# taz.de -- Film „Rimini“ von Ulrich Seidl: Die Oberfläche des Richie Bravo | |
> In „Rimini“ lässt Ulrich Seidl einen Nazisohn in die Welt der | |
> Schlagermusik flüchten. Dessen sozialen Beziehungen sind eine | |
> Trümmerlandschaft. | |
Bild: Routiniertes Schlagerpublikum in Ulrich Seidls „Rimini“ | |
Daheim im österreichischen Irgendwo. Im Erdgeschoss hängen im Wohnzimmer | |
Biedermeiergemälde in Salonhängung neben einer hölzernen Schrankwand. Auf | |
dem Flügel stehen Familienfotos. Geweihe zieren die Wand über der Treppe | |
hinunter in den Keller. Im Keller eine kleine Bar, eine Jukebox, mehr | |
Geweihe. Zwei Brüder im Haus der Eltern, die Mutter unlängst gestorben, der | |
Vater im Altersheim. Die Geschichte der Familie war der Ausgangspunkt für | |
das Filmprojekt mit dem Arbeitstitel „Böse Spiele“ des österreichischen | |
Regisseurs Ulrich Seidl. Aus „Böse Spiele“ wurden zwei Filme, „Rimini“, | |
[1][der im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale] Premiere feierte, und | |
„Sparta“, der im September auf dem Filmfestival von San Sebastián | |
[2][skandalumwittert und ohne Ulrich Seidl uraufgeführt wurde]. „Rimini“ | |
kommt diese Woche in die deutschen Kinos. | |
Das winterliche Rimini an der italienischen Adria, neblig, regnerisch und | |
leer, bildet die Kulisse für Seidls Film. Am Strand sitzen ein paar | |
eingemummelte Gestalten um eine Bude herum. Im Zentrum des Films steht | |
Schlagersänger Richie Bravo (Michael Thomas). Nach dem Begräbnis der Mutter | |
fährt Bravo in sein Haus in der Stadt am Meer, zieht seine Alltagsuniform | |
aus Cowboystiefeln, weißen Jeans, weißem Feinripp und Robbenfellmantel an | |
und beginnt seine unerschütterliche Routine: Aufstehen, Dosenbier, nach dem | |
Anziehen ein paar Schlucke Weißwein aus der Flasche, ein Treffen mit einer | |
seiner weiblichen Fans, danach ein Auftritt im Saal eines der mehr oder | |
weniger leeren Hotels. Die Abende verbringt Bravo in einem Spielsalon oder | |
einer Bar. | |
Bravo macht aus allem Geld, gibt den Witwentröster, vermietet sein Haus und | |
zieht in ein leerstehendes Hotelzimmer. Auch wenn die Showanzüge | |
unterdessen über dem Bauch spannen, reist eine kleine, schwindende Schar | |
weiblicher Fans seinen Auftritten nach wie vor hinterher. „Ihr seid das | |
beste Publikum, das ich je hatte. Das sag ich jedes Mal.“ Unerschütterlich | |
lassen sie sich von seinen routinierten Bühnenflirts, Handküssen und den | |
paar Brocken Italienisch, die Bravo im Dauerloop aufsagt wie eine deutsche | |
Fernsehserie, begeistern. Dann taucht eine junge Frau mit Sonnenbrille bei | |
einem seiner Auftritte auf. | |
Am nächsten Morgen begleitet ein junger Mann die Frau. Sie folgen Bravo in | |
eine Hotelbar. Er wartet im Foyer, während sie mit ihm spricht. Die junge | |
Frau ist seine Tochter, Tessa. Sie fordert die Alimente, die er nie bezahlt | |
hat. Er versucht es mit Charme, doch Tessa entzieht sich seiner versoffenen | |
Welt. „Ich will nicht dein Blingbling, ich will, dass du Reue zeigst.“ Zum | |
ersten Mal sind die Risse in der Oberflächenwelt des Richie Bravo | |
unübersehbar. | |
## Lebenswelten gesellschaftlicher Außenseiter | |
„Wir zwei, ich und du, Winnetou.“ Über die Welt Richie Bravos sind alle | |
Umwälzungen der letzten Jahrzehnte spurlos hinweggegangen. Als er das Kind | |
seiner schwarzen Haushaltshilfe schreiend auf dem Sofa findet, hebt er es | |
liebevoll hoch und trägt es zur Mutter. Als die sich nicht in ihrer Arbeit | |
stören lässt, wiegt er es auf dem Arm und singt ihm ein Lied vor, in dem | |
mehrfach das N-Wort vorkommt. | |
In einer anderen Szene singt er in einem scheinbar leeren Hotelsaal ein | |
Lied, das über Martin Böttchers Filmmusik zu „Winnetou“ gelegt ist. Das | |
Lied evoziert Wild-West-Romantik und fabuliert vom Brückenbau. Als Bravo | |
während des Lieds durch den Saal geht, zeigt sich, dass der Saal nicht leer | |
ist, seine Tochter sitzt an einem der Tische, wirkt halb berührt, halb | |
betreten angesichts des Lieds. Ressentiment, hilfloser Gefühlsausdruck und | |
Eitelkeit sind untrennbar verwoben. Seidls Richie Bravo ist angehimmeltes | |
Mannsbild einer unerschütterten weißen, heteronormativen Welt und zugleich | |
Fossil ebendieser Welt in der Gegenwart. | |
