# taz.de -- Sozialpsychologe über Gewalt an Silvester: „Einflussreich und m�… | |
> Die Exzesse in der Silvesternacht treiben Deutschland um. Solche Gewalt | |
> habe viel mit Lebensumständen und wenig mit Migration zu tun, sagt | |
> Andreas Zick. | |
Bild: Silvester in Berlin-Neukölln: ein Polizeifahrzeug beseitigt die Reste ei… | |
taz: Herr Zick, in der Silvesternacht gab es [1][zahlreiche Übergriffe auf | |
Polizei und Rettungskräfte], die Rede ist von einer neuen Dimension der | |
Gewalt. Sehen Sie das auch so? | |
Andreas Zick: Die neue Dimension gibt es bislang vor allem aus Sicht von | |
Rettungskräften und der Polizei. Sie haben erlebt, wie zum Teil mit | |
Vehemenz, zum Teil aus Raketenbatterien, feindseliger als zuvor auf sie | |
geschossen wurde. Wir müssen natürlich abwarten, bis alle Fakten vorliegen. | |
Aber neu erscheint mir schon, dass die Provokation und die Angriffe an | |
Silvester so massiv und so gezielt in bestimmten Stadträumen erfolgt sind. | |
Sie meinen, in sogenannten [2][sozialen Brennpunkten]? | |
Ja, wir haben an Silvester eine Art Straßenkampf erlebt, die wir bisher | |
nicht von Silvester kannten. Da spielen viele Faktoren eine Rolle. Es war | |
das erste Silvester nach Corona, auch war in diesem Jahr [3][besonders viel | |
Feuerwerk] im Spiel. Im Vorfeld war bereits klar, dass zum Beispiel in | |
Berlin-Neukölln geballert werden soll, das hat viele Leute auch aus anderen | |
Stadtteilen dort hingezogen. Ich würde raten, alle beteiligten Gruppen in | |
den Blick zu nehmen, durchaus auch Touristen. | |
Gewaltakteure sind dann besonders motiviert, wenn sie Aufmerksamkeit | |
bekommen. Dann spielen Alkohol und andere Drogen natürlich eine Rolle. Oft | |
hat die Gewalt bei solchen Ausbrüchen kein klares Ziel, Leute ziehen durch | |
die Gegend und machen Stress. Diese Gewalt wird, wie Jan-Philipp Reemtsma | |
mal gesagt hat, als Erlebnis, als pure Emotion erlebt. | |
Aber Silvester gab es eben auch bei einigen Gruppen das klare Ziel: Die | |
staatliche Ordnung wurde zurückgedrängt, Gruppen markieren einen Raum als | |
ihren. Das steckt dann andere Gruppen an, die meinen, diese Gewalt wäre | |
angesagt und sei ein Erlebnis. | |
Und was heißt das? | |
Die Gewaltsituation ist geprägt vom Denken: Das ist unsere Straße, das ist | |
unser Raum. Ein ähnliches Phänomen haben wir bei den Gewaltausbrüchen | |
während Corona in Frankfurt und Stuttgart erlebt, auch auf den | |
Coronaprotesten. Ganz heterogene Gruppen treffen sich, aber auf einmal gibt | |
es diesen Identifikationspunkt: Wir sind hier gemeinsam in unserem Raum und | |
lassen keine Ordnungskräfte zu. | |
In anderen Ländern war das ausgeprägter als in Deutschland, man denke zum | |
Beispiel an die Neighbourhood-Riots in Großbritannien in den 1980er Jahren. | |
An Silvester wird geböllert, es wird eng, ist stressig, dann werden die | |
ersten Raketen auf die Polizei geschossen. Das wird vor Ort als harmlos | |
wahrgenommen. | |
Es braucht eine Gruppe oder eine Person, die die Norm bricht, eine | |
vermeintlich ‚feindliche Gruppe‘ angreift und dann wird Gewalt zur Norm. | |
Wenn der Impuls dazukommt, das ist unser Raum, da haben andere nichts zu | |
suchen und so genannte Bystander nicht eingreifen, sondern sogar | |
applaudieren, dann wird die Eskalation immer stärker. | |
Nun kann man sich das Feindbild Polizei noch erklären, aber warum werden | |
Feuerwehr und Rettungskräfte angegriffen? | |
Sie werden nicht als Helfer, sondern als Staatsmacht gesehen und in einen | |
Topf mit der Polizei geworfen. Das Rettungsdienste als Störenfriede erlebt | |
werden, ist übrigens kein neues Phänomen. Das kann man auch bei | |
