| # taz.de -- Debatte Grünes Spitzenpersonal: Baerbock for Kanzlerin | |
| > Robert wer? Wollen die Grünen ernsthaft als feministische Partei gelten, | |
| > müssen sie Anspruch aufs Kanzleramt erheben – mit einer Kandidatin | |
| > natürlich. | |
| Bild: Die bessere Wahl? Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock | |
| Echte Jungs machen am liebsten unter sich aus, wer die wirklich wichtigen | |
| Jobs bekommt. Für Stern-Kolumnist Hans-Ulrich Jörges ist es zum Beispiel | |
| gar keine Frage, dass Robert Habeck der Kanzlerkandidat der Grünen werden | |
| muss. Jörges verglich Habeck, den „Politiker mit dem größten Potenzial in | |
| Deutschland“, allen Ernstes mit dem jungen Willy Brandt. | |
| Habeck, klar. Wer auch sonst? Jörges, ein Alphajournalist des Berliner | |
| Betriebs, ist nicht der einzige Mann, der dem Mann in der Grünen-Spitze das | |
| Kanzleramt zutraut. (Männliche) Journalisten vom Spiegel, vom Handelsblatt, | |
| der Welt oder von Regionalzeitungen spekulieren, ob Habeck es macht. | |
| (Männliche) Politologen stimmen ein. Generell ist die beliebteste Frage an | |
| wichtige Grüne derzeit, ob die Partei angesichts ihres Höhenfluges, nicht | |
| zuletzt durch den großen [1][Erfolg bei den Europawahlen], einen | |
| Kanzlerkandidaten aufstellen müsse. Einen Kandidaten wohlgemerkt, | |
| Maskulinum. | |
| Die naheliegende Frage lautet doch aber: Warum eigentlich Habeck? Warum | |
| sollte nicht Annalena Baerbock die Kanzlerkandidatin der Grünen werden? | |
| Beide sind Parteivorsitzende, beide werden im nächsten Wahlkampf | |
| Spitzenkandidaten sein – und sie wäre mindestens so geeignet wie er. | |
| Allein die Tatsache, dass Baerbocks Kandidatur nicht ernsthaft erwogen | |
| wird, zeigt, wie Machtfragen im Jahr 2019 noch verhandelt werden. In dem | |
| Hype um Habeck steckt eine ordentliche Portion Misogynie. Der Mann gilt als | |
| gesetzt, die Frau als, nun ja, ganz fähig – aber eben nicht | |
| kanzlerinnentauglich. „Nichts gegen Annalena Baerbock“, knödelt Jörges in | |
| seiner Eloge auf Habeck gönnerhaft, „sie ist ein kompetentes und | |
| sympathisches Gesicht ihrer Partei.“ | |
| Kompetent und sympathisch? Da schwingt wenig subtil mit: Wenn es wirklich | |
| wichtig wird, Baby, lass mal die Männer ran. Solche Muster lassen sich in | |
| der öffentlichen Rezeption des grünen Spitzenduos immer wieder beobachten. | |
| Habeck wird von JournalistInnen als charismatischer Superstar beschrieben, | |
| Baerbock als kundige Fachpolitikerin. Er wird für die philosophischen | |
| Welterklärer-Interviews angefragt, sie darf die Details der Kohlekommission | |
| auseinanderfriemeln. Er wird als moderner, empathischer Mann gefeiert, der | |
| sogar seine Hemden selbst bügelt. Sie muss erklären, wie sie den Spagat | |
| zwischen Politik und Familie hinbekommt. Selbst schuld, wenn frau kleine | |
| Kinder hat und sich erdreistet, Parteivorsitzende sein zu wollen. | |
| Das Interessante ist ja, dass in dem grünen Spitzenduo die traditionellen | |
| und überholten Attribute von Männlichkeit und Weiblichkeit genau falsch | |
| herum verteilt sind. Baerbock ist der Mann, Habeck die Frau. Sie blickt | |
| kühler auf die Dinge als er. Sie neigt nicht zum emotionalen Überschwang. | |
| Sie spricht präziser und sie macht weniger Fehler. Annalena Baerbock hätte | |
| sich niemals zweimal in einem Video so verquatscht, dass es wirkt, als | |
| sprächen die Grünen Parteien oder Bundesländern die Demokratiefähigkeit ab. | |
| Sie hätte auch vor der Bayern-Wahl, als die Landesgrünen auf Schwarz-Grün | |
| hofften, keine öffentliche Entschuldigung der CSU für ihre | |
| Flüchtlingspolitik gefordert. Denn diese Bedingung hätte faktisch die | |
| Koalition verhindert. Solche Fehler sind keine Kleinigkeiten. Wer ins | |
| Kanzleramt will, muss sich im Griff haben. Frau Dr. Merkel könnte viel über | |
| die Tugend der Selbstbeherrschung erzählen. Auch ein Studium des | |
| Völkerrechts ist vielleicht hilfreicher als eines der Philosophie, aber das | |
