# taz.de -- Frank Castorfs „Judith“ an der Volksbühne: Raffinierter Hass | |
> An der Volksbühne inszeniert Frank Castorf „Judith“ mit vielen | |
> Flaschengeistern. Eine fünfstündige Collage über Krieg, Religion und | |
> Moral. | |
Bild: Alles andere als kopflos: Martin Wuttke verkörpert Holofernes. | |
Der letzte Urheberstreit liegt ein Jahr zurück. Frank Castorf hatte in | |
seine Münchner Inszenierung von Brechts „Baal“ soviel Fremdtext eingebaut, | |
dass die Brecht-Erben das Stück nicht mehr wiedererkannten. | |
Der Verlag erstritt vor Gericht die Absetzung. Zuletzt lief diese | |
„Baal“-Vorstellung im Mai beim Berliner Theatertreffen, legendär, weil die | |
Schauspieler als Akt des Widerstands papiergefüllte Kartons auf den Tisch | |
wuchteten und mit Anspielungen nicht sparten. | |
Textverschneidung, Metaebenen, besondere Schauspielerauftritte – das zieht | |
sich als work in progress durch Castorfs Inszenierungen, und nun hievt er | |
an der Berliner Volksbühne mit „Judith“ frei nach Friedrich Hebbel einen | |
gefühlt wieder hochgewichtigen Brocken auf die Bühne. | |
Fünf Stunden Collage über Krieg, Religion und Moral. Über Tempel in Homs, | |
Sonnenkulte und Mann-Frau-Dualismus. Auch der Bühnenraum, noch konzipiert | |
von Bert Neumann, türmt die Sitzsäcke aus Castorfs letzter Inszenierung zu | |
einem Berg auf, mit Beduinenzelten und Wasserquelle – Tummelplatz für eine | |
ausufernde Orientbefragung. | |
## Ambitioniertes Flackern | |
Die Schauspieler sprechen via Leinwandübertragung direkt ins Publikum. Als | |
sollte sich die demagogische und dämonische Wirkung damit besser entfalten | |
und überspielen, dass so mancher Argumentationsfaden abreißt. Im Kräftefeld | |
aus Macht, Religion und Krieg bewegen sich die Figuren, entlangerzählt am | |
„Judith“-Mythos jener Frau, die den gegnerischen Heerführer Holofernes | |
tötet, um das Volk Israels zu befreien. | |
Alles an dieser Inszenierung ist ambitioniert, musikalisch untermalt wie in | |
einem Historienfilm, mit Lagerfeuerflackern und Kunstnebel. | |
Pathetisch-unbedingt der Ton, wild mäandernd zwischen Artauds Texten über | |
den römischen Kaiser Heliogabal und Diskussionen über die radikale Kraft | |
des Hasses. | |
Martin Wuttke spielt den Holofernes als verschlagenen Aufrührer, der seinen | |
Willen über alles andere stellt. Nur die Macht Gottes bringt ihn ins | |
Zögern. Kurz vor der nächsten Eroberung, zurückgezogen in Gemächer auf der | |
Hinterbühne, kommt auch dieser Feldherr ins Grübeln, ob es die Furcht vor | |
der Strafe Gottes oder der Glaube an ihn ist, der den Krieg treibt. | |
Die Frau, deren Volk er belagert, ist nicht minder fanatisch: „Weil ich | |
hasse, fordere ich das Undenkbare“, beschließt Judith den Mord. Birgit | |
Minichmayrs und Martin Wuttkes Zusammenspiel ist intensiv. Man staunt, was | |
sie an Textmengen körperlich machen, wie sie dennoch aufdrehen, wenn sich | |
im Finale alles mit Glamour auflädt. | |
## Wilder Denkdiskurs | |
Wuttke trägt nun einen Glitzeranzug, denn der mächtigste Mann ist nun mal | |
in Gold gekleidet und kostet es aus zu philosophieren, bevor es ernst wird. | |
Minichmayr im Paillettenkleid führt ein echtes Kamel über die Bühne – die | |
stärkste Szene. | |
Mit ihrer dazugewonnenen Verführungskraft bricht endlich eine raffinierte | |
widerständige Haltung durch: zur Männer- und Kriegswelt, zum Stoff, zur | |
eigenen Rolle, mit Holofernes erst eine Nacht verbringen zu müssen, um ihm | |
den Kopf abzuschlagen. | |
Über weite Strecken verläuft sich der Abend in einem wilden Denkdiskurs | |
über vorchristliche Kulte, Gottes-Ideen, der Gespaltenheit aller großen | |
Ideen, exzessiven chorischen Debatten über Ursprünge allen dogmatischen | |
Handelns. | |
Man ahnt, dass die Inszenierung in Bereiche vordringen will, aus denen sich | |
islamischer Fundamentalismus speist, zum Glück ohne Bezug zu aktuellen | |
Ereignissen. Lauter offene Fragen, durch die alle durchmüssen, so die | |
Botschaft. | |
Ausufernd, erschöpfend, anstrengend – das lässt sich über so manche | |
Castorf-Inszenierung sagen. Ihre Zumutung ist auch hier ihr Faszinosum, es | |
lohnt sich, dafür hinzugehen. Und so einfach darf auch Judith nicht am Rad | |
der Geschichte drehen. Sie köpft ihn, doch in der nächsten Szene grinst er | |
schon wieder diabolisch lebendig – so einfach lassen sich Diktatoren nicht | |
aus der Welt schaffen. | |
21 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Simone Kaempf | |
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