Großkonzerten erleben, wenn ein Rettungswagen im Blick steht oder wenn auf | |
der Autobahn eine Rettungsgasse gebildet werden soll oder Gaffer | |
weggeschickt werden. Da werden Helfer als störend empfunden. | |
Wir diskutieren die unterschiedlichsten Formen der Gewalt gegen | |
Rettungsdienste, Polizei, Ordnungskräfte seit Jahren. Im Übrigen werden ja | |
auch Journalist*innen und Kommunalpolitiker*innen vermehrt | |
angegriffen. | |
Wie erklären Sie das? | |
Vorurteilsbasierte Hasstaten haben in der Gesellschaft generell zugenommen | |
und auch die Akzeptanz, mit Aggression und Gewalt Ziele durchzusetzen. Das | |
ist nicht nur rein rechtsextrem oder rechtspopulistisch, im Zuge der | |
Coronarproteste haben Angriffe zum Beispiel auf die Polizei zugenommen. Die | |
Berliner Polizei hat entsprechende Zahlen veröffentlicht. | |
Dazu kommt, dass es weniger Zivilcourage gibt, also hilfreiches Verhalten | |
in Gewaltsituationen, sowie neue Formen der Gewaltkommunikation und | |
-verherrlichung. In Neukölln gab es ja zum Beispiel viele, die mit dem | |
Handy fotografiert und gefilmt haben, die diesen Kampf mit der Polizei ganz | |
belustigend fanden. Die gehören auch zum Gewaltszenario und müssen für eine | |
umfassende Analyse mitgedacht werden. | |
Zu denen, die selbst gewalttätig waren: Woher kommt diese enorme | |
Gewaltbereitschaft? | |
Nach allem, was wir bislang wissen, gibt es unterschiedliche Gruppen. Es | |
gab Vermummte, die wahrscheinlich Silvester als Gelegenheit gesehen haben, | |
den Kiez mit Feuerwerk aufzumischen. Dann gibt es die, in Partylaune, sie | |
haben Feuerwerk dabei, aber was auf den Plätzen stattfindet, reicht ihnen | |
nicht. Sie lassen sich vielleicht anstecken. Da muss nur einer was zünden | |
und dann sehen wir diese Kettenreaktion. | |
Dann gab es Gruppen, die aus den Kiezen kommen, mit und ohne kürzere oder | |
längere Migrationsgeschichte, aber mit einer gemeinsamen Identifikation als | |
Gruppe. Wenn das Ganze dann noch gefilmt wird, haben wir auch noch eine | |
Inszenierung dieser Gewalt. Das motiviert solche Gruppen zusätzlich. | |
Das ist noch keine Antwort auf die Frage, woher die Gewaltbereitschaft | |
kommt. Wer sind die Täter? Es werden ja Kriterien wie jung, männlich, | |
alkoholisiert genannt, dazu: wenig Bildung und oft aus Familien mit | |
Migrationsgeschichte. | |
Diese Faktoren stimmen oft, aber man muss sie sich sehr genau anschauen und | |
fragen, was sie bedeuten. Jung und männlich, das stimmt nach Angaben der | |
Polizei und das weiß man auch aus der Forschung, aber es darauf zu | |
reduzieren, reicht nicht. Da spielen natürlich auch Rollenklischees eine | |
Rolle, die auch von Frauen im Umfeld geteilt werden: Männer knallen, das | |
ist auch in vielen Familien so. Und natürlich wollen diese jungen Männer | |
auch ihre Männlichkeitsvorstellungen inszenieren, sie genießen es, wenn sie | |
dabei aufgenommen werden. | |
In migrantischen Gruppen kann das wichtiger sein, aber nicht alle haben | |
einen Migrationshintergrund, wir beobachten in der kriminologischen | |
Forschung viel stärker heterogene Gruppen. Häufig geschieht es in | |
Stadtteilen, die abgehängt oder prekär sind. Genau das wird mit Identität | |
aufgeladen. Das hat aber eher wenig mit Migration und viel mehr mit | |
Lebensverhältnissen und daraus entstehenden Identifikationen und | |
Zugehörigkeitsgefühlen zu tun. Wenn die Lebensverhältnisse schlecht sind, | |
dann ist diese Gewalt eine Gelegenheit, mal einflussreich, selbstbewusst | |
und mächtig zu agieren. | |
In Berlin sind Polizei und Feuerwehr zum Teil vor der Gewalt | |
zurückgewichen. Welche Folgen hat das? | |
