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# taz.de -- Kolumne Bestellen und Versenden: Der prekäre Hamster
> „Nein! Nein! Nein!“: Über den Twitter-Aphoristiker Eric Jarosinski, die
> Politik der Verweigerung und die Metapher des Hamsterrads.
Bild: Klare Botschaft.
Im Rahmen des Festivals „Pop-Kultur“ stellte neulich der Aphoristiker Eric
Jarosinski sein Buch „Nein. Ein Manifest“ im Berliner Berghain vor. Für
Social-Media-Absentisten: Jarosinski ist ein in Deutschland lebender
US-amerikanischer Philosoph und fröhlicher Kulturpessimist, der als
[1][“Nein Quartely“] beziehungsweise „Nein“ sehr erfolgreich twittert u…
dabei ein „Kompendium der utopischen Negation“ liefern will.
Während die Künstlerin und Musikerin Michaela Meise die Buchpräsentation am
Akkordeon einleitete, rief mein einjähriger Sohn plötzlich unvermittelt und
dringlich „Nein! Nein! Nein!“. Im selben Moment betrat Herr „Nein Quartel…
die Bühne, unfreiwillig angekündigt von Kinderschreien. Die etwa hundert
Besucher lachten laut und applaudierten begeistert, während ich mich
schweißgebadet mit meinen inzwischen zu zweit brüllenden Kindern in die
hinteren Reihen verdrückte.
Für den Nachwuchs war dies nicht nur der erste öffentliche Auftritt,
sondern wohl auch die erste Begegnung mit den perfiden Mucken des
Kapitalismus. Selbst eine eindeutige Geste der Verweigerung wurde umgehend
von der Aufmerksamkeitsökonomie vereinnahmt. Besucher der Veranstaltung
verwerteten das Ereignis umstandslos und jagten es begeistert in die
digitalen Netzwerke. So nahmen sie diesem infantilen Akt der abstrakten
Negation seine singuläre Ereignishaftigkeit. Schon klar: Nichts anderes tue
ich mit dieser Kolumne.
## Bartleby muss herhalten
„Es ist nicht schwer, Nein zu sagen. Es ist schwer, es richtig zu sagen.
Zur richtigen Zeit. Aus den richtigen Gründen“, schreibt Eric Jarosinski
gleich zu Beginn seines Buches. Offenbar gibt es derzeit gute Gründe zum
Neinsagen, denn wir erleben so etwas wie die dritte Welle des „I would
prefer not to“. Während diese berühmte Formel aus Herman Melvilles
Erzählung „Bartleby der Schreiber“ Anfang der nuller Jahre in
Theaterprogrammheften zu Tode zitiert wurde und zuletzt 2013 bekennenden
Wahlverweigerern wie Harald Welzer als Legitimationsquelle diente, hat nun
eine jüngere Generation die höfliche Verweigerung neu für sich entdeckt.
Ein Kollektiv, das sich „Haus Bartleby“ nennt, hat unter dem von Tocotronic
geborgten Titel „Sag alles ab!“ ein Buch veröffentlicht, das „Plädoyers…
den lebenslangen Generalstreik“ versammelt. Darin werden die aktuellen
Möglichkeiten, Nein zu sagen, ohne sich umzubringen, ausgelotet.
Die Diagnose des kapitalistischen Status quo fällt deprimierend aus, und
nur ein großes, überdeterminiertes Nein – eben der „lebenslange
Generalstreik“ – scheint noch eine Option zu sein. „Wir werden uns nicht
schon wieder zu Vollstreckern eines schleichenden Zivilisationsbruchs
machen, von dem nachher wieder mal niemand was gewusst haben will“,
schreiben die Herausgeber in der Einleitung nicht ohne Pathos in Anspielung
auf den Holocaust. Ziel müsse es deshalb sein, das kapitalistische
„Hamsterrad“ zu verlassen und Karrieren zu verweigern.
Ich frage mich allerdings, ob das „Hamsterrad“ die richtige Metapher ist.
Passt sie nicht eher für fordistische als für postfordistische
Verhältnisse? Monotones Malochen dürfte das Leben der jungen AutorInnen des
bei Nautilus erschienenen Bandes kaum bestimmen, eher wohl der übliche
Stress, immerzu kreativ sein zu müssen. Übersehen wird so außerdem, dass
auch die Bosse längst damit beschäftigt sind, hamsterradhafte Routinen
aufzubrechen. Bei jeder Schulung geht es heute darum, die Mitarbeiter aus
der sogenannten Komfortzone zu reißen.
## Ein nöliges „Nö“ tut’s auch
In der Augustausgabe des Wirtschaftsmagazins brand eins – Titelthema:
„Macht blau!“ – sagt der Management-Berater Reinhard Sprenger: „Das Wes…
der Ökonomie ist das kluge Lassen, nicht das Machen. Autonomie im
Management ist die Kraft des Nicht-Machens.“ Bartleby goes neoliberal. Über
diese ökonomische Optimierung des „Lieber nicht“ hätte man im „Haus
Bartleby“ durchaus nachdenken können, anstatt das Absagen bloß abzufeiern.
Trotzdem gibt es einige lesenswerte Texte, das Highlight ist ein Interview
mit den Schülern Carlotta und Juri Assmann. Auf die Frage, was sie mache,
wenn Mama ins Zimmer komme und sagt, sie solle etwas Bestimmtes tun,
antwortet Carlotta: „Dann sage ich meistens einfach ‚Nö‘.“ Es müssen …
immer große Gesten sein, ein nöliges „Nö“ tut es auch. Wer „Nö“ sag…
selbst aufs Nichtstun keinen Bock. „Nö“ geht immer, es ist das
lustlos-pubertäre Passepartout der Negation, und dank der Lektüre von „Sag
alles ab! Plädoyers für den lebenslangen Generalstreik“ weiß ich nun,
welche Streikformen ich in einigen Jahren von meinen Kindern zu erwarten
habe.
8 Sep 2015
## LINKS
[1] https://twitter.com/neinquarterly
## AUTOREN
Aram Lintzel
## TAGS
Peter Sloterdijk
Claude Lanzmann
Flüchtlinge
Berliner Volksbühne
Slavoj Zizek
Islamophobie
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