| nur am Rande. | |
| Ja, Habeck hat – anders als Baerbock – Regierungserfahrung, weil er in | |
| Schleswig-Holstein gut sechs Jahre lang Minister für Umwelt, Landwirtschaft | |
| und Energiewende war. Aber ist das ein Grund, sie komplett außen vor zu | |
| lassen? Auch Baerbock wäre ohne Zweifel in der Lage, einen großen Apparat | |
| zu managen. Und sie kennt sich in der Europa- und Außenpolitik | |
| erwiesenermaßen besser aus als er, in Themen also, die im Kanzleramt ab und | |
| an eine Rolle spielen. | |
| Die Grünen sind eine progressive Partei, offiziell kämpfen sie für die | |
| Gleichberechtigung von Frauen. „Die Hälfte der Macht den Frauen“, heißt es | |
| in ihrem Wahlprogramm. Sie setzen auf Doppelspitzen, sie quotieren | |
| Rednerlisten und sie lassen Frauen bei der Listenplatzvergabe den Vortritt | |
| vor Männern. Bei gleicher Qualifikation schieben die Grünen Frauen nach | |
| vorne, um das strukturelle Ungleichgewicht in der Gesellschaft zu beheben. | |
| Nun hätten sie in einer grün-rot-roten Koalition erstmals Chance, eine Frau | |
| ins Kanzleramt zu schicken. Und dann soll der Mann ran? | |
| ## Die Grünen sind erstaunlich männerfixiert | |
| Zugegeben, auch die Grünen sind erstaunlich männerfixiert, zumindest dann, | |
| wenn es um informelle Hierarchien geht. Ihre Stars sind fast alle männlich: | |
| Kretschmann, Trittin, Özdemir und natürlich Joschka Fischer, der | |
| Silberrücken der grünen Macker. Und die Frauen tappen manchmal erstaunlich | |
| bereitwillig in eine Falle. Nach der Hessen-Wahl im vergangenen Jahr hatten | |
| die Grünen kurz die Chance, [2][in einer Ampel-Koalition den oder die | |
| MinisterpräsidentIn zu stellen]. Auch damals jazzten die Medien Tarek | |
| Al-Wazir hoch, den Mann. Gefragt, warum sie ihrem Co-Spitzenkandidaten den | |
| Vortritt lasse, antwortete Priska Hinz, eine erfahrene Politikerin, damals | |
| in der Bundespressekonferenz: Al-Wazir sei nun mal der Beliebtere. | |
| Aber Umfragen spiegeln patriarchale Strukturen, die sich immer wieder | |
| reproduzieren. JournalistInnen schreiben den Mann hoch, weil sie in alten | |
| Mustern denken. WählerInnen bevorzugen in Umfragen den Mann, weil sie ihn | |
| besser kennen. Die Partei setzt auf den Mann, weil sie Umfragen glaubt. Und | |
| wieder von vorn. Streng genommen hebelt Umfragegläubigkeit die | |
| innerparteiliche Demokratie aus, denn über den oder die KanzlerkandidatIn | |
| sollte die Partei entscheiden. | |
| Wer es ernst meint mit dem Feminismus, müsste diese Mechanismen eigentlich | |
| erkennen – und durchbrechen. Die Grünen sollten sich gut überlegen, ob sie | |
| das Spiel mancher Medien mitspielen. | |
| 28 May 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Kommentar-Bedeutung-der-Europawahl/!5598018 | |
| [2] /Moegliche-Koalition-nach-Hessen-Wahl/!5544007 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Schulte | |
| ## TAGS | |
| Annalena Baerbock | |
| Robert Habeck | |
| Bündnis 90/Die Grünen | |
| Tarek Al-Wazir | |
| Annalena Baerbock | |
| Schwerpunkt Europawahl | |
| Robert Habeck | |
| Annalena Baerbock | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Grüne und das Kanzleramt: Kandidatur mit Sprengkraft | |
| Wird Robert Habeck Kanzlerkandidat? Oder Annalena Baerbock? Die Frage | |
| könnte einen Keil zwischen das harmonisch agierende Spitzenduo treiben. | |
| Wahlerfolg der Grünen: Im Rausch | |
| Für die Grünen ist es ein historischer Sieg. Sie haben die SPD überholt. | |
| Noch wichtiger ist, dass dieser Erfolg vermutlich dauerhaft sein wird. | |
| „Brigitte“-Talk mit Grünen-Chef: Stark genug für die Regierung | |
| Der grüne Parteichef Robert Habeck tritt in einem Berliner Theater auf. In | |
| Zeiten der Erderhitzung empfiehlt er sich für höhere Ämter. | |
| Ein Jahr Grünenchefs Habeck/Baerbock: Das unterschiedliche Traumpaar | |
| Seit einem Jahr sind die beiden Grünen-Chefs Robert Habeck und Annalena | |
| Baerbock im Amt. Eine Analyse in fünf Punkten. |