| # taz.de -- Abbauprodukte der Nahrung: Biomarker in Blut und Urin | |
| > Verzehrstudien sind ungenau. Blut- und Urintests sollen die | |
| > Ernährungsforschung verbessern. Abbau-Produkte im Körper zeigen, was es | |
| > zu essen gab. | |
| Bild: Nahrungsmittel hinterlassen Spuren im Körper | |
| München taz | Gestern galt Fett noch als verpönt, heute ist Zucker der | |
| Bösewicht, früher stand auch Kaffee auf dem Index, heute gilt er in Maßen | |
| genossen als gesund. Auch Obst wurde ohne Beschränkung empfohlen, heute | |
| merkt man, dass es eher das Gemüse ist, das vor Herzkrankheiten & Co | |
| schützt. Doch warum ändern sich die Empfehlungen aus der | |
| Ernährungswissenschaft so häufig? | |
| Ein Grund dafür: Lebensmittel sind hochkomplexe chemische Gebilde, deren | |
| Wirkung im Körper nicht vollends verstanden ist. Zudem spielen die | |
| Erbanlagen mit, wenn es darum geht, wie jeder Einzelne Nahrung | |
| verstoffwechselt. Ein dritter Grund sind die wenig verlässlichen | |
| Ernährungsbefragungen, die als Basis für epidemiologische Studien verwendet | |
| werden. | |
| Denn die Menschen lassen sich nicht gern auf den Teller schauen. „Essen | |
| wird als Privatangelegenheit angesehen“, erklärt Heiner Boeing, | |
| Epidemiologe am Deutschen Institut für Ernährungsforschung (Dife) das | |
| Dilemma seiner Zunft. Die Befragten schönen darum ihren Speiseplan, geben | |
| etwa an, lediglich eine Scheibe Wurst, anstatt zwei gegessen zu haben. | |
| Vor allem bei ungesunden Speisen wie Süßwaren, Chips und Alkohol sollen | |
| schätzungsweise 60 Prozent der Befragten nicht die Wahrheit sagen. Oder die | |
| Studienteilnehmer verändern ihre Gewohnheiten, wenn sie jede Mahlzeit | |
| protokollieren müssen. Diese Kandidaten zügeln sich dann beim Alkohol oder | |
| verzichten auf ihre tägliche Sahnetorte. Wird nach dem vergangenen Verzehr | |
| etwa im sogenannten 24-Stunden-Recall gefragt, spielt auch das Gedächtnis | |
| des Probanden eine Rolle. | |
| Die Fehlerquote bei solchen Ernährungsbefragungen ist entsprechend hoch. | |
| Sie kann bei bis zu 50 Prozent liegen. Das hängt auch davon ab, wen man | |
| befragt. Beispielsweise tricksen junge Menschen und Frauen eher als Männer | |
| und Senioren; Übergewichtige eher als Menschen, die sich mit ihrer Figur | |
| wohlfühlen. Zudem bereiten unregelmäßige und abwechslungsreiche Mahlzeiten | |
| Probleme. Schwierig ist es auch, Kinder oder alte Menschen zu befragen. | |
| Menschen aus sozial schwachen Verhältnissen lassen sich häufig gar nicht | |
| erst als Studienteilnehmer gewinnen. | |
| ## Schummeln wird schwierig | |
| Zumindest der Schummelei könnte die sogenannte Metabolomik einen Riegel | |
| vorschieben. Dabei werden Stoffwechselabbauprodukte und deren Menge in Blut | |
| oder Urin mithilfe der Massenspektroskopie erfasst. Forscher des Imperial | |
| College London haben aktuell einen Urintest entwickelt, der die | |
| Ernährungsweise der Probanden erstaunlich gut wiedergeben konnte, denn | |
| bestimmte Metabolite entstehen nur beim Verzehr von bestimmten | |
| Lebensmitteln. | |
| Dabei erhielten 19 gesunde Probanden abwechselnd vier verschiedene Diäten, | |
| abgestuft von „sehr gesund“ bis „ungesund“. Diese mussten die Teilnehme… | |
| der Klinik einnehmen, damit die Forscher sicher gehen konnten, was | |
| tatsächlich gegessen wurde. Anschließend mussten die Probanden über 24 | |
| Stunden Urinproben abgeben. Das Ergebnis: Die Forscher konnten sehr genau | |
| im Urin ablesen, welche der vier Diäten ein Proband verzehrt hatte. | |
| So deutete der Biomarker Hippursäure auf eine obst- und gemüsereiche | |
| Ernährung hin, Dimethylamin und Trimethylamin (TMAO) hatten die Fischfans | |
| vermehrt im Urin. Auch für Kohlgemüse, fetthaltigen Fisch und Hühnchen | |
| fanden die Forscher entsprechende Abbauprodukte. In einem weiteren Test mit | |
| fast 300 gesunden Probanden kontrollierten sie ihre Ergebnisse. | |
