# taz.de -- Essay Rechtspopulismus: Diagnose mit zwei zentralen Fehlern | |
> Die Linksintellektuellen entdecken die soziale Frage wieder. Doch den | |
> Rechtspopulismus wird das nicht zurückdrängen. | |
Bild: Wilders, Le Pen und Petry beim Treffen der rechtspopulistischen ENF-Frakt… | |
Die Linksintellektuellen stecken im „Büßerhemd“ (Armin Nassehi). Erst | |
kürzlich kritisierten Dirk Jörke und Nils Heisterhagen in der FAZ, dass die | |
„Antidiskriminierungspolitik, Vielfaltseuphorie und politisch korrekte | |
Sprache“ das Produkt einer verirrten linken „Eliten-Welt“ sei, die den | |
„kleinen Mann“ vergessen habe und in der „Falle der Identitätspolitik“… | |
vom 26. 1. 2017) stecke. Die Linke müsse die soziale Frage wiederentdecken. | |
Diese Diagnose hat zwei zentrale Fehler: Sie ignoriert, dass der Erfolg des | |
rechtspopulistischen Mobilisierungsmechanismus nur mittelbar etwas mit der | |
sozialen Frage zu tun hat, und blendet aus, dass der normative Kern linken | |
Denkens nicht die soziale Gerechtigkeit, sondern die Idee einer „freien | |
Gesellschaft“ (Adorno) ist. | |
Die Wiederentdeckung der sozialen Frage wird den Rechtspopulismus nicht | |
zurückdrängen. Denn die Parteien und Figuren, die sich einer Politik der | |
sozialen Gerechtigkeit verschrieben haben, sind längst da: die Linkspartei | |
in Deutschland, Bernie Sanders in den USA, Jeremy Corbyn in England oder | |
die PG und PCF in Frankreich. Und dennoch ziehen es viele Wählerinnen und | |
Wähler vor, den Rechtspopulisten ihre Stimme zu geben. Wie ist das zu | |
erklären? | |
Was Le Pen, Trump oder die AfD bei aller Verschiedenheit gemeinsam haben, | |
ist, dass sie ihre politische Bewegung als eine darstellen, die im Dienste | |
des „wahren“ Volkes und gegen die Eliten agiert. Die Partikularität ihrer | |
eigenen Interessen wird durch einen aggressiven Antipluralismus | |
verschleiert, der alle abweichenden Sichtweisen als Betrug am Volk | |
diffamiert. | |
Dass dieser Mobilisierungsmechanismus greift, zwingt uns die politische | |
Subjektkonstitution der Bürgerinnen und Bürger kapitalistischer Demokratien | |
kritisch zu analysieren, d. h. ihre politische Mentalität – denn für sie | |
ist dieser Mobilisierungsmechanismus entworfen. Wer den Rechtspopulismus | |
also verstehen will, muss das Subjekt des Rechtspopulismus kennen. Oder | |
philosophiegeschichtlich formuliert: Ohne Nietzsche (und Freud) bleibt auch | |
Marx blass. Auf diese Subjektkonstitution wirken neben der ökonomischen | |
Struktur gerade auch psychische Entwicklungen ein, kulturelle und | |
technologische Veränderungen, die Organisation des politischen | |
Zusammenlebens und vieles mehr. | |
## Das Subjekt des Rechtspopulismus | |
Was diese politische Mentalität heute in groben Zügen kennzeichnet, ist | |
eine tiefe innere Gespaltenheit. Auf der einen Seite haben sich der | |
Individualismus und die Imperative einer kapitalistischen Gesellschaft | |
offensichtlich in der Überzeugung niedergeschlagen, dass jeder Mensch, und | |
vor allem jeder Politiker, nur seinen eignen Interessen nachgeht. All die | |
parteipolitische Rhetorik von Solidarität und Zusammenhalt wird vor diesem | |
Hintergrund bestenfalls als weltfremd eingestuft. Gemeinhin wähnt man einen | |
politischen Blendungsversuch am Werk und wittert Heuchelei und Betrug. | |
Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Auf der anderen Seite setzt man | |
redliches politisches Handeln mit dem Verzicht auf partikulare Interessen | |
gleich. Politiker handeln der landläufigen Meinung zufolge dann redlich, | |
wenn sie die Interessen der Gemeinschaft als oberste Richtschnur anlegen. | |
Was „die“ Interessen „der“ Gemeinschaft sind und wie sie herauszufinden | |
wären, wird nicht weiter problematisiert. | |
Eine derartige Sicht auf redliches politisches Handeln mag uns womöglich | |
von einer unerfüllten Sehnsucht berichten, resultieren aber tut sie aus dem | |
„Praxisentzug“ und der „politischen Erfahrungslosigkeit“ (Hanna Arendt) | |
vieler Bürgerinnen und Bürger in modernen Demokratien: Selten oder nie | |
sammeln Menschen die Erfahrung, dass demokratische Politik einen | |
berechtigten Konflikt widerstreitender Interessen bedeutet. Selten oder nie | |
machen sie die persönliche Erfahrung, dass ohne langwierige und zähe | |
Prozesse des Überredens, Überzeugens und Verhandelns Demokratie nicht zu | |
haben ist. | |
So gerät der politische Alltagsbetrieb notwendigerweise in Verruf. Denn | |
