# taz.de -- Fanperspektive auf die WM in Katar: „WM-Kritik darf nicht verpuff… | |
> Die Fans rufen in den Stadien zum WM-Boykott auf. Fanvertreterin Helen | |
> Breit erklärt die Wucht der Debatte und warum der DFB Anlass zur Hoffnung | |
> gibt. | |
Bild: Zahlreiche Boykottbekundungen auf der Dortmunder Südtribüne | |
wochentaz: Frau Breit, Sie sind regelmäßig bei den Spielen des SC Freiburg. | |
Haben Sie schon mal ein Länderspiel der DFB-Elf besucht? | |
Helen Breit: Ich glaube, tatsächlich eines. Das war ein U23-Spiel in | |
Freiburg. Da war ich noch Jugendliche. | |
Wann haben Sie das letzte Länderspiel im Fernsehen gesehen? | |
Wahrscheinlich bei [1][der WM 2018 in Russland]. | |
Fußball-Weltmeisterschaften schauen Sie also? | |
Auch ich kann mich nicht immer dem Hype entziehen und freue mich, wenn | |
Freunde von mir den Anlass dazu nutzen, gemeinsam Fußball zu schauen, weil | |
ich mich mit denen treffen will und Fußball generell gut finde. Aber das | |
würde ich nun bei der WM in Katar anders bewerten. Es hat eine größere | |
Sensibilisierung bei mir stattgefunden. Ich habe mich gefragt, ob es mir | |
das wert ist. | |
Und? | |
Ich treffe mich mit meinen Freunden lieber abseits der WM-Spiele. | |
Nun liegen zwischen Bundesligafußball und der Fußball-WM nur eine Woche. So | |
nahe waren sich diese Welten noch nie. Weshalb zieht Sie die eine so an und | |
stößt Sie das andere so ab? | |
Das hat viel mit der Möglichkeit der Identifikation zu tun, der | |
Möglichkeit, mitzugestalten, mitzubestimmen. In Freiburg sind wir noch ein | |
eingetragener Verein, ich muss mich nicht noch mit einer | |
Kapitalgesellschaft rumstreiten. Zum Zweiten ist für mich das Stadion ein | |
sozialer Ort, wo ich Menschen treffe, Zusammenhalt und gemeinsame Emotionen | |
erlebe. Wir haben auch im Vereinsfußball eine massive Kommerzialisierung, | |
die wir stark kritisieren, aber bei der Nationalmannschaft wird das noch | |
par excellence betrieben. | |
Was meinen Sie damit? | |
Da geht es nur noch um Vermarktung. Zum [2][Nationalmannschaftsfußball] ist | |
es viel schwieriger zu kommen als zum Vereinsfußball. Will ich eine Karte, | |
muss ich Mitglied des vom DFB geführten Fanklubs sein, alle meine Daten | |
hinterlegen, wahnsinnig hohe Preise bezahlen und noch dahin reisen. Der | |
Aufwand ist viel größer, für einen viel geringeren Ertrag. Der DFB hat | |
alles dafür getan, dass aus der organisierten Fanszene keiner mehr Lust hat | |
zur Nationalmannschaft zu fahren. | |
Das war früher anders. | |
Vor der WM 2006 sind viele aus der organisierten Fanszene zur | |
Nationalmannschaft gefahren. Das war cool, weil man sich über die | |
Vereinsgrenzen hinweg in Kontakt war und zusammen das Team unterstützt hat. | |
Auch beim SC Freiburg wird der Fußball immer kommerzieller. Deshalb hat man | |
auch ein neues Stadion gebaut. Ab wann ist es denn zu viel Kommerz? Gibt es | |
eine rote Linie wie beim Nationalteam? | |
Man kann beobachten, dass auch aktive Fans rote Linien immer wieder | |
verschieben. So ehrlich muss man sein. Viele haben gesagt, Montagsspiele | |
sind die rote Linie, aber dann sind viele doch gegangen. Es gibt einerseits | |
rote Linien, bei denen man sagt, die verschiebt man weiter, weil doch die | |
emotionale Seite des Fußballs und die soziale so wichtig sind, dass man | |
auch andere Dinge dafür in Kauf nimmt. Und dann ist es ja auch individuell. | |
Für mich wäre beim Sportclub eine rote Linie erreicht, wenn die | |
wirtschaftlichen Interessen immer an erster Stelle stehen würden. Und ich | |
merke, dass das noch nicht der Fall ist. | |
Trotz der Ferne der aktiven Fanszene zum Nationalmannschaftsfußball waren | |
in den Bundesligastadien zuletzt die Protestbekundungen gegen die WM in | |
Katar unübersehbar groß. Weshalb hat die Boykottdebatte im Fall Katar eine | |
solche Wucht angenommen? | |
Ich glaube, alle Kritik fällt auf dieses Turnier zusammen. Die Kritik an | |
der Vergabe hat es auch bei den letzten Weltmeisterschaften gegeben. Bei | |
der WM-Vergabe nach Katar wurde aber extrem sichtbar, dass nach dem | |
Geldbeutel entschieden wird. Die Verlegung auf den Winter war mit massiven | |
Veränderungen für den Vereinsfußball verbunden. Und es wurde völlig | |
