# taz.de -- Debatte Kevin Kühnert zu Enteignung: Wir brauchen diese Gedanken | |
> Was funktioniert im Kapitalismus, was nicht? Diese Frage muss in einer | |
> Sozialdemokratie erlaubt sein. Neoliberale Denkverbote bringen niemanden | |
> weiter. | |
Bild: Kevin Kühnert hat sich in einem Interview zu sehr löchern lassen – zu… | |
Das muss man sich erst einmal vorstellen: [1][Kevin Kühnert denkt darüber | |
nach, wie eine postkapitalistische Gesellschaft einmal strukturiert sein | |
könnte.] Eine Zukunft mit vergesellschafteter, möglicherweise | |
genossenschaftlich organisierter Produktion, in der die Demokratie vor den | |
Werktoren nicht halt macht; in der Beschäftigte nicht nur Instrumente der | |
Produktion sind; in der sozialdemokratische Reformpolitik sich auch nicht | |
auf die Umverteilung von Gewinnen beschränkt, die am Markt realisiert | |
werden, sondern die Produktion selbst beeinflusst. | |
Wohlgemerkt: Er denkt darüber nach, er erhebt nicht einmal eine Forderung. | |
Mehr noch: Er denkt darüber nach, weil die Interviewer ihn stur löchern. | |
Die fragen dreimal: Und, wie ist das dann konkret bei BMW? Als er dann | |
höflich irgendwas zu BMW antwortet, ist plötzlich die Scheiße am Dampfen: | |
Kühnert fordere, BMW zu verstaatlichen! DDR! Kollektivierung! Trabi! Die | |
große Phrasendreschmaschine wird angeworfen. | |
Der Theatermacher Michael Herl hat das [2][in der Frankfurter Rundschau] | |
ganz richtig beschrieben: „Kühnert sagt die Wahrheit – und alle drehen | |
durch.“ | |
Gewiss, Kühnert wird jetzt auch verteidigt. Hauptsächlich mit taktischen | |
Erwägungen, wie etwa: Die SPD, kleingeistig wie sie geworden ist, muss | |
mutiger und visionärer werden, und dafür brauche man genau solche | |
Überlegungen wie Kühnert sie anstelle. Ein anderes lautet: Wenn die SPD | |
provokante Thesen ins Gespräch bringt, dann ist die AfD abgemeldet. Eine | |
dritte kommt hinzu: Alleine über Enteignungen zu sprechen, ist schon | |
sinnvoll, weil sich die globalisierten Eliten, die sich frech den ganzen | |
Reichtum krallen, dann erschrecken – kann ja nicht schaden, wenn sie die | |
Angst packt. | |
## Die Autobranche ist nicht relevant genug | |
Diese taktischen Erwägungen sind ja keineswegs falsch und erinnern ein | |
wenig an den grandiosen Karl Kraus, der einmal schrieb, dass er die ganze | |
Idee und Praxis des Kommunismus nicht teile, „aber Gott erhalte ihn uns als | |
konstante Drohung über den Häuptern jener, so da Güter besitzen … Gott | |
erhalte ihn uns, damit dieses Gesindel, das schon nicht mehr ein und aus | |
weiß vor Frechheit, nicht noch frecher werde“. | |
Ähnliche Gedanken hört man auch im Zusammenhang mit dem Berliner | |
„Deutsche-Wohnen-Enteignen“-Volksbegehren: Allein aufgrund der Forderung | |
werde die Frage des bezahlbaren Wohnraums in der politischen Arena | |
plötzlich ernst genommen. | |
Zur Sache selbst: BMW ist jetzt sicherlich nicht das allerbeste Beispiel. | |
Autoproduktion gehört nicht zur strategischen Infrastruktur einer | |
Gesellschaft. Man kann daher der Meinung sein, dass man eher andere | |
Branchen der kapitalistischen Logik entziehen müsse. Etwa die | |
Wohnungspolitik, die Energieversorgung, der öffentliche Verkehr, die | |
strategische Infrastruktur wie Telekommunikation oder ähnliches, ja, auch | |
die Finanzbranche, in der Marktkräfte ganz andere Wirkungen haben als etwa | |
