# taz.de -- Kolumne Bestellen und versenden: Die Widersprüche Europas | |
> Wer sich heute an Vernunftkritik versucht, wird oft als | |
> Terroristenversteher geschmäht. Doch es gibt Hoffnung für linke | |
> Rationalismuskritiker. | |
Bild: Wer die westliche Rationalität kritisiert, muss noch lange kein Terroris… | |
Alternative für Deutschland, die Alternative für rechte Vernunftkritiker. | |
AfD-Sprecher Konrad Adam bedauerte kürzlich in der Zeitschrift des | |
Deutschen Kulturrats den Sieg der Vernunft über das deutsche Gemüt und fand | |
einen alten Gewährsmann: „Hans-Jürgen Syberberg, der große Unangepasste, | |
hat einmal darüber geklagt, dass die Deutschen in der freiwilligen | |
Selbstaufgabe ihrer schöpferischen Irrationalität, ’und vielleicht einzig | |
hier‘, den Krieg verloren hätten.“ | |
Hans-Jürgen Syberberg? Lange hatte ich an den nicht mehr gedacht und | |
erinnerte mich dann daran, wie ich Anfang der neunziger Jahre eine Kölner | |
Veranstaltung des Hitler-Verbrämers mit Trillerpfeifen gestört hatte. Es | |
ging damals darum, die Kritik der westlichen Vernunft gegen Reaktionäre – | |
etwa die Bataille-Fans aus dem Matthes-&-Seitz-Umfeld – zu verteidigen. | |
Vernunftkritik sollte ein linkes Projekt bleiben, Macht-Wissen, | |
Dezentrierung, Orientalismus etc. hießen die Kampfbegriffe, die dazu | |
dienten, die behauptete Autonomie und Unschuld der okzidentalen | |
Rationalität infrage zu stellen. | |
Und heute? Dank Querfront-Antiimperialisten, Dschihadisten und | |
antiwestlichen Neo-Geopolitikern hat Vernunftkritik in der öffentlichen | |
Wahrnehmung jedes emanzipatorische Image verloren. | |
## Die falsche Wahl zwischen der einen Ratio und dem irrationalistischen | |
Irrsal | |
All die tristen Gestalten der Vernunftkritik erzwingen in der öffentlichen | |
Debatte die falsche Wahl zwischen der einen Ratio und dem | |
irrationalistischen Irrsal. Wer Zweifel an der okzidentalen Vernunft | |
äußert, steht schnell unter Verdacht, ein Terroristenversteher zu sein. Mit | |
dieser erpresserischen Weltsicht tut sich besonders der französische Autor | |
Pascal Bruckner hervor, der schon vor Jahren einen europäischen | |
„Schuldkomplex“ ausmachte und seit den Pariser Anschlägen jede Kritik an | |
Europa als „Linksislamismus“ diffamiert. | |
Hinter dem Selbstzweifel stehe ein Hang zur Selbstgeißelung, so Bruckner, | |
dabei sei der europäische Kolonialismus doch so schlimm gar nicht gewesen. | |
Andere instrumentalisieren den Dschihadismus ganz unverfroren, um linke | |
Kapitalismuskritiker aus der Kommunikationsgemeinschaft zu verbannen. | |
Die Frankfurter Soziologen Martin Altmeyer und Martin Dornes schrieben | |
neulich in der FAZ: „Im Grunde predigen die Kritiker, als ob sich das Rad | |
der Weltgeschichte zurückdrehen ließe, immer noch den Aufstand […] der | |
kulturell Beleidigten gegen die kolonialistische Kultur des Westens. Ganz | |
ähnlich argumentierte übrigens Bin Laden, als er im Namen eines angeblich | |
zutiefst gedemütigten Islams vor versammeltem Weltpublikum der westlichen | |
Lebenswelt den Krieg erklärte.“ | |
## Die Errungenschaften von Postmoderne | |
Natürlich bleibt die Kritik der verkürzten Kapitalismuskritik ebenso | |
wichtig wie die Kritik am linken Bonding mit Putin für antimoderne Zwecke. | |
Doch allzu oft, wenn in diesen Tagen im Namen der puren Vernunft geredet | |
wird, ist eine versteckte Agenda am Werk. Die Errungenschaften von | |
Postmoderne, Poststrukturalismus und Cultural Studies sollen als regressiv | |
denunziert und entsorgt werden. | |
Wenn der russische Schriftsteller Boris Schumatsky in der Zeit völlig zu | |
Recht die linken deutschen Putin-Freunde attackiert, geht auch das nicht | |
ohne pauschales Postmoderne-Dissing: „Die neue Gegenaufklärung“, so | |
Schumatsky, „setzt das postmoderne Denken in politische Praxis um, sie | |
macht Gesinnung zur Wahrheit.“ Wer verschiedene Rationalitäten statt die | |
eine substanzielle Vernunft voraussetzt, gilt also ab sofort als | |
Gesinnungsdepp – als hätte es Foucault, Derrida und die Kämpfe gegen den | |
„From Plato to Nato“-Kanon nie gegeben. | |
Doch es gibt Hoffnung: Auf allen Büchertischen, sogar in | |
Bahnhofsbuchhandlungen und bei Karstadt, ist derzeit Achille Mbembes Buch | |
„Kritik der schwarzen Vernunft“ ganz vorne platziert. Der kamerunische | |
Postkolonialismus-Theoretiker schreibt noch einmal in einer poetischen | |
Theoriesprache auf, was mich und meine Studienfreunde einst zur akustischen | |
Waffe greifen ließ: Die westliche Identität ist eine „Behelfs- und | |
Schattenidentität“ (Edward Said), der Westen braucht die Abgrenzung vom | |
angeblich rückständigen Rest der Welt, um bei sich zu sein. | |
Für Mbembe ist dieses Andere die fabulierte Figur des „Negers“, die die | |
Widersprüche innerhalb der „Provinz Europa“ verdeckt und eine künstliche | |
Einheit ermöglicht. Diese postkoloniale Erkenntnis könnte ganz nebenbei in | |
der viel diskutierten Identitätskrise des sogenannten Westens weiterhelfen. | |
13 Mar 2015 | |
## AUTOREN | |
Aram Lintzel | |
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