stehen. „Da stellen sich sehr konkrete Fragen: Wer | |
macht ein professionelles Foto von der Direktkandidatin, welcher Spruch | |
kommt drauf?“, sagt Nonnemacher. Manche Kreisverbände seien so klamm, dass | |
sie sich keine professionellen Pappplakate leisten könnten. Dann treffen | |
sich zehn Leute im Garten zur Plakatierparty: Ein paar Eimer mit Kleister, | |
Tapeziertische, Papier auf Pressspan. | |
Das ist gut fürs Teambuilding, aber irre ineffizient. Jedenfalls für einen | |
Wahlkampf, der auf eine Regierungsbeteiligung zielt. Nonnemacher lacht. Sie | |
muss los. „Was uns an Ressourcen fehlt, gleichen wir durch den | |
Enthusiasmus und das große Engagement der Mitglieder aus.“ | |
## Aufbauarbeit im Muldental | |
Wolfram Günther läuft mit großen Schritten neben Habeck her, grüßt mal | |
links, mal rechts. Ein Ortstermin in Rochlitz, einem | |
6.000-Einwohner-Städtchen in Mittelsachsen. Am Hang thront das wuchtige | |
Schloss mit den zwei Türmen, am Markt stehen hübsch restaurierte | |
Patrizierhäuser, ein paar Meter weiter fließt sanft die Mulde vorbei. | |
Hinter dem Erfolg stecke „kleinteilige Aufbauarbeit“, sagt Günther. Partei | |
und Fraktion hätten in Sachsen eng zusammengearbeitet. Gezielt grün | |
tickende Leute angesprochen, überall. Bundestags- und Europaabgeordnete | |
eingespannt. | |
Früher habe es in manchen Regionen keine Grünen gegeben, „weiße Flecken auf | |
unserer Landkarte“. Heute gebe es in jedem Landkreis, in jeder größeren | |
Stadt ein Büro von einem Abgeordneten. Der Weg zum nächsten Grünen sei | |
nicht mehr weit. | |
Günther nimmt einen Espresso, den ihm der Besitzer des Cafés am Marktplatz | |
in die Hand drückt. „Du brauchst einen, der anfängt. Dann finden sich | |
schnell Leute, die sich engagieren wollen.“ In Rochlitz war es genauso. Vor | |
fünf Jahren trafen sich ökobewegte BürgerInnen zu einem grünen Stammtisch. | |
Sie organisierten einen Regionalmarkt, der Händler und Kunden aus der | |
ganzen Region anlockt. „Solche Keimzellen sind wichtig.“ Einige aus der | |
Gruppe gründeten eine Bürgervereinigung mit. Sie holte bei den | |
Kommunalwahlen im Mai aus dem Stand 29 Prozent. | |
Es ist ganz einfach: Demokratisches Engagement beginnt im Kleinen. Und es | |
ändert die Atmosphäre in einer Stadt. Früher fuhren Rechtsextreme mit | |
ihrem schwarzen Audi um den Marktplatz, Frakturschrift auf der Heckscheibe. | |
Heute sind die Nazis im Straßenbild nicht mehr so dominant. Verschwunden | |
sind sie aber nicht. | |
## Die West-Grünen waren echte Besserwessis | |
Der Erfolg der Grünen in Sachsen und Brandenburg kommt nicht aus dem | |
Nichts. Er ist langsam gewachsen. Den Grünen, dieser sehr westdeutschen | |
Partei, war Ostdeutschland ja lange Zeit völlig schnuppe. Unvergessen, wie | |
die West-Grünen im Bundestagswahlkampf 1990 mit dem Slogan „Alle reden von | |
Deutschland. Wir reden vom Wetter“ warben. Die Ignoranz gegenüber dem | |
historischen Ereignis der Wiedervereinigung wurde bestraft. Die West-Grünen | |
flogen aus dem Bundestag, die Bündnis-90-Fraktion durfte einziehen, weil | |
sie in Ostdeutschland besser abgeschnitten hatte. | |
Auch der Zusammenschluss zu Bündnis 90/Die Grünen im Jahr 1993 erfolgte | |
nicht auf Augenhöhe. Anfangs drückten die westdeutschen Routiniers die | |
Leute von Bündnis 90 in der fusionierten Partei an die Wand. Die | |
West-Grünen waren echte Besserwessis. | |
Annalena Baerbock und Robert Habeck, seit gut eineinhalb Jahren im Amt, | |
haben solche Reflexe vermieden. [2][Baerbock, 38, wohnt mit Mann und | |
Kindern in Potsdam], sie führte vier Jahre lang den Brandenburger | |
Landesverband, bevor sie Bundesvorsitzende wurde. In ihrer Bewerbungsrede | |
rief sie den Delegierten zu: Sie kämpfe für den Kohleausstieg, aber auch | |
