| # taz.de -- Gewalt an Silvester: Brennpunkt Berlin | |
| > Nach den Silvester-Krawallen spricht ganz Deutschland mal wieder über | |
| > Neukölln. Was sagen die Menschen im Kiez? | |
| Bild: Hotspot: Ein an Silvester ausgebrannter Bus in der High-Deck-Siedlung in … | |
| Berlin taz | Seit Silvester steht ein ausgebrannter Reisebus in Neukölln. | |
| Dach, Heck und Stühle sind verkohlt, ein rot-weißes Absperrband ist um das | |
| Gerippe des Buses gewickelt. Über der Straße steht ein Wohnhaus, die | |
| Fassade ist schwarz vor Ruß. Eine Papiermülltonne wurde abgefackelt, es | |
| riecht nach geschmolzenem Plastik. Zwei Tage nach Silvester katert Neukölln | |
| immer noch aus. | |
| Am ausgebrannten Bus bleiben immer noch Passant:innen und | |
| Radfahrer:innen stehen, um Fotos zu knipsen. Ein Mann filmt mit | |
| Selfie-Stick das verkohlte Innere des Buses. Ein Fernsehteam ist auch da. | |
| [1][Die Republik redet über Neukölln] – mal wieder. Weil auch hier an | |
| Silvester Polizist:innen und Feuerwehrleute angegriffen wurden. Berlins | |
| Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) kündigte einen Gipfel | |
| gegen Jugendgewalt an, CDU-Chef Friedrich Merz bezeichnete Berlin im | |
| Münchner Merkur als „Chaos-Stadt“. Es geht um Schreckschusspistolen und | |
| Böller, aber auch um Gewalt und Migration. | |
| Uwe Feindt arbeitet im Nachbarschaftstreff „Mittendrin“, nur ein paar Meter | |
| vom verbrannten Reisebus entfernt. Ihn nervt das einseitige Bild. „Mit den | |
| Leuten, die hier wohnen, habe ich einen sehr freundlichen Umgang.“ In | |
| seinem engen Büro stapelt sich Papier, er kramt nach einem Flyer. Im | |
| Flachbau organisiert der Nachbarschaftstreff Teestunden, Kochkurse, | |
| Bingo-Abende und Mieterberatungen. | |
| „Wir versuchen für die Leute das Beste rauszuholen. Ob es Deutsche, Araber, | |
| Türken oder Griechen sind, sollte egal sein. Wir leben in einer Großstadt.“ | |
| Ihn stört die Vorverurteilung, man wisse noch viel zu wenig über die | |
| Silvesternacht. Seit einem halben Jahr ist er jetzt hier, düst mit seinem | |
| grünen Renault zur Arbeit. „Der wurde in Tempelhof und in Pankow zerkratzt, | |
| hier nicht.“ | |
| ## Wie im Bürgerkrieg | |
| Rund 330.000 Menschen wohnen in Neukölln, knapp die Hälfte hat | |
| Migrationshintergrund – die Bewohner:innen stammen aus 155 Ländern. | |
| Neukölln kennt man nicht nur in Berlin: der Kiez, wo [2][4-Blocks] gedreht | |
| wurde; der Kiez, über den alle immer reden, wenn es um Kriminalität und | |
| Ausländer geht. Jetzt also Silvester. Nach Angaben der Polizei wurden in | |
| der Silvesternacht in ganz Berlin 145 Menschen festgenommen, 45 Deutsche, | |
| 27 Afghanen, 21 Syrer. | |
| Silvester sei viel schlimmer gewesen als in den letzten Jahren, erzählt | |
| eine Anwohnerin. Sie sei deshalb in ihrer Wohnung geblieben. Die 56-jährige | |
| Frau trägt ein schwarz-lila Kopftuch und zieht einen Einkaufstrolley hinter | |
| sich her. Sie stammt aus dem Libanon und lebt seit 1991 in Deutschland, | |
| erzählt sie. In der Silvesternacht musste sie an den libanesischen | |
| Bürgerkrieg 1990 denken. Sie hatte Angst. „Bis fünf Uhr. Bum, bum, bum.“ | |
| Vielen Menschen, glaubt sie, fehlt der Respekt vor der Polizei. | |
| Seit 12 Jahren wohnt sie in Neukölln. Während des Gesprächs winkt sie einer | |
| Nachbarin. Man kennt sich hier in der „High-Deck-Siedlung“, einem Komplex | |
| aus mehreren Gebäuden im Osten von Neukölln. Aber viele der Menschen, die | |