Ulrich Seidl hat sich seine gesamte Filmkarriere hindurch den Lebenswelten | |
gesellschaftlicher Außenseiter gewidmet. Der erste Langfilm „Good News“ von | |
1990 zeigte das Leben von Männern aus Indien, Ägypten, Pakistan und der | |
Türkei, die auf den Straßen Wiens eine Boulevardzeitung verkaufen. Es | |
folgten Filme über Männer, die Frauen per Katalog bestellen („Die letzten | |
Männer“, 1994) und über Menschen, denen Tiere der letzte Anker in ihrer | |
Einsamkeit sind („Tierische Liebe“, 1995). Den Durchbruch brachte | |
„Hundstage“ von 2001, der sechs Geschichten menschlicher Abgründe an heiß… | |
Augusttagen erzählte. „Import Export“ von 2007 verschränkt zwei Geschicht… | |
der Migration zwischen West- und Osteuropa. „Im Keller“ von 2014 widmete | |
sich menschlichen Obsessionen im Verborgenen. | |
Das Ausloten der Lebenswelten, die Lust an Abgründen und der Spaß an der | |
Provokation ist in Seidls Filmen untrennbar verbunden. Das zeigt sich auch | |
in den Bildern von „Rimini“. Die verlassene Hotelstadt am Meer, in deren | |
Gassen Obdachlose unter den Vordächern schlafen, ist in ihrem | |
Aufeinanderprallen von Oberfläche und Abgrund ein klassisches | |
Seidl-Setting. | |
Die Figur des Richie Bravo geht zurück auf eine Episode während der | |
Dreharbeiten zu „Import Export“, als Michael Thomas spontan in einem | |
Restaurant in der Ukraine ein Mikrofon ergriff und zu singen begann. | |
Die Dreharbeiten zu „Böse Spiele“ dauerten von 2017 bis 2019. Erst dann | |
entschied sich Seidl, das Material über zwei Filme zu verteilen. „Sparta“ | |
und „Rimini“ erzählen jeweils von einem der beiden Brüder der Familie. | |
„Rimini“ ist dem Schauspieler Hans-Michael Rehberg gewidmet, der den Vater | |
der beiden Brüder spielt. Rehberg starb 2017 während der Dreharbeiten. | |
## Der tiefere Abdruck eines transgenerationalen Traumas | |
Richie Bravo bedient in „Rimini“ die Suche seiner weiblichen Fans im | |
fortgeschrittenen Alter nach körperlicher Nähe und dem Gefühl begehrt zu | |
werden, ohne dass diese sich an der Routiniertheit stören. Seine eigenen | |
sozialen Beziehungen hingegen sind eine Trümmerlandschaft. Sein etwas | |
schmieriger Charme ist ebenso Mimikry heteronormativer Partyflirts wie | |
Mechanismus um seine Umwelt auf Distanz zu halten. In einer Szene gegen | |
Ende des Films klingt der tiefere Abgrund transgenerationellen Traumas an. | |
Bei einem Besuch im Altersheim schiebt Bravo seinen Vater im Rollstuhl über | |
den Flur. Der Vater singt das Nazi-Lied „Es zittern die morschen Knochen“, | |
während der Sohn seinen Schlager „Amore mio“ singt. Die im Klischee | |
unverbindlich gewordene Emotionalität des Schlagers zeigt sich als Reaktion | |
des Sohnes auf unverarbeitete Naziideologie. | |
Seidls neuester Film, „Sparta“, widmet sich Ewald (Georg Friedrich), dem | |
Bruder von Richie Bravo, und erzählt den zweiten Strang der | |
Familiengeschichte aus „Böse Spiele“. Ewald ist nach Rumänien gezogen und | |
baut im Hinterland mit Jungen aus der Umgebung eine verfallene Schule aus. | |
Innerlich ringt Ewald mit pädophilen Neigungen, die wie das Verhalten | |
Richie Bravos in „Rimini“ mit der ungebrochenen Naziideologie des Vaters in | |
Verbindung gebracht werden. | |
Die zentrale Frage des Skandals um den Film ist, ob Seidl das Thema der | |
Pädophilie gegenüber den Kinderdarstellern und ihren Eltern offengelegt | |
hat. Konkret geht es unter anderem um die Frage, ob eine Übersetzerin | |
angewiesen wurde, das Thema Pädophilie gegenüber den Eltern zu | |
verschweigen. Seidl klagt in einem Statement zu den Anschuldigungen wenig | |
differenziert über den „gegenwärtigen Zeitgeist, der ein verkürztes, | |
vielfach kontextloses 'Entweder – Oder’ verlangt“. | |
„Sparta“ und „Rimini“, die beiden Filme, die aus dem Projekt „Böse S… | |
hervorgegangen sind, erzählen als Diptychon die Geschichten zweier | |
traumatisierter Brüder derselben Familie. „Rimini“ zeigt Richie Bravo als | |
personifizierte Verweigerung, Verantwortung zu übernehmen. Seidl hat in | |
„Rimini“ einen klugen Film über [3][eine Welt voller menschlicher Abgründ… | |
gedreht. Eine Welt, die die unsere ist. | |
5 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
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