dafür, dass die Lausitz nicht abgehängt werde. | |
Programmatisch hat die Grünen-Spitze dieses Versprechen eingelöst. Sie | |
wollen den Kohlekonzern LEAG umbauen, in der Lausitz Fotovoltaik und | |
Ökolandwirtschaft kombinieren, den öffentlichen Nahverkehr stärken, ja | |
sogar oberleitungsgebundene Elektro-Lkws fahren lassen. Manches davon kommt | |
aus dem grünen Fantasialand, nicht alles wird funktionieren. Aber eines | |
kann man den Grünen nicht vorwerfen: dass sie keinen Plan für ostdeutsche | |
Regionen hätten. Wann immer Baerbock kann, zieht sie das Thema | |
Daseinsfürsorge hoch. Weist darauf hin, dass Funklöcher, stillgelegte | |
Bahnstrecken oder geschlossene Arztpraxen das Gefühl des Abgehängtseins | |
verstärken. | |
Habeck und Baerbock fanden erstaunlich kritische Worte über die Rolle der | |
eigenen Partei, über die Treuhand und über die 90er, in denen der Osten zu | |
einem „Versuchslabor neoliberaler Ideen“ geworden sei. Über einen | |
Vorstandsbeschluss schrieben sie vor einem halben Jahr ein Zitat aus | |
Bertolt Brechts Kinderhymne: „Nicht über und nicht unter“. | |
Zarte Signale sind das. Wir verstehen, was euch wichtig ist. Oder präziser: | |
Wir bemühen uns, es zu verstehen. Etwas Neues war bei den Grünen zu spüren, | |
eine ernsthafte, fragende Zugewandtheit. Nur einmal hat Habeck es | |
verbaselt, als er in einem Video dafür warb, Thüringen zu einem freien, | |
demokratischen Land zu machen. War es das vorher nicht? Habeck schämte sich | |
– und verabschiedete sich von Twitter. | |
Das grüne Spitzenduo reiste im Wahlkampf nicht nur in die Städte, nach | |
Leipzig, nach Dresden-Neustadt oder in den Berliner Speckgürtel. Dorthin, | |
wo die Grünen stark sind. Sie fuhren auch in die Provinz, nach Rochlitz, | |
Neukieritzsch oder Rathenow. | |
Wer mit Habeck in Sachsen und Brandenburg unterwegs ist, kann immer wieder | |
überraschende Szenen beobachten. Vor dem Karl-Marx-Monument in Chemnitz | |
sagt ein Mann mit eisengrauem Bürstenhaarschnitt, dass er nicht grün wähle, | |
sich aber die Argumente habe anhören wollen. Ein Ehepaar in beigen Jacken | |
nickt. Bei den Grünen bleiben nicht mehr nur die üblichen Verdächtigen | |
stehen. | |
Im Gasometer in Zwickau meldet sich ein älterer Herr, das weiße Haar | |
sorgfältig gekämmt. Er sei Bergbauveteran, habe drei Enkel und er möge | |
Optimisten. Die hätten Flugzeuge gebaut, Pessimisten nur den Fallschirm | |
erfunden. Er gratuliere den Grünen zu ihren Vorsitzenden, er schätze ihre | |
klare Sprache. | |
## „Was würden Sie anders machen?“ | |
Auf dem Marktplatz in Rathenow klagt eine ältere Dame minutenlang. Der | |
Staat sei marode, die Schulen seien es auch, die Regierung züchte eine | |
Jugend heran, die zu faul zum Arbeiten sei. So könnte auch eine | |
AfD-Sympathisantin klingen, aber am Ende sagt sie zu Habeck: „Sie sind mir | |
sympathisch. Was würden Sie anders machen?“ | |
Das ist, nebenbei bemerkt, eine sehr gute Frage. Selbst Spitzengrüne wissen | |
ja nicht so genau, was ein Kanzler Habeck alles anstellen würde. Eine | |
gewisse Unbestimmtheit gehört zum Erfolg der Grünen dazu. Sie sind im | |
Moment eine riesige Projektionsfläche, auch im Osten. Der Boom überstrahlt, | |
dass vieles ungeklärt ist. | |
Wer wird denn nun Kanzlerkandidat, Habeck oder Baerbock? Ein Wettstreit | |
könnte die Partei in die Luft sprengen. Sagen sie ihren WählerInnen, dass | |
sie die riesigen Erwartungen nie erfüllen werden? Eine schwarz-grüne | |
Koalition wäre ja kein radikal realistisches Projekt, sondern mühsames | |
Klein-Klein. Und was ist mit wichtigen Inhalten? Dass die | |
Bundestagsfraktion bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr nicht geschlossen, | |
sondern quer durchs Gemüsebeet abstimmt, wirkt in der Opposition | |
sympathisch. Eine Regierung wäre in akuter Gefahr. | |
