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# taz.de -- Gesunde Ernährung: Warum Nahrungsstudien komplex sind
> Ernährungsstudien unterliegen nicht den Standards wie etwa Medizin.
> Dennoch ist die Ernährungsforschung auf dem Weg zu einer harten
> Wissenschaft.
Bild: Gesunde, ausgewogene Ernährung
Intervallfasten, grüne Smoothies, Haferkur – viele Menschen interessieren
sich für gesunde Kost. Laut einer Umfrage der Techniker Krankenkasse aus
dem Jahr 2023 finden neun von zehn Personen gesundes Essen wichtig oder
sehr wichtig. Doch woher erhalten die Menschen ihre
Ernährungsinformationen?
Eine Blitzumfrage im Bekanntenkreis: „Ernährst du dich nach den offiziellen
Empfehlungen?“ Zwei Antworten: „Nein, die ändern sich doch ständig.“ Od…
„Nein, die Wissenschaftler sind doch alle gekauft, ich folge da einem
tollen YouTuber.“ 60 Prozent der Menschen geben an, verunsichert zu sein,
was gesunde Ernährung angeht, liest man im Handbuch
Ernährungskommunikation.
Auch in der Wissenschaft wird die Ernährungswissenschaft teils als
„Ungefähr-Wissenschaft“ belächelt, die keine definitiven und unangreifbar…
Ergebnisse liefert. Der bekannteste Kritiker ist der Statistik-Forscher
John Ioannidis von der Stanford University. Er hat zum Beispiel zahlreiche
Lebensmittelstudien durchforstet und ist zu dem Schluss gekommen, dass es
eigentlich für alle Lebensmittel, auch für solche, die allgemein als gesund
gelten, wie zum Beispiel Gemüse, Studien gibt, die sie als krebserregend
darstellen. Demnach sei jedes Lebensmittel potenziell krebserregend.
Versagt hier also ein ganzer wissenschaftlicher Zweig?
Tatsächlich ist die Ernährungsforschung nicht ganz trivial. Man kann hier
nicht wie bei Pharmastudien der einen Probanden-Gruppe eine Pille mit
Wirkstoff verabreichen und der anderen ein Placebo. Auch eine Verblindung
ist kaum möglich, da die Studienteilnehmenden sehen, ob man Fleisch auf dem
Teller liegen hat oder Hülsenfrüchte. Und man kann auch niemandem zumuten,
zum Beispiel jahrelang auf Zucker zu verzichten, während man der anderen
Gruppe eine Zuckerdiät verordnet. So genannte
Randomisiert-kontrollierte-Studien (RCTs), die als medizinischer
Goldstandard gelten, sind daher in der Ernährungswissenschaft selten, wenn
es um „harte“ Endpunkte wie Typ-2-Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen
oder Krebs geht.
## Die Beobachtungsstudie
Dafür gibt es viele Beobachtungsstudien. Das heißt, dass Forschende sich
zum Beispiel die Ernährungsweisen einer bestimmten Gruppe ansehen und über
Jahre hinweg beobachten, ob und welche Leiden die Teilnehmenden entwickeln.
Diese Studienvariante gilt im Vergleich zu RCTs als weniger
vertrauenswürdig, da hier lediglich Korrelationen und keine
Ursache-Wirkungs-Beziehungen offen gelegt werden. „Allerdings bringen viele
dieser Beobachtungsstudien, egal ob aus den USA oder aus Europa, ähnliche
Ergebnisse, etwa dass gezuckerte Getränke das Risiko für Übergewicht und
Diabetes erhöhen“, sagt Matthias Schulze vom Deutschen Institut für
Ernährungsforschung. „Beobachtungsstudien wurden bislang unterschätzt“,
sagt auch Benedikt Merz, Wissenschaftler am Max Rubner-Institut (MRI).
Erst kürzlich erfolgte der Startschuss für eine großangelegte neue
Beobachtungsstudie, die Coplant-Studie, an der das MRI, das Bundesinstitut
für Risikobewertung (BfR) und auch diverse universitäre Partner beteiligt
sind. Dabei sollen rund 6.000 Teilnehmende rekrutiert und rund 20 Jahre
beobachtet werden. „Wir wollen mit der Studie eine Forschungslücke
schließen, da wir moderne vegetarische und vegane Ernährungsweisen auch in
verschiedenen Gruppen wie etwa bei Schwangeren oder Kindern untersuchen“,
sagt MRI-Studienleiter Merz.
Frühere Studien stammen vor allem aus den 1990er Jahren und bescheinigen
vegan und vegetarisch lebenden Menschen eine schlankere Linie, niedrigere
Blutfettwerte, weniger Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie
teilweise weniger Krebs. Dagegen leiden Veganerinnen und Veganer gemäß
dieser Studien häufiger an Osteoporose. Die erste Generation der
Pflanzen-Fans aß jedoch vor allem Hülsenfrüchte und Tofu, also wenig oder
gar nicht verarbeitete Lebensmittel.
