# taz.de -- Essay über die Schwäche der Demokratie: Die Schuld der liberalen … | |
> Neoliberalismus führt zur Entsolidarisierung. Das gilt für Menschen, die | |
> sich Rechtspopulisten zuwenden – genauso aber auch für Liberale. | |
Bild: Pegida-Demo in Dresden: Gegen die Elite, gegen Merkel | |
Nehmen wir mal an, die westlichen Demokratien lebten in einem gemeinsamen | |
Haus: Dann gilt spätestens seit der Wahl Donald Trumps: Der Dachstuhl hat | |
Feuer gefangen, im Keller steht das Wasser – und in der Hofeinfahrt stehen | |
Abrisskräne. Als letztere können rechtspopulistische Bewegungen und | |
Parteien gelten, die sich zunehmend und gleichzeitig darin gefallen, | |
autoritäre Herrschaftsformen zu bevorzugen und die liberale Demokratie | |
offen als Fehlentwicklung zu bezeichnen. Dies ist übrigens in nahezu allen | |
westlichen Gesellschaften so. Dass sie sich gleichsam parallel in einem | |
Krisenmodus befinden, ist sicherlich kein Zufall. Es muss also | |
vergleichbare Entwicklungen geben. | |
Gesucht werden lange Linien der Veränderung, die sich in allen | |
Gesellschaften des Westens zugleich nachweisen lassen. Diese werden hier in | |
der doppelten Liberalisierung gesehen – in einer spezifisch | |
wirtschaftlichen und einer spezifisch soziokulturellen. In der Verwobenheit | |
dieser beiden Liberalisierungen lässt sich für die ubiquitäre | |
Demokratiekrise des Westens ein Erklärungsmuster finden, das – kurz gesagt | |
– darin besteht, dass der falsche liberale Esel geschlagen und auf das | |
falsche, nämlich das autokratische Pferd, gesetzt wird. | |
Die ökonomische Liberalisierung, um mit ihr zu beginnen, hat im Westen in | |
den letzten Jahrzehnten der Globalisierung eine neoliberale Form | |
angenommen. Unter der generellen Prämisse, dass marktwirtschaftliche | |
Antworten immer besser seien als politische und der Staat dem Markt | |
prinzipiell unterlegen sei, lässt sich für die letzten Jahrzehnte ein | |
Rückzug des Staates aus dem Wirtschaftsgeschehen beobachten. Im Einzelnen | |
gehören dazu unter anderem: Deregulierungen, Privatisierungen, der Rückbau | |
des Sozialstaats und die Zuweisung der Verantwortlichkeit für die | |
ökonomische Absicherung an das Individuum. Dazu kommt eine Steuerpolitik, | |
die die Abgaben der am besten Verdienenden absenkt. Und die im Ergebnis | |
eine immense Verschärfung der ungleichen Vermögensverteilung bewirkt. | |
Welche Wirkungen ergeben sich aus dem