| # taz.de -- Kolumne Bestellen und Versenden: Nach der Blockadepolitik | |
| > Unmöglich für Kulturinteressierte, sich zur Berliner Volksbühnen-Frage | |
| > nicht zu positionieren. Eventkultur? Gerne, wenn man sie mit Žižek | |
| > versteht. | |
| Bild: Was wird hier gespielt? | |
| Im politischen Raum wollen wir keine Wahrheiten hören, sondern Meinungen. | |
| Die einzig wahre, alternativlose Regierungs- und Gesellschaftsform kann | |
| schließlich niemand wollen. „All governments rest on opinion“, heißt es in | |
| den Federalist Papers, dem Gründungstext der US-amerikanischen Demokratie. | |
| Der deutsche Kulturpessimist sieht das anders, er ist angeekelt vom bloßen | |
| Meinen und sehnt sich nach Autorität. So ließ etwa neulich [1][Ulrich | |
| Greiner in der Zeit in einem Text über den „Lärm um nichts“ auf Facebook] | |
| einen denkwürdigen Satz fallen: „Der wahrhaft Weise, so glaube ich, wäre | |
| meinungslos.“ Leute wie Ulrich Greiner wollen nicht erkennen, dass es in | |
| einer demokratischen Öffentlichkeit so etwas wie Wahrheit gar nicht geben | |
| kann, ohne diese Öffentlichkeit selbst zu zerstören. | |
| Meinungen: nichts als Lärm? In der Berliner Theaterdebatte würde man sich | |
| einen weisen Philosophenkönig allerdings durchaus wünschen, allein um | |
| selbst keine Meinung haben zu müssen. Unmöglich ist für jeden | |
| Kulturinteressierten, ohne Position in der „Castorf oder Dercon?“-Frage zu | |
| bleiben. | |
| ## „Frank Castorf ist Stalin“ | |
| Auch ich suchte verzweifelt nach meinem persönlichen Wording und erinnerte | |
| mich dabei daran, wie mir vor Jahren – ich war gerade neu in Berlin – ein | |
| heute bekannter Kurator die Volksbühne erklärte. „Frank Castorf ist Stalin, | |
| und die Volksbühne ist sein Körper“, meinte der Kurator damals | |
| meinungsstark. Während der erhitzt und teilweise paranoid geführten Debatte | |
| ging mir deshalb eine feuilletonistische Großthese durch den Kopf. | |
| Der Berliner Theaterstreit, das ist der finale Kulturkampf zwischen dem | |
| Totalitären und dem Vernetzten. Meine Gedanken fühlten sich ein bisschen | |
| wie Byung-Chul Hans heiße Luft an. Und weiter: Hinter der Angst vor dem | |
| „neoliberalen“ Kuratoren Chris Dercon steckt nichts anderes als die Angst | |
| vor dem „horizontal leaderhip“, wie Dercon seine Arbeitsweise in der Zeit | |
| nannte. Dercon verfüge über ein „umfangreiches Telefonbuch“, hat sein | |
| Fürsprecher Matthias Lilienthal ja im Radio gesagt. Wobei die | |
| putzig-analoge Metapher des „Telefonbuchs“ den smarten Leader wohl weniger | |
| bedrohlich erscheinen lassen sollte. | |
| Ganz im Sinne der Kulturkampflogik sagte mir ein befreundeter Theaterfan, | |
| die schroffe Ostigkeit der Volksbühnen-Belegschaft verhindere, dass sich | |
| dort Kulturschleimer und eine streberhafte „Obristerei“ breitmachen | |
| könnten. Dercon hat dieses Blockadeimage der Volksbühne gut verstanden. | |
| Bei der entscheidenden Pressekonferenz vor ein paar Wochen sagte er, er | |
| wolle für „Unterbrechung“ sorgen, was man als seine avancierte Lesart der | |
| charmanten Kommunikationsverweigerung im Ex-DDR-Milieu deuten kann („Wat | |
| wolln Se?“ – „Ham wa nich!“). | |
| Die Grenzlinien sind so eindeutig nicht, und die wenigen guten Texte zur | |
| Debatte wiesen denn auch auf die vielen Pseudodichotomien und falschen | |
| Feindbilder hin: Ensemble vs. Event, Substanz vs. Hülle, Tradition vs. | |
| Trends, Smartness vs. Idiosynkrasie etc. War und ist die Volksbühne unter | |
| Castorf nicht immer zugleich das Gegenteil ihrer selbst gewesen? Natürlich | |
| wäre die Wahl zwischen „Stalin“ und dem „Mann mit dem umfangreichen | |
| Telefonbuch“ nicht weniger falsch. So wie der Vernetzungsimperativ | |
| totalitäre Effekte haben kann, so war auch der Stalinismus gut vernetzt | |
| (Stichwort „Satellitenstaaten“). | |
| ## Was ist ein Ereignis? | |
| Man wird jedenfalls den Eindruck nicht los, dass mit den Verbalattacken auf | |
| Dercons angeblichen „Neoliberalismus“ und „Thatcherismus“ längst verlo… | |
| politische Kämpfe nachträglich auf dem kulturellen Terrain ausgefochten | |
| werden sollen. Die Volksbühne – so die Hoffnung in dieses Reenactment – | |
| solle doch bitte als letzte Bastion gegen die deregulierenden Eroberer | |
| Widerstand leisten. | |
| Wobei der böse Investor nunmehr als das fantasmatische Feindgebilde des | |
| Kurators in Erscheinung tritt. Um im Vokabular seiner Gegner zu bleiben: Es | |
| bleibt zu hoffen, dass Dercon tatsächlich die befürchtete „Eventkultur“ | |
| mitbringt, und zwar im Sinne einer emphatischen Ereignishaftigkeit. Das | |
| Ereignis, so Slavoj Žižek in seinem kürzlich erschienenen Buch „Was ist ein | |
| Ereignis?“, sei ein „Effekt, der seine Gründe übersteigt“, und bewirke | |
| „eine Veränderung des Rahmens, durch den wir die Welt wahrnehmen und uns in | |
| ihr bewegen“. Den diversen Kulturkämpfern täte eine solche Irritation | |
| sicherlich ganz gut. | |
| 13 May 2015 | |
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| [1] http://www.zeit.de/2015/18/facebook-hymne-antwort-ulrich-greiner | |
| ## AUTOREN | |
| Aram Lintzel | |
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