Heute gibt es hingegen eine [1][Vielzahl an Ersatzprodukten für tierische
Lebensmittel] – egal ob Nuggets aus Pilzprotein, Wurst aus Erbsen oder
Milch auf Lupinenbasis. „Zwar kann man aus den Nährwertangaben ungefähr auf
das Gesundheitspotenzial schließen, aber ob die teils hoch verarbeiteten
und oft nährstoffarmen Produkte auf Dauer Krankheitsrisiken bergen, ist
derweil unklar“, sagt Merz. So limitiert etwa die Deutsche Gesellschaft für
Ernährung (DGE) in ihren Qualitätsstandards für die Verpflegung in Kitas
pflanzliche Ersatzprodukte für Fleisch und Fisch auf maximal 4 Portionen in
20 Verpflegungstagen. „Auch wenn die Produkte aus Pflanzen bestehen, die
als gesund gelten, kann man die daraus hergestellten Produkte nach
aktuellem Kenntnisstand nicht rundweg empfehlen“, sagt Merz. „Hier soll
unsere Studie Klarheit bringen.“
Damit die Studie möglichst gute Ergebnisse liefert, setzen die
Coplant-Wissenschaftler auch auf [2][Biomarker im Blut oder im Urin] der
Probanden. Damit kann man abschätzen, ob die Lebensmittelangaben
realistisch sind. Aus der Natriumausscheidung im Urin kann etwa die
Salzaufnahme zurück gerechnet werden. Denn auch die Erfassung der
Ernährung, was und wie viel gegessen wird, war lange ein Kritikpunkt.
Schließlich schummeln Menschen gerne etwa bei Zucker, Fettreichem oder
Alkohol. Für die Coplant-Studie wurde daher eine eigene App entwickelt, die
den Probanden dabei hilft, grammgenau den Speiseplan zu protokollieren.
„Ernährungsstudien werden kontinuierlich verbessert, und wir machen große
Schritte in die richtige Richtung“, sagt Matthias Schulze vom Deutschen
Institut für Ernährungsforschung (DlfE). Es ist dabei schon lange Standard,
Störvariablen wie Bewegung oder Raucherstatus herauszurechnen. „Heute
zeigen viele Studien, dass pflanzenbetonte Ernährungsweisen die Gesundheit
verbessern, unabhängig davon, ob Personen weniger rauchen oder mehr Sport
treiben“, sagt Schulze.
## Neue Empfehlungen
Neben dem geringen Wissenstand in Sachen pflanzliche Ersatzprodukte sind
auch soziale Faktoren in der Ernährungswissenschaft bislang kaum
beleuchtet. Auch hier will die Coplant-Studie Wissen schaffen.
DIfE-Forscher Schulze nennt eine personalisierte Ernährung als weiteres
wichtiges Forschungsfeld. „Wir vermuten, dass Lebensmittel je nach Genetik,
Mikrobiom oder auch Stoffwechsellage von Mensch zu Mensch unterschiedlich
wirken, sind aber weit weg davon, entsprechende Empfehlungen geben zu
können.“
Jürgen Meerpohl, Direktor von Cochrane Deutschland, einem ThinkTank, der
Übersichtsarbeiten zu medizinischen Fragestellungen erstellt, sieht
insbesondere noch methodische Lücken im Bereich großer, sorgfältig
geplanter und durchgeführter Ernährungsstudien, die über viele Jahre hinweg
beispielsweise die Auswirkungen von Milch und Milchprodukten auf
gesundheitliche Endpunkte untersuchen. Allerdings lobt er auch, dass sich
die Forschungsmethodik im Bereich von beobachtenden Studien in den letzten
Jahrzehnten weiterentwickelt habe. So würden zunehmend auch systematische
Reviews und Meta-Analysen im Ernährungsbereich durchgeführt, die die
gesamte Evidenzlage zu einer Fragestellung berücksichtigen.
Solche Reviews sind auch Grundlage für die Formulierung von
Ernährungsempfehlungen. Erst kürzlich hat die DGE ihre [3][neuen
Empfehlungen verkündet]. Im Vergleich zu vorher ist hier etwas weniger
Fleisch und Milch vorgesehen. Tatsächlich ändern sich die offiziellen
Ernährungsempfehlungen nicht ständig. Schon lange ist klar, dass mehr
Pflanzenkost und weniger Tierisches gesünder ist.
Wie entsteht dann der Eindruck widersprüchlicher Informationen? Laut den
Autorinnen des Handbuchs für Ernährungskommunikation weckten auch
Lebensmittelskandale und mediale Skandalisierungen ein Gefühl der
Verunsicherung. „Nur rund 11 Prozent der Medienbeiträge entsprechen der
tatsächlichen Evidenzlage“, schreiben die Wissenschaftlerinnen. Aber auch
selbst ernannte Ernährungsexperten verdienen mit ihren Sonderdiäten auf dem
Buchmarkt oder in Social Media Geld und verbreiten so Halbwahrheiten. Und
da sind grüne Smoothies oder Scheinfasten natürlich „more sexy“ als eine
Handvoll Nüsse täglich, wie sie die DGE empfiehlt.
Neben der wissenschaftlichen Beweislage orientieren sich Empfehlungen auch
immer an den kulturellen Gepflogenheiten. Und neuerdings werden auch
Nachhaltigkeitsaspekte berücksichtigt. Wer sich überwiegend von Obst und
Gemüse, Vollkorngetreide, Hülsenfrüchten, Nüssen und pflanzlichen Ölen
ernähre, schütze nicht nur seine Gesundheit, sondern auch die Umwelt, so
liest man bei der DGE. Dabei betont Anna Carolin Schäfer, die dem Referat
Wissenschaft der DGE angehört: „Empfehlungen führen nicht zu Verboten,
sondern können Orientierung bieten.“
2 May 2024
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## AUTOREN
Kathrin Burger
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