Das ist einerseits natürlich fatal, weil die Erfahrung bleibt, dass man mit | |
Gewalt die Staatsmacht in die Flucht schlagen kann. Deshalb rufen jetzt ja | |
auch alle nach harter wie schneller Strafverfolgung. Aber man muss | |
natürlich auch anschauen, warum Polizei und Rettungsdienste zurückgewichen | |
sind. Sie haben ja nicht nur die Aufgabe, gegen Menschen vorzugehen, die | |
mit Feuerwerk auf andere zielen, sie müssen auch die Situation sichern und | |
jedem helfen und jeden schützen. Die Polizei wird dies aufarbeiten. | |
Die Dienste vor Ort wissen, dass die Strafverfolgung und Aufrüstung mit | |
Technik wie Bodycams nicht reicht, sondern ein umfassendes | |
Gewaltpräventionskonzept her muss. Wichtig ist dabei, was präventiv | |
geschehen ist. Gab es im Vorfeld szenekundige Ansprachen? Gab es Versuche, | |
den Raum anders zu organisieren? Es könnte aber sein, dass dieses | |
Zurückweichen als Erfolg gewertet und die Silvesternacht künftig als | |
Raumkampf inszeniert wird, wie das früher in Berlin beim 1. Mai der Fall | |
war. In Köln hatte man nach der Silvesternacht 2015 davor große Angst. | |
Was hat man unternommen? | |
Im nächsten Jahr hat man erst mal mit Racial Profiling reagiert, was | |
natürlich fatal war. Dann wurden wir von der Polizei um Rat gefragt, denn | |
sie war an Expertise aus der Forschung interessiert. | |
Was haben Sie geraten? | |
Wir haben einen Präventionsplan mit Polizei, Stadt, NGOs, Beratungsstellen | |
und vielen anderen entwickelt. Wir haben Alternativen zum traditionellen | |
Feuerwerksszenario in engen stressigen Räumen möglich gemacht. Wir haben | |
unabhängig von irgendwelchen Merkmalen und geschlechtersensibel Kontrollen | |
beim Zugang zur Domplatte eingereicht. Wir haben ein Event am Dom gemacht, | |
das hat geholfen, die Spirale zu durchbrechen. | |
Innerhalb weniger Tage ist aus einer Böllerverbotsdebatte mit Hilfe der | |
Union eine Debatte über Migration und Integration geworden. Ist das | |
hilfreich? | |
Nein, ganz im Gegenteil, das ist fatal, weil so ja nichts erklärt wird. | |
Debatten über einfache Zugehörigkeiten und reines Durchgreifen und | |
Bestrafen mögen in der politischen Debatte verständlich sein, aber Konzepte | |
müssen am Ende greifen und Prävention stärken. | |
Aber es geht offensichtlich auch um Integrationsprobleme. | |
Ja, aber was meint hier Integration und welchen Einfluss hat unter | |
Berücksichtigung aller anderen Einflussfaktoren die Migration? Schauen wir | |
uns also junge Männer, migrantischer Hintergrund, abgehängte Stadtteile an. | |
Das sind gleich drei soziale Kategorien – Herkunft, soziale Lage, | |
Geschlecht -, die wir zur Erklärung heranziehen. Wie hängen die zusammen, | |
wenn wir Gewalteskalationen in Gruppen erklären möchten? | |
Es geht, wie schon gesagt, vielleicht eher um die Lebensverhältnisse und | |
die Räume, an denen sich auch junge migrantische Männer orientieren. Wenn | |
man sich diese nicht genau anschaut, macht man fatale Erklärungsfehler. | |
Außerdem sind es meist Gruppentaten und die Gruppen sind eben viel | |
heterogener als die nationale Zugehörigkeit von jetzt festgestellten | |
Täterinnen und Tätern. So wie die Opfer auch heterogen sind. Bei Polizei | |
und Rettungsdiensten arbeiten ja auch Menschen mit Migrationshintergrund. | |
In den Stadtteilen, in denen die Gewalt eskaliert, werden jetzt Menschen in | |
Verdächtigungen hineingezogen. Diese voreiligen Diskussionen und einfachen | |
Kausalerkärungen befördern eher die Bildung radikaler migrantischer | |
Identitäten. Da wäre ich sehr vorsichtig. | |
5 Jan 2023 | |
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