| in der Silvesternacht hier waren, hat sie noch nie gesehen. Sie glaubt, sie | |
| seien extra zum Feiern gekommen. Der ganze Boden ist mit leeren | |
| Schreckschusspatronen übersät. Auch zwei Tage nach Silvester knallt immer | |
| wieder ein Böller in der Siedlung. Der Hall verliert sich zwischen den | |
| Häusern. Die Siedlung wurde in den 70ern und 80ern gebaut. Sozialer | |
| Wohnungsbau. Hier leben rund 8.000 Menschen. Hochgelagerte Pflasterwege | |
| durchziehen die Siedlung – daher der Name. Brücken, Treppen und Rampen | |
| verbinden die Straßen mit diesen Fußgängerwegen und den gelblich-weißen | |
| Häusern. | |
| „Wenn man sich hier nicht auskennt, ist es wie ein Labyrinth“, sagt Enes | |
| Erol. Der 27-Jährige ist in der High-Deck-Siedlung groß geworden. „Man kann | |
| relativ schnell abhauen von der Polizei.“ Erol hat | |
| Wirtschaftsingenieurwesen studiert. Er und seine Familie betreiben einen | |
| Späti und eine Bäckerei gleich beim High-Deck. Sie sind bekannt für ihre | |
| Zimtschnecken. | |
| ## „Unterste Schublade“ | |
| In der Silvesternacht war er auf dem High-Deck. Letztes Jahr wurden hier | |
| die Scheiben von einem Imbiss eingeschmissen, erzählt Erol, deshalb sind er | |
| und sein Bruder dieses Jahr um Mitternacht in die Bäckerei, haben das Licht | |
| angemacht und auf den Laden aufgepasst. „Da war hier Action. Hier sind gut | |
| Böller geplatzt. Obwohl ich waschechter Neuköllner bin, hab ich das so noch | |
| nie gehört. Ich bin überrascht, dass unsere Scheiben nicht geplatzt sind.“ | |
| Böse wirkt Erol dabei nicht. Wie auch? Viele der Jungs kennt er. Halloween | |
| und Silvester seien Ausnahmesituationen, aber die Krawalle heißt er nicht | |
| gut. Angriffe auf Polizei und Feuerwehr, sagt er, sind „unterste | |
| Schublade“. | |
| Er sagt: „Die Leute werden über einen Kamm geschoren. Es gibt genug Leute, | |
| die hart schuften, die probieren, sich was Vernünftiges aufzubauen. Und da | |
| wird dann gesagt: ‚Die Migranten bauen, auf gut Deutsch, Kacke.‘“ Deshalb | |
| spricht er mit Journalist:innen in seiner Bäckerei, Erol bietet Kaffee | |
| an. Er will für Neukölln werben. „Wie man’s besser machen kann, weiß ich | |
| nicht“, sagt Erol. „[3][Bildung! Das Problem ist, die Jungs besuchen hier | |
| oft Oberschulen], da sind die Lehrer überlastet. Dann haben die Schüler so | |
| nach zwei Stunden Schluss und dann lungern die halt hier rum und | |
| beschäftigen sich selbst.“ | |
| An der Bushaltestelle vor Erols Bäckerei steigen kurz vor dem Gespräch drei | |
| Jungs aus, schwarze Jacken, schwarze Caps. Am Boden finden sie einen | |
| Böller, mit einem Feuerzeug versuchen sie abwechselnd, ihn anzuzünden. Aber | |
| der Böller explodiert nicht. Jetzt bleibt es still in Neukölln. | |
| Schon lange vor Silvester ging das mit der Knallerei los, erzählt eine | |
| Rentnerin, die im Haus wohnt, vor dem der Bus gebrannt hat. Sie ist gegen | |
| das Böllern, auch wegen der Umwelt. „Das muss nicht sein.“ Seit drei Jahren | |
| wohnt sie hier, und ihr gefällt’s im Kiez. Die Diskussion über | |
| Migrant:innen und Gewalt findet sie unfair. „Ich glaube, man schmeißt | |
| alle Migranten in einen Topf. Und das ist nicht richtig.“ An Silvester | |
| selbst hat sie nicht viel mitbekommen – sie hat geschlafen. | |
| 5 Jan 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Oskar Paul | |
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| Franziska Giffey | |
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