| In Zukunft könnte man also aufwändige, teure und obendrein unzuverlässige | |
| Befragungen durch solche billigeren Urintests ersetzen. „Wir können zwar | |
| noch nicht sagen, ob eine Person 15 Chips und 2 Würstchen gegessen hat“, | |
| sagt die Studienautorin Isabel Garcia-Perez. Allerdings könnte man den Test | |
| weiter verfeinern. | |
| Um die Gesamtheit der menschlichen Metabolite zu erfassen, speisen Forscher | |
| seit 2007 weltweit ihre Funde in die „Human Metabolome Database“ ein. Bei | |
| den Metaboliten handelt es sich nicht nur um Stoffwechselabbauprodukte, | |
| auch Substanzen, die Zellen oder Mikroben bilden, gehören dazu, von | |
| verschiedenartigsten Zuckermolekülen über Peptide oder Kofaktoren ist alles | |
| dabei. TMAO, das unter anderem auf Fischverzehr hinweist, kann etwa auch | |
| Darmbakterien aus Fleisch bilden. | |
| ## Zentrale Datenbank in Kanada | |
| In der kanadischen Datenbank sind derzeit 42.000 Stoffwechselprodukte | |
| katalogisiert – es könnten jedoch viel mehr sein. Allein in Lebensmitteln | |
| gibt es mehr als 25.000 Substanzen, die wiederum abgebaut werden. Letztes | |
| Jahr fand Tess Pallister vom King’s College in London 73 neue Stoffe, mit | |
| denen man etwa auf einen Speiseplan mit rotem Fleisch oder Pilzen schließen | |
| konnte. | |
| Auch Forscher der University of Oxford konnten anhand von Blutproben | |
| eindeutig Mischköstler von Veganern unterscheiden, da bei Pflanzenköstlern | |
| kaum Phospho- und Sphingolipide im Blut schwimmen. Das macht auch | |
| biochemisch Sinn, schließlich entstehen diese Metabolite nur bei der | |
| Verdauung von Fleisch und Eiern. | |
| In einigen großen Ernährungsstudien wie der „European Prospective | |
| Investigation into Cancer and Nutrition“ (Epic) wird die Metabolomik | |
| bereits angewandt, um Angaben der Teilnehmer zu überprüfen und so Aussagen | |
| über gesunde Ernährung zu verbessern. Zwar läuft die Studie bereits seit | |
| Ende der 1980er Jahre, die Forscher haben jedoch von 360.000 Teilnehmern | |
| Blutproben genommen und eingelagert. Heute können sie mit den neuen | |
| Techniken auf Biomarker gescannt werden. „Dies wird uns helfen, | |
| Krankheitsprozesse besser zu verstehen und Präventionsmaßnahmen zu | |
| entwickeln“, sagt Boeing, der die Dife-Studie leitet. | |
| ## Noch viele Fragen | |
| „Bislang gibt es jedoch noch viele offene Fragen“, räumt Lars Ove Dragsted, | |
| Ernährungswissenschaftler an der Universität Kopenhagen, ein. Etwa: Gibt es | |
| andere, vielleicht seltener verzehrte Lebensmittel, die die gleichen | |
| Metabolite kreieren und damit die Ergebnisse verzerren? Geben alle | |
| Varianten eines Lebensmittels die gleiche Biomarker-Antwort? Wann ist die | |
| beste Tageszeit, die Blutprobe zu sammeln? Wie soll man Fertigprodukte | |
| erkennen? | |
| Das Metabolom eines Menschen ist obendrein nicht nur abhängig vom | |
| Speiseplan, auch Gene beeinflussen, in welche Einzelteile ein Apfel | |
| letztlich zerlegt wird. Hier muss man also in verschiedenen Populationen | |
| prüfen, welche Biomarker möglichst unabhängig vom Genom entstehen. | |
| Bis man alle Puzzleteile zusammengefügt hat und Speisepläne möglichst genau | |
| überprüfen kann, wird also noch einige Zeit vergehen. Dragsted schätzt, | |
| dass es noch rund fünf bis zehn Jahre dauern wird. Das Britische | |
| Forscherteam um Garcia-Perez ist ambitionierter: Sie glauben ihre Urintests | |
| könnten bereits in zwei Jahren zur Verfügung stehen. | |
| Derweil wird mit anderen Methoden versucht, Verzehrstudien zu verbessern. | |
| Über entsprechende Apps können Teilnehmer etwa ihre Ernährung genauer | |
| erfassen. Anhand von Fotos können Forscher dann Mengen besser abschätzen. | |
| Ob die Probanden dann wirklich nur diese Portion gegessen haben, ist damit | |
| natürlich immer noch nicht gesagt. | |
| 17 Feb 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Kathrin Burger | |
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