# taz.de -- Filmfestspiele von Cannes: Kampfjets am Himmel | |
> Cannes 4: Beim Filmfestival tobt auf der Leinwand der Erste Weltkrieg. | |
> Über den Besucherköpfen blasen derweil Kampfjets die Trikolore in die | |
> Luft. | |
Bild: Szene aus „Tiralleurs“ mit Omar Sy und Alassane Diong | |
Von Peter Iljitsch Tschaikowski ist vor allem bekannt, dass der russische | |
Komponist an Depressionen litt, da er nicht offen schwul sein konnte. Dass | |
er verheiratet war, gerät darüber etwas zur Nebensache. | |
Doch auch seine Frau, Antonina Iwanowna, hat gelitten, unter der | |
unerwiderten Liebe ihres Ehemannes. Diese Leidensgeschichte erzählt der | |
[1][russische Regisseur Kirill Serebrennikow] in seinem Kostümfilm | |
„Tschaïkovsky’s Wife“, dem ersten Wettbewerbsbeitrag, der dieses Jahr in | |
Cannes zu sehen war. | |
Antonina Iwanowna, mit entrückter Fiebrigkeit von Alyona Mikhailova | |
gespielt, ist dabei alles andere als ein rein passives Opfer. Im Vorspann | |
erwähnt Serebrennikow, dass Frauen in Russland im 19. Jahrhundert kaum | |
Rechte hatten. Für sie gab es keine eigenen Ausweisdokumente, sie wurden | |
lediglich als Eintrag im Pass ihres Ehemannes geführt. | |
## Durchlässige Grenzen | |
Als Anhängsel sieht sich Antonina Iwanowna jedoch auch vor der Ehe nicht. | |
Sie bedrängt Tschaikowski mit ihrer Liebe, der schließlich einwilligt, ihr | |
aber ein „brüderliches“ Verhältnis ankündigt. Die Distanziertheit | |
Tschaikowskis, der sich später von ihr trennt und die Scheidung verlangt, | |
hält Iwanowna nicht davon ab, an ihrer Liebe und ihrem Recht auf einen | |
Ehemann festzuhalten. Ihr Verhalten nimmt obsessive Züge an, einige Szenen | |
deuten darauf hin, dass für sie die Grenze zwischen Realität und Fantasie | |
durchlässig wird. | |
Serebrennikow gibt sich dabei als Theaterregisseur zu erkennen, etwa, wenn | |
Iwanowna sich in Gesellschaft eines Balletts sehr nackter Männer | |
wiederfindet. Es ist ein durchaus unangenehmer Film, da seine Figuren wenig | |
an sich haben, mit dem man sich gern identifizieren möchte. Serebrennikow | |
bringt sie einem dennoch nah. | |
## Im Schützengraben | |
In den Schützengraben geht es dagegen bei dem französischen Filmemacher | |
Mathieu Vadepied, dessen „Tirailleurs“ die Nebenreihe „Un certain regard�… | |
eröffnete. Schauspielstar Omar Sy ist darin als der senegalesische Bauer | |
Bakary Diallo zu sehen, der mit seinem Sohn Thierno, nachdem dieser | |
zwangsrekrutiert wurde, in den Ersten Weltkrieg zieht. | |
Bakary will Thierno schützen, erweist sich allerdings als Risiko für beide, | |
da ihm militärischer Gehorsam fremd ist.Vadepied findet mit seinem Ansatz, | |
den Umgang Frankreichs mit den Soldaten aus den Kolonien zu schildern, | |
einen eigenen Blickwinkel auf den Krieg. Nicht allein, weil er vorführt, | |
wie Männer aus dem Senegal, Sudan oder Nigeria in sinnlosen Gefechten als | |
„Kanonenfutter“ verheizt werden, sondern weil er auch die Indifferenz der | |
Franzosen gegenüber den schwarzen Rekruten sichtbar macht. | |
Dass diese zum Teil kein Französisch beherrschen und sich untereinander nur | |
dann verständigen können, wenn sie zufällig dieselbe Sprache sprechen, ist | |
ihr Problem. | |
Einen sonderbaren militärischen Gruß gab es vor der Premiere von | |
„Tirailleurs“ draußen in der Schlange zu erleben. Zur Premiere von „Top | |
Gun: Maverick“ mit Tom Cruise schossen in niedriger Flughöhe fünf Kampjets | |
mit durchdringendem Düsengebrüll über den Festivalpalast hinweg und | |
hinterließen die Trikolore Frankreichs als Kondensstreifen am Himmel. | |
Ein Moment, in dem man das Bedürfnis verspürte, sich flach auf den Boden zu | |
werfen. Ein Heimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg ist schließlich eine der | |
Hauptfiguren in [2][Pietro Marcellos] Film „L’Envol“, mit dem die Reihe | |
„Quinzaine des réalisateurs“ eröffnete: Der ehemalige Soldat Raphaël | |
(Raphaël Thiery) ist in seiner Abwesenheit zum Vater und zum Witwer | |
geworden, er findet kaum Arbeit, und seine Tochter Juliette (Juliette | |
Jouan) wird beim Aufwachsen ausgegrenzt. | |
Diese hat ungeachtet dessen magische Unbekümmertheit, bewegt sich fast wie | |
ein Fabelwesen durch den Film, der an ein Märchen der Entzauberung denken | |
lässt. Als Vorlage diente dem Italiener das Kinderbuch „Purpursegel“ des | |
russischen Schriftstellers Alexander Grin. Auf 35-mm-Film gedreht, | |
beschwören die Großaufnahmen der Natur und von Juliettes oder Raphaëls | |
Gesichtern die Zauberkraft des Kinos. Vielleicht gar kein schlechter | |
Zeitpunkt dafür. | |
19 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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