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# taz.de -- Integrationsdebatte nach Silvester: Zurück in den Neunzigern
> Ein Staat kann sich nicht gefallen lassen, wenn Rettungskräfte
> angegriffen werden. Aber die Debatte über die Täter ist erschreckend
> verblödet.
Bild: Konservative wünschen sich angesichts dieser Bilder mehr Härte
Armes Deutschland. Da wollte es einfach wohlverdient ins neue Jahr
rüberrutschen und schon meldete sich die nächste Krise an. In sozialen
Brennpunkten in Berlin gab es [1][in der Silvesternacht Randale und
Attacken] auf Polizei- und Rettungskräfte. Das hat zu einer heftigen
Debatte geführt über, ja, äh, was eigentlich?
„Da geht es eher um ungeregelte Migration, gescheiterte Integration und
fehlenden Respekt vor dem Staat statt um Feuerwerk“, sagt der
stellvertretende Unionsfraktionsvorsitzende Jens Spahn und reiht sich ein
bei Konservativen und Rechten, die längst ihr rassistisches Narrativ
ausgepackt haben: das der gewaltbereiten Ausländer und Migranten. Hingegen
fehlt Teilen der Linken eine ernstzunehmende Erklärung. Die ersten Tage
sprachen die lieber vom Böllerverbot, weil Verbote ja so progressiv sind.
Konservative wünschten sich mehr Härte und Ordnung, träfen aber mit einem
Böllerverbot auch eigene Anhänger, und so weichen sie lieber aus und
fordern Debatten über Integration oder Einwanderung. Strategisch ist das
natürlich klug. So hat man gleich ein paar potentielle Wähler:innen
rechts der Mitte abgeholt. Seehofer, bist du’s? Scheiße, wir sind
versehentlich statt im Jahr 2023 zurück in den Neunzigern gelandet.
Weil die Randalen in Bezirken stattgefunden haben, in denen mehrheitlich
arabisch- oder türkischstämmige Menschen leben und die Täter, junge Männer,
also aus migrantischen Milieus kamen, sollen die Ausschreitungen einen
migrantischen Hintergrund haben, las ich häufiger.
## Faeser liegt richtig – und komplett daneben
Dabei erklärt sich der Hintergrund der Taten doch nicht mit der Herkunft
von Eltern oder Großeltern der Täter, [2][sondern mit Problemen, die sehr
nah sind und mitten in unseren Großstädten liegen]: Armut,
Perspektivlosigkeit, patriarchale Strukturen, fehlende Aufstiegschancen,
Rassismus.
Abgehängte junge Männer, Halbstarke, fühlen sich 364 Tage im Jahr machtlos
und abgelehnt und wollen an Tag 365 einmal Macht verspüren. Oder, wie es
die Neuköllner Integrationsbeauftragte Güner Balci in einem Interview mit
dem Spiegel etwas ehrlicher formulierte: „Es sind die hoffnungslos
Abgehängten, platt gesagt: absolute Loser.“
Wenn Innenministerin Nancy Faeser von „gewaltbereiten
Integrationsverweigerern“ spricht, liegt sie richtig und gleichzeitig
völlig daneben. Gewaltbereit waren die Täter, ja. Aber welcher Integration
sollen sich Heranwachsende verweigern, die hier groß geworden sind, in
ihrem Berlin, in dieser Gesellschaft, in Deutschland?
## Produkte ihrer Umwelt
Es kann nicht sein, dass wir uns als Gesellschaft erst verantwortlich für
diese Milieus fühlen, wenn es zu Problemen kommt. Würden weite Teile
unserer Gesellschaft anerkennen, dass auch diese jungen Männer Teil dieser
Gesellschaft sind und der Umgang mit ihrem Freidrehen somit Aufgabe dieser
Gesellschaft ist, könnten wir uns Integrationsdebatten zukünftig sparen.
Ihre Exzesse sind nicht nur das individuelle Ergebnis ihrer
Lebensentscheidungen, sondern von einer fehlgeleiteten Sozial- und
Jugendpolitik. Diese jungen Männer sind Produkte ihrer Umwelt. Oder wie
Bushido rappte: „Ihr habt mich erschaffen und jetzt guckt, wie euer
Weltbild umfällt“.
Natürlich kann sich ein Staat nicht gefallen lassen, dass Rettungskräfte
und Feuerwehrleute im Einsatz angegriffen werden. Straftaten müssen
angemessen verfolgt werden. Die Politik könnte aber dazulernen: und stärker
diejenigen unterstützen, die Probleme in sozialen Brennpunkten angehen.
Oder aber wir verbieten erst Böller, sperren später alle Migranten weg. Wem
dann noch nicht klar geworden ist, wie verblödet und rückständig diese
vermeintliche Debatte ist, der nimmt wahrscheinlich auch gerne brennende
Feuerwerkskörper in die Hand.
6 Jan 2023
## LINKS
[1] /Streetworker-zu-Silvesterrandalen-in-Berlin/!5903913
[2] /Sozialpsychologe-ueber-Gewalt-an-Silvester/!5903996
## AUTOREN
Erica Zingher
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
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Integration
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