während es auf der einen Seite gemeinschaftsorientiertes Handeln der | |
Politiker gar nicht geben kann – weil ein jeder vermeintlich nur an seinem | |
eigenen Vorankommen interessiert ist –, wird die Redlichkeit des | |
politischen Handelns an Kriterien festgemacht, die in einer pluralistischen | |
Gesellschaft nie erfüllt werden können – weil es ein Interesse des Volkes | |
nicht gibt. | |
Die politischen Eliten sind daher im Grunde bereits diskreditiert, bevor | |
sie überhaupt agieren. Hinzu kommt, dass man vom politischen Apparat | |
immerzu enttäuscht wird – und mit dieser Enttäuschungserfahrung die eigene | |
Weltsicht bestätigt. Damit ist das Fundament einer politischen Kultur des | |
Misstrauens gelegt. | |
## Sprachpolitik und Kulturkampf | |
Rechtspopulisten instrumentalisieren dieses Misstrauen. Die zentrale | |
Strategie hierfür ist, sich als überparteiliche Bewegung zu inszenieren, | |
die an alle echten Franzosen, Amerikaner oder Deutschen appelliert, weil | |
alles auf dem Spiel stehe. Eine solche Zuspitzung findet bei vielen | |
Menschen Anklang, da sich mit ihr die weltanschauliche Botschaft | |
transportieren lässt, Teil eines historisch bedeutungsvollen Projekts zu | |
sein: Wir holen uns unser Land zurück! Make America great again! | |
Um diese Strategie umzusetzen, greifen sie auf Sprachbilder der | |
Absolutheit, Ganzheitlichkeit und Totalität zurück – „die Islamisierung�… | |
„die Brüsseler Diktatur“, „die Washingtoner Politikelite“. Solche Form… | |
suggerieren, dass „die Antworten auf der Hand liegen und keiner weiteren | |
Konkretheit bedürfen“ (Gyburg Uhlmann). Das Zögern und Lamentieren der | |
Politiker etablierter Parteien bestätige dann nur, dass es ihnen um die | |
Interessen ihrer Klientel geht – und nicht um die des Volkes. Gleichzeitig | |
rationalisiert diese Rhetorik eine Vielzahl an weit verbreiteten | |
Ressentiments und kanalisiert Ängste, Wut und Affekte aller Art. | |
Was den Rechtspopulismus der Gegenwart zudem in besonderer Weise | |
auszeichnet, ist die enge Verzahnung von intellektualisierter, | |
aktivistischer und parlamentarischer Rechte. Die Bedeutung der | |
Alt-Right-Bewegung und des rechten Nachrichtenportals Breitbart für die | |
Trump-Administration oder Pegida und der Identitären Bewegung, Elsässers | |
Compact oder Kubitscheks Sezession für die AfD sind nur zwei Beispiele | |
hierfür. | |
Eine Vielzahl politischer Fronten wird eröffnet, Synergien zwischen diesen | |
genutzt. Der intellektualisierten Rechten kommt dabei die Aufgabe zu, | |
Begriffe zu liefern, mit denen sich Wirklichkeit neu deuten lässt – also | |
das, was als normal und abnormal, vernünftig und unvernünftig, richtig und | |
falsch zu gelten hat. Da diese scheinbar elementaren Wahrheiten auch und | |
gerade durch die Sprache der Anderen, „der linksversifften Gutmenschen“, | |
aus der Welt interpretiert wurde, ist rechte Politik – wie jede Politik – | |
immer auch Sprachpolitik. | |
## Reproduktion rechter Thesen | |
Tatkräftige Unterstützung erfährt diese rechte Sprachpolitik von den | |
reumütigen Linksintellektuellen. Denn diese reproduzieren die Themen des | |
rechten Kulturkampfes und machen sie so salonfähig: von der | |
besserwisserischen Kritik an der „Willkommenskultur“ als naivem Akt einer | |
moralisierten Mittelschicht über die vermeintlich linke | |
„Minderheitenfixierung“ bis hin zum „Genderkram“. | |
Mit solchen Thesen beweisen Linkintellektuelle, dass sie die politische | |
Funktion des rechtskonservativen Kulturkampfes nicht verstanden haben. Noch | |
schwerer wiegt, dass sie den normativen Kern linken Denkens missachten, der | |
im berühmten Diktum Adornos, „ohne Angst verschieden sein zu können“, zum | |
Ausdruck kommt. | |
Und exakt um diese angstfreie Verschiedenheit und den Schutz der Integrität | |
der eigenen Person zu realisieren, bemüht sich die | |
Antidiskriminierungspolitik. Sie ist weder Teil einer (neo)liberalen | |
Ideologie noch das Produkt einer verirrten linken „Eliten-Welt“, sondern | |
inspiriert von der Idee einer „freien Gesellschaft“, in der die „angstlos… | |
aktive Partizipation jedes Einzelnen“ (Adorno) Wirklichkeit wird. | |
Antidiskriminierungspolitik gegen eine Politik der sozialen Gerechtigkeit | |
ausspielen zu wollen ist daher – auch mit Blick auf die Geschichte linker | |
Politik und linken Denkens – töricht. | |
25 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Christian Volk | |
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