in der Güterproduktion, aufgrund des Herdentriebs von Investoren und | |
aufgrund des irrationalen Überschwangs von überschwänglicher Hausse und | |
depressiver Baisse, die für viele verheerende Wirkungen der Finanzmärkte | |
verantwortlich sind. | |
Es braucht eher mehr Kühnheit als neoliberale Denkverbote – und kluge | |
Überlegungen, was heute funktioniert und was nicht, und wie auf welche | |
Weise ein revolutionärer Reformismus einen wild gewordenen Kapitalismus | |
zähmen oder transformieren kann. | |
## Wie verbindet man Freiheit und Effizienz? | |
Wie man negative Effekte der Marktlogik ausschaltet, darüber kann man | |
übrigens diskutieren: Soll man, beispielsweise, große Immobilienfirmen | |
wirklich enteignen? Im „Roten Wien“, bis heute das bedeutendste Exempel für | |
eine radikalreformerische Wohnungspolitik, ist man anders verfahren: Man | |
hat die Immobilienbesitzer hart besteuert, strengste Mieterschutzgesetze | |
erlassen, und durch die eingenommenen Steuern sehr viel zusätzlichen | |
öffentlichen Wohnraum geschaffen. Bis heute kontrolliert die Stadt Wien mit | |
ihren Gemeindewohnungen damit rund 50 Prozent des Marktes. Perfekte | |
Strategie war das. | |
Man sollte nicht übersehen, dass bei dieser „Sozialismus“-Debatte zwei | |
unterschiedliche, aber miteinander verbundene Fragen aufgeworfen werden: | |
die Frage der Versorgung der Bürger mit lebensnotwendigen Gütern, wie | |
sichergestellt ist, dass es zu diesen Gütern einen bezahlbaren, egalitären | |
Zugang gibt; und die Frage, wie die Beschäftigten in den Unternehmen | |
gestellt sind, die diese Güter produzieren. Sind sie berechtigt, | |
mitzusprechen? Wer sackt die Profite ein? | |
Weitere Kompliziertheiten folgen auf den Fuß: Soll das Wettbewerbsprinzip | |
des Kapitalismus sistiert werden? Dann würde die Produktion womöglich | |
lahmer, Druck zur Innovation fiele weg. Die Produktivität würde kaum mehr | |
steigen, wir alle wären am Ende ärmer. Oder soll das Konkurrenzprinzip | |
weiter gelten? Aber wie genau würde sich dann ein vergesellschafteter | |
Betrieb von einem kapitalistischen unterscheiden? Also: Wie verbindet man | |
radikale Freiheit und höchste Effizienz? | |
Schon heute gibt es in vielen Ländern Branchen, in denen | |
genossenschaftliche Produktion gang und gäbe ist, es gibt auch | |
Volkswirtschaften, in denen sich neue Formen der Eigentümerschaft | |
ausbreiten. In Krisenphasen sind genossenschaftliche Firmen sogar robuster | |
als privatkapitalistische, weil die Belegschaften mehr zusammenhalten. Und | |
die Beschäftigten fühlen sich respektvoller behandelt, was gerade in einer | |
Zeit nicht irrelevant ist, in der sich immer mehr Menschen als Instrumente | |
behandelt sehen, als Kostenfaktoren auf zwei Beinen. Regierungen sollten | |
Sektoren der „kooperativen Produktion“ hätscheln, meint etwa Paul Mason in | |
seinem Buch „Postkapitalismus“, sie sollten sie „unterstützen und | |
schützen“. | |
Eine Sozialdemokratie, die auf sich hält, darf solche Gedanken nicht nur | |
anstellen – sie muss das sogar. | |
10 May 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Kevin-Kuehnert-zum-Sozialismus/!5592214 | |
[2] https://www.fr.de/meinung/pflicht-eines-sozialdemokraten-12255339.html | |
## AUTOREN | |
Robert Misik | |
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