| # taz.de -- Kommentar Grüne im Höhenflug: Das Konzept „Merkel“ | |
| > Radikale Klarheit? Von wegen. Diffuse Indifferenz ist ein Wesensmerkmal | |
| > der Grünen geworden. Jeder soll sich bei ihnen wohlfühlen. | |
| Bild: Wer wird KanzlerkandidatIn? Grüne Erfolgsspitze mit Annalena Bärbock un… | |
| Die Grünen haben in dieser Woche mal wieder ein Meisterstück der | |
| politischen Kommunikation vorgelegt. Allen in der Partei ist klar, dass sie | |
| vor dem nächsten Wahlkampf [1][einen Kanzlerkandidaten benennen], wenn die | |
| Umfragewerte so gut bleiben. Gleichzeitig lobt Robert Habeck die | |
| Doppelspitze über den Klee. Das neue Verständnis von Führung sei, dass | |
| „nicht einer der große Zampano ist“, sagt er. | |
| Was soll die interessierte Öffentlichkeit davon halten? Na ja, alles, was | |
| sie will. Die quotenbegeisterten Feministinnen dürfen hoffen, die | |
| regierungswilligen Pragmatiker, die Klarheit und einen einzigen Kandidaten | |
| wollen, auch. Die Habeck/Baerbock-Grünen erfinden eben die erste | |
| Doppelspitze der Welt, in der einer KanzlerkandidatIn ist, der oder die | |
| andere aber völlig gleichberechtigt ist. Man könnte auch sagen: Sie | |
| erzählen charmanten Unfug, aber keiner soll es merken. | |
| Der Vorgang ist interessant, weil er pars pro toto für das Erfolgsrezept | |
| der Grünen von heute steht. Sie behaupten zwar, für radikale Klarheit zu | |
| sein, bleiben aber unbestimmt genug, um niemanden zu verschrecken. [2][Klug | |
| ausgespielte Indifferenz ist ein Wesensmerkmal der Grünen] geworden. Sie | |
| ist nicht das schlechteste Rezept für unübersichtliche Zeiten. | |
| Wer Dosenbier trinken, Diesel fahren oder hemmungslos um die Welt fliegen | |
| will, darf das aus grüner Sicht gerne tun – solange er sein Kreuzchen an | |
| der richtigen Stelle macht. Wer will schon individuelle Lebensstile | |
| beurteilen? Radikale Wachstumskritik, wie sie etwa der Volkswirtschaftler | |
| Niko Paech vertritt, spielt in der grünen Kommunikation keine Rolle mehr. | |
| Wäre ökologisch sinnvoll, ist aber unbequem. | |
| Die Liste solcher Beispiele ist lang. Grünen-Fraktionschefin Katrin | |
| Göring-Eckardt warf der SPD vor, dass ihre Grundrente nicht gegenfinanziert | |
| sei. Und verschwieg, dass die grüne Grundrente viel teurer ist. Habeck kann | |
| sich Enteignungen in der Wohnungspolitik vorstellen, im Notfall und als | |
| letztes Mittel natürlich. Aber sobald J[3][uso-Chef Kevin Kühnert] ein paar | |
| radikalere Thesen raushaut, gucken wichtige Grüne so angewidert, als habe | |
| sich ein betrunkener Jugendlicher auf die Kaffeetafel übergeben. | |
| ## Vorsichtige Einwände werden routiniert pariert | |
| Besonders auffällig sind diese Widersprüche in der Flüchtlingspolitik. Die | |
| Grünen im Bund beschreiben sich gern als humanitärer Gegenpol zur AfD. | |
| Mitfühlend und weltoffen, aber auch ein bisschen pragmatisch. Die Grünen in | |
| den Ländern exekutieren eine Flüchtlingspolitik, mit der die CDU gut leben | |
| kann. Länder wie Hessen oder Baden-Württemberg schieben Straftäter nach | |
| Afghanistan ab, während die Grünen im Bund einen „sofortigen | |
| Abschiebestopp“ fordern. Fürs Protokoll: Abschiebungen in ein Kriegsland | |
| sind für Grüne kein Grund, eine Koalition platzen zu lassen, nirgendwo. | |
| Vorsichtige Einwände werden routiniert pariert. Spricht man Grüne aus | |
| Schleswig-Holstein darauf an, warum sie in der Jamaika-Koalition ein | |
| Abschiebegefängnis mittragen, entgegnen sie mit treuherzigem Blick, dass | |
| das für die Häftlinge das Beste sei, weil sie ja vorher in viel schlimmere | |
| Knäste in Nachbarländern transportiert wurden. Keine Frage, man kann das so | |
| sehen. Aber mit dem utopistischen Überschuss, den die Grünen im Bund | |
| verströmen, hat solcher Brutalstpragmatismus nichts zu tun. | |
| Im Moment nörgeln Grüne ganz gern darüber, dass JournalistInnen auch über | |
| Personen und Macht schreiben und nicht nur über die berühmten Inhalte. | |
| Gleichzeitig profitieren sie wie keine andere Partei von gelungener | |
| Personalisierung. Habeck setzt sich gekonnt in Szene, am Strand, den Wind | |
| im Haar, lachend und mit ausgebreiteten Armen, so dass die Becks-Werber | |
| ganz neidisch werden. Bitte keine Texte übers Personal? Das Großartige ist, | |
| dass den Grünen ihre Widersprüche selbst nicht mehr auffallen, so sehr ist | |
| ihnen die gelebte Dialektik in Fleisch und Blut übergegangen. | |
| Die Grünen sind im Moment eine riesige Projektionsfläche. Ein weißes Blatt | |
| Papier, auf das sich das im weitesten Sinne ökoaffine und progressiv | |
| fühlende Bürgertum seine Wünsche in bunten Farben malt, egal ob links, | |
| liberal oder konservativ. Der Hardcore-Öko mit Lastenfahrrad und | |
| Baumwollbeutel darf sich bei den Grünen ebenso zu Hause fühlen wie die | |
| konservative Mittelständlerin aus Baden-Württemberg oder der IT-Fachmann, | |
| der seine Kinder morgens mit dem SUV vor der Schule abwirft. | |
| Die interessante Frage ist, ob das grüne Erfolgsmodell kollabiert, wenn sie | |
| in Regierungsverantwortung kommen. In ihrer breit gewordenen Wählerschaft | |
| gibt es harte Interessensgegensätze, die nicht durch freundliches Reden | |
| aufgelöst werden können. Reale Entscheidungen werden Enttäuschungen | |
| produzieren. Wahr ist aber auch: Modern wirkende Diffusität funktioniert in | |
| Deutschland gut und lange. Die Grünen schreiben das Konzept Angela Merkels | |
| auf ihre Weise fort. Das könnte erstaunlich zukunftstauglich sein. | |
| 19 Jun 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ulrich Schulte | |
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