Den Grünen geht es wie einem kleinen, hippen Start-up. Vorne in der Lounge | |
erzählen die gut aussehenden ChefInnen Journalisten eine tolle Story. Aber | |
hinten in den Büros ächzen die MitarbeiterInnen unter der Anfragenflut. Die | |
Parteienstruktur ist auf alte Wahlergebnisse zugeschnitten, auf die 8,9 | |
Prozent etwa, die die Grünen 2017 schafften. Aber die Erwartungen an eine | |
20-Prozent-Partei sind viel höher. Mehr Termine, mehr Interview- und | |
Porträtwünsche. „Das zehrt“, sagt Bundesgeschäftsführer Michael Kellner. | |
„Ende 2018 war das Team der Geschäftsstelle so platt wie nach einer | |
Bundestagswahl.“ | |
Früher hatten die Grünen nur in Südwestdeutschland die Chance, | |
Oberbürgermeisterwahlen zu gewinnen. Jetzt spielen sie quer durch die | |
Republik auf Sieg. Und natürlich will jeder Kandidat und jede Kandidatin, | |
dass die prominenten Bundesvorsitzenden mal vorbeikommen. | |
## Unerfahrene Neulinge und Querdenker | |
Auch die Fraktionen werden größer und unberechenbarer. Plötzlich ziehen | |
Leute auf hinteren, ursprünglich chancenlosen Listenplätzen in Parlamente | |
ein. Unerfahrene Neulinge und Querdenker, mit denen keiner gerechnet hatte. | |
„Nach der Europawahl haben wir erst mal erschrocken geguckt, wer noch so | |
auf der Liste steht“, sagt eine gut vernetzte Grüne. | |
Auch wenn sich Michael Kellner im Moment über satte Mehreinnahmen freuen | |
kann, die Konkurrenz hat viel mehr Geld. Der Grüne muss im nächsten | |
Bundestagswahlkampf mit weniger Mitteln ein ähnliches oder besseres | |
Ergebnis hinkriegen als Union und SPD. Davor habe er großen Respekt, gibt | |
er zu. „Da denke ich manchmal: Wow, das ist ein ganz schönes Unterfangen.“ | |
In den ostdeutschen Ländern könnte das Regieren fürchterlich werden. Wegen | |
der Schwäche der SPD reicht es in Brandenburg nicht mehr für Rot-Rot. Die | |
Grünen könnten in eine komplizierte Dreierkonstellation einsteigen. Was | |
lässt sich bewegen an der Seite einer SPD, die seit der Wende | |
ununterbrochen regiert? [3][Die Brandenburger Sozialdemokraten sind | |
strukturkonservativ], sie hängen an der Massentierhaltung und natürlich an | |
der Kohle. SPD-Abgeordnete beendeten ihre Reden zur Lausitz im Parlament | |
gerne mit einem „Glück auf!“ | |
Nonnemacher weiß um die großen Differenzen. Bewusst zieht sie keine roten | |
Linien, betont aber: „Führen wir Koalitionsverhandlungen, wird unser | |
zentraler Punkt der Ausstieg aus der Braunkohle sein.“ Für die Grünen steht | |
ihre Glaubwürdigkeit auf dem Spiel. Sie haben im Wahlkampf für Veränderung | |
geworben, bald müssen sie liefern. | |
Noch kniffliger ist es in Sachsen. Dort hat Schwarz-Rot keine Zukunft, weil | |
CDU und SPD wohl stark verlieren werden. Die Grünen müssten beiden zur | |
Mehrheit verhelfen, auch um die starke AfD von der Macht fernzuhalten. Eine | |
Kenia-Koalition, wie sie auch in Sachsen-Anhalt regiert. Habeck bezeichnet | |
es bei der Klausur des Bundesvorstands in Dresden als „reale Gefahr“, | |
[4][dass sich eine CDU-Minderheitsregierung von der AfD tolerieren lässt]. | |
Die Grünen stehen unter enormem Druck, sie sind zum Regieren verdammt. Und | |
das wird wehtun. | |
Eine Regierungsbeteiligung sei kein Automatismus, sagt Günther tapfer – | |
wissend, dass das eigentlich nicht stimmt. „Wir wollen grüne Inhalte | |
durchsetzen: etwa für mehr Klimaschutz, stärkere Förderung von | |
Sozialwohnungsbau und einen besseren Artenschutz.“ Und er redet den | |
Gesprächspartnern von CDU und SPD schon vorab ins Gewissen: „Um eine | |
stabile Mehrheit zu bilden, wäre große Disziplin und viel guter Wille bei | |
allen Beteiligten nötig.“ | |
Wirklich glücklich klingt Günther dabei nicht. | |
30 Aug 2019 | |
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