ignoriert, dass in Katar eine Art Leibeigenen-System vorherrscht, | |
Homosexualität mindestens unter Gefängnisstrafe steht. Es ist alles sehr | |
plakativ. | |
Aus Katar gibt es Kritik an der Kritik. Sie sei eurozentristisch, von oben | |
herab. | |
Es ist wichtig, das im Blick zu haben und zu reflektieren. Davor ist | |
niemand gefeit. Aber das darf man nicht als Totschlagargument dafür | |
nehmen, um Kritik zu unterbinden. | |
Bei der WM in Russland oder den Winterspielen in China waren die Debatten | |
tatsächlich viel niederschwelliger. Haben Sie eine Erklärung dafür? | |
Ich weiß gar nicht, ob es nur mit Katar zu tun hat. Die Sensibilität ist | |
höher, weil schon einiges passiert ist. Man hat gesehen, dass eine WM in | |
Russland stattgefunden hat und ein paar Jahre später Russland einen | |
Angriffskrieg gegen die Ukraine führt. Auch durch [3][die Winterspiele in | |
Peking] ist einigen Leuten klarer geworden, wie politisch | |
Sportgroßveranstaltungen geworden sind. | |
Ein Lernprozess also … | |
Während der Pandemie haben sich auch immer mehr Menschen kritisch mit dem | |
Profifußball auseinandergesetzt, als die Vereine von Insolvenz bedroht | |
waren. Es gab so einen Aha-Moment. Ich erlebe viel mehr Fußballfans | |
kritisch. Ob die kritische Auseinandersetzung immer mit den besten | |
Argumenten geführt wird, und ob man die komplexen Sachen noch | |
differenzierter betrachten muss, das ist ja eine gute Diskussion. Die | |
kritische Auseinandersetzung muss nur fortgesetzt werden und darf nicht | |
nach dieser WM verpuffen. Sonst hätten alle recht, die sagen, es ginge nur | |
um eine eurozentristische Perspektive auf einen arabischen Staat. | |
Der DFB ist mit der [4][Amtsübernahme von Bernd Neuendorf] in die Spuren | |
von so progressiven Verbänden wie dem norwegischen getreten und fordert | |
ungewohnt deutlich, eine Antwort der Fifa ein, ob man nun einen | |
Entschädigungsfonds aufbauen will. Wie bewerten Sie die Entwicklung beim | |
DFB? | |
Erst einmal sind das sehr positive Tendenzen. Wir wären alle blöd, wenn wir | |
diese nicht bestärken würden. Im Moment ist es aber der Präsident, der | |
vorangeht, und nicht der Verband. Das haben wir schon oft beim DFB erlebt, | |
dass es von den handelnden Personen abhängig ist und die aber ganz schön | |
oft wechseln. Ich hoffe, dass Neuendorf es gelingt, möglichst viele hinter | |
sich zu versammeln. Es ist ein ganz zartes Pflänzchen und ich hoffe, dass | |
daraus ein Baum erwächst. | |
Auch die Deutsche Fußball-Liga hat in der Pandemiezeit auf die starke | |
Kritik am System Fußball reagiert und eine Taskforce Zukunft Profifußball | |
eingerichtet. Geblieben ist aber aus der Phase der Besinnung im laufenden | |
Betrieb wenig. Ist das auch Ihr Eindruck oder zu kritisch gesehen? | |
Beides. Ich kann das Wort Demut wirklich nicht mehr hören. Es wurde ständig | |
bemüht und im selben Atemzug das Gegenteil davon gemacht. Es hat kein | |
grundsätzlicher Wandel stattgefunden. Aber es wurden kurzfristig Türen | |
aufgemacht, und wir haben versucht, da möglichst viel reinzuschieben. Die | |
Verbände müssen sich mit Themen der Zeit befassen. Es geht etwa um mehr | |
Diversität und ökologische Nachhaltigkeitskriterien. Was den Dialog angeht, | |
haben wir bis zur Spitze der Verbände strukturelle Erfolge erzielt, | |
verbindliche Gesprächsebenen. Davon können wir uns erst einmal nichts | |
kaufen. Wir hoffen aber, dass die strukturellen Veränderungen sich später | |
auch im Alltag bemerkbar machen. | |
Das Bündnis ProFans ist dem vom DFB organisierten Kongress zu Katar | |
ferngeblieben. Es hieß, man wolle dem DFB beim Whitewashing nicht | |
behilflich sein. Der Verband wolle den öffentlichen Eindruck erwecken, | |
engagiert in Sachen Menschenrechten zu sein. Sehen Sie auch diese Gefahr? | |
Ich verstehe die Kritik und teile das Misstrauen, weil in der Vergangenheit | |
keine Vertrauensbasis geschaffen wurde. Wir müssen das aufmerksam | |
begleiten. Wenn nichts passiert, müssen wir in einem Jahr laut | |
protestieren, dass das alles nur Gerede war. | |
12 Nov 2022 | |
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## AUTOREN | |
Johannes Kopp | |
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