# taz.de -- Kolumne Bestellen und Versenden: Genozidal, am genozidalsten | |
> Das neue Buch von Timothy Snyder stellt die Singularität des Holocausts | |
> in Frage. Dem kann man nur begegnen, indem man auf der | |
> Unvergleichlichkeit beharrt. | |
Bild: Der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder und sein Buch „Black Ear… | |
Ab Januar wird „Mein Kampf“ wieder auf dem Markt sein. Und auch der | |
Holocaust lässt angeblich nicht mehr lange auf sich warten. In seinem neuen | |
Buch „Black Earth: Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann“ | |
befürchtet der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder das Schlimmste. | |
„In einem Massenmordszenario, das an den Holocaust erinnert, könnte die | |
Regierung eines Industrielands die panische Angst vor schwindenden | |
Ressourcen ausnutzen oder auslösen und präventiv handeln, indem sie eine | |
bestimmte Menschengruppe zur Ursache eines ökologischen Problems erklärt“, | |
prognostiziert Snyder. | |
Snyder ist nicht allein. Das Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) | |
schreibt auf seiner Internetseite: „Das ZPS narrativiert eine Chronik des | |
21. Jahrhunderts, in der sich zwei Völkermorde in Afrika und Asien | |
ereignen, die die Ereignisse des Holocausts in den Schatten stellen und die | |
westliche Zivilisation (wieder einmal) völlig unvorbereitet treffen.“ Und | |
weiter im apokalyptischen Superlativ: „Das ZPS geht davon aus, dass das 21. | |
Jahrhundert das genozidalste Jahrhundert in der Weltgeschichte werden | |
wird.“ | |
Genozidal, genozidaler, am genozidalsten. Wie das ZPS stellt auch Snyder | |
die bleibende Singularität des Holocausts in Frage. Ihm rechten | |
Revisionismus vorzuwerfen, wie es nach Erscheinen seines Buches | |
„Bloodlands“ einige Kritiker getan haben, geht wohl zu weit – gleichwohl | |
behauptet Snyder im Namen der wissenschaftlichen Redlichkeit, dass der | |
Holocaust durch Auschwitz „mythologisiert und reduziert“ werde. | |
Um seine beängstigenden Szenarien publikumswirksam „Holocaust“ nennen zu | |
können, plädiert er dafür, den „Ausnahmeort“ Auschwitz nur noch als | |
Nebenaspekt zu betrachten und die Lebensraum-Politik in Osteuropa in den | |
Mittelpunkt zu rücken. „Man spricht in Deutschland viel von Lagern, obwohl | |
diese wenig mit dem Holocaust zu tun haben“, sagt Snyder in einem | |
Welt-Interview. Würde er das so einem Überlebenden ins Gesicht sagen? | |
## Holocaust: Absolutes Ereignis der Geschichte | |
Snyders Gedankenexperimente sind sicherlich bedenkenswert und das Konzept | |
der „ökologischen Panik“ hat durchaus Plausibilität. Warum aber fragwürd… | |
historische Vergleiche? Der Holocaust wird bei Snyder zum Passepartout für | |
alle möglichen Genozide. „Täglich droht ein Holocaust“, überschrieb Spie… | |
Online treffend eine Besprechung von Snyders Buch. Gilt es nicht daran | |
festzuhalten, dass es sich um ein „absolutes Ereignis der Geschichte“ | |
handelt, wie Maurice Blanchot in „Die Schrift des Desasters“ schrieb? | |
Angesichts der Beliebigkeit in Snyders Wortgebrauch kommt es zupass, dass | |
jetzt ausgewählte Texte von Claude Lanzmann auf Deutsch erschienen sind. In | |
dem Band „Das Grab des göttlichen Tauchers“ findet sich auch der Aufsatz | |
„Vom Holocaust zu ‚Holocaust‘ oder wie man sich seiner entledigt“. Darin | |
bezeichnet der Regisseur von „Shoah“ die Judenvernichtung als „das | |
Unvergleichliche […], eben das, wodurch das Geschehen schrecklicher gewesen | |
ist als alle bisher begangenen und künftig zu begehenden Verbrechen“ | |
Während Snyder an die Möglichkeit einer chronologischen Erzählung von den | |
Massakern zu den Vernichtungslagern glaubt, lässt sich der Holocaust für | |
Lanzmann, Blanchot und andere französische Intellektuelle wie Vladimir | |
Jankélévitch oder Sarah Kofman nur von den Vernichtungslagern her denken. | |
Und während Snyder in „Black Earth“ die „Staatszerstörung“ in Osteuro… | |
maßgebliche Bedingung der Möglichkeit betrachtet, wendet sich Lanzmann | |
gegen ein solches Denken in Voraussetzungen. | |
## Metaphysisches Verbrechen | |
„Zwischen den die Auslöschung herbeiführenden Gründen und dem | |
Vernichtungsakt selbst – der Tatsache des Mordens – besteht ein | |
Kontinuitätsbruch, eine Kluft, ein Sprung, ein Abgrund“, so Lanzmann. Es | |
handele sich um ein „metaphysisches Verbrechen“. Ist das wirklich | |
mythologisierendes Denken, wie Snyder möglicherweise entgegnen würde? | |
Sicher gehörten die Massaker in Osteuropa und die Lebensraum-Ideologie zum | |
Holocaust dazu. Die Singularität, die sich nicht in Millionen Ermordeten | |
quantifizieren lässt, gerät in Snyders Perspektivwechsel jedoch in | |
Vergessenheit. | |
Die industriell organisierte Vernichtung, die Dehumanisierung der | |
sogenannten Muselmänner, die Perfidie, mit der die „Sonderkommandos“ zur | |
Kooperation genötigt wurden und die völlige Verlassenheit der Juden machen | |
das Unvergleichliche aus. Gegen den Historiker, der seine Vorhersagen | |
publikumswirksam dramatisiert, gilt es darauf zu beharren, dass es den | |
Holocaust immer nur im Singular gegeben haben wird. Selbst dann, wenn | |
Snyders Massenmord-Szenarien alle wahr werden sollten. | |
10 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Aram Lintzel | |
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