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# taz.de -- Gewalt von Jugendlichen: Früher war mehr Silvester
> Halbstarke, Hausbesetzer, Hooligans: Deutschland hat viel Erfahrung mit
> jugendlicher Gewalt. Die Lehre: Repression allein hilft nicht weiter.
Bild: Frankfurt 1968: So handhabten das die Boomer aus urdeutschen Mittelschich…
Hunderte junger Männer greifen in der [1][Silvesternacht] Polizisten und
Feuerwehrleute mit Böllern und mit Schreckschusspistolen an. Dutzende
werden verletzt. Die Republik ist empört. Was führt zu dieser Enthemmung?
Warum sind von den Tätern so viele aus Familien mit Einwanderungsgeschichte
aus der Türkei und dem Nahen Osten? Liegt es am Islam? Oder doch an den
patriarchalen Familienstrukturen?
Für viele scheint ausgemacht, dass dieser Ausbruch von Gewalt gegen
Vertreter*innen der Staatsmacht eine bislang unbekannte Qualität und
Brutalität hat. Dieser Eindruck täuscht. Trotz der verstörenden Bilder und
Berichte aus der Silvesternacht gilt: Die Jugend in Deutschland war nach
1949 noch nie so friedlich, ruhig und duldsam wie in den letzten zehn
Jahren. Das ist keine steile These, das sind die harten Fakten. Sie werden
von jenen bestätigt, die es am besten wissen – den Versicherern im Land.
Sie haben den besten Überblick über die finanziellen Folgen körperlicher
Angriffe und Sachbeschädigungen über die Jahrzehnte.
Auf dieser objektivierten Grundlage von Versicherungsdaten könnte man auch
folgende Nachricht generieren: Migration macht die Gesellschaft
friedlicher! Je höher der Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund
in Deutschland wurde, desto weniger Gewalt gab es. Diese Schlussfolgerung
wäre allerdings ein ebensolcher Unfug wie die Islam- oder
Patriarchatsthese!
Vielmehr hat die Entwicklung mit der Vergreisung Deutschlands zu tun. Je
weniger Jugendliche es in einer Gesellschaft gibt, desto ruhiger und
friedlicher, man könnte es auch abgeschlaffter nennen, wird sie. Ruhe ist
das neue gesellschaftliche Normal. An diesen Zustand haben die Menschen
sich gewöhnt. Das ist nicht gut.
## Wenig Hemmungen
[2][Jungproletarisches Aufbegehren] gegen die Zumutungen des Lebens,
jugendliche Ungeduld, radikaler Protest und Grenzverletzung, politischer
Protest, konfrontatives Verhalten, Gesetzes- und Regelverstöße gehören zu
einer dynamischen Gesellschaft. Auf die Gegenseite gehören Erwachsene und
Institutionen, die Grenzen ziehen, Bestehendes bewahren, Bewährtes
verteidigen und auf der Durchsetzung gesellschaftlicher Normen und
Konventionen beharren. Diese dialektische Entwicklung, die Checks and
Balances sind ein Garant gesellschaftlicher Entwicklung. Wenn sie fehlen,
wird es modrig.
So ist das seit Generationen in modernen Gesellschaften – außer in
totalitären und den vergreisten. Werfen wir einen Blick zurück auf die
Jahrzehnte, als in diesem Land die Heranwachsenden noch zu nahezu 100
Prozent einen Kartoffelhintergrund hatten – also in die 1950er, 60er, 70er
und 80er Jahre. In all diesen Jahrzehnten war jugendliches Aufbegehren
immer auch mit Gewalt gegen Polizisten, Sanitäter und die [3][Feuerwehr]
verbunden. Nachzulesen ist das in unzähligen Berichten über
Halbstarkenkrawalle (Leipzig, München), Zerstörung von
Veranstaltungsstätten (Berliner Waldbühne), gewalttätigen
Studentenkrawallen (Berlin, Tegeler Weg) und einer Alternativ-, Autonomen-
und Hausbesetzerszene (Hamburg, Frankfurt, Berlin).
Die Letztgenannten hatten wenig Hemmungen, was Gewaltanwendung angeht:
Polizisten wurden immer wieder mit Zwillen (Stahlkugeln) beschossen, mit
Pflastersteinen und Molotow-Cocktails attackiert, von Dächern herab mit
Steinplatten beworfen (Berlin) und sogar erschossen (Frankfurt, Startbahn
West). Autos wurden verbrannt, Geschäfte geplündert. So handhabten das die
Boomer aus urdeutschen Mittelschichtsfamilien.
## Komplex, aber nicht so kompliziert
Vergessen scheinen auch die regelmäßigen Schlachten von Hooligans aus
mehrheitlich bildungsfernen Familien der Mehrheitsgesellschaft in den
Fußgängerzonen und Innenstädten in den 1980er Jahren. In den 1990er und den
Nuller Jahren rollte, ausgehend von den damals neuen Bundesländern, eine
völkische Jugendrevolte durch Deutschland. Jugendlicher Protest und
Aggressionen richteten sich erstmals nach 1945 nicht mehr gegen „die da
oben“, also staatliche Autoritäten, sondern wendeten sich primär gegen
Angehörige von Minderheiten und kosteten Hunderten das Leben.
Deutschland verfügt über hinreichend Erfahrungen im Umgang mit jugendlicher
Gewalt. Es gibt bewährte Konzepte der Prävention, Intervention und
Repression. Der Staat und die Gesellschaft haben entsprechendes Know-how in
Polizei, Justiz, Pädagogik, Kultur und Sozialarbeit angehäuft. Es
existieren übrigens auch ermutigende Beispiele von erfolgreicher
Reintegration von jugendlichen Gewalttätern und Protestmilieus in die
Gesellschaft.
Eine Lehre aus verganenen Erfahrungen lautet: Repression und markige
Sprüche alleine führen zu nichts. Jugendliche machen nicht nur Probleme,
sondern haben in der Regel auch welche. Und manchmal, das zeigen
internationale Studien aus London und anderswo, schafft unangemessenes
Polizeiverhalten gegen Minderheiten auch erst die Probleme, die es dann zu
lösen gilt. Es ist mitunter eben komplex, aber auch nicht so kompliziert.
Zu einer wirksamen Auseinandersetzung mit aufbegehrenden Jugendlichen
braucht es mehr als verbale Aufrüstung und Aufstockung der Polizeikräfte.
Es braucht für diese Jugendlichen und ihre Familien auch eine Wirtschafts-,
Wohnungs- und Arbeitsmarktpolitik – und Zukunftschancen, die diesen Namen
verdienen. Und es braucht Selbstwirksamkeitserfahrung für Jugendliche, die
konstruktiv sind und nicht so destruktiv wie in der Silvesternacht: Hier
werde ich wahrgenommen, hier gelte ich etwas, hier kann ich was bewegen. Wo
gibt es solche Erfahrungen und wo gab es diese in den Jahren der Pandemie?
Und wie wirken die globalen multidimensionalen Krisen auf welche Milieus?
Das alles sind Fragen, auf die es nun Antworten zu finden gilt.
6 Jan 2023
## LINKS
[1] /Integrationsbeauftragte-ueber-Silvester/!5903864
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[3] /Gewalt-an-Silvester/!5903865
## AUTOREN
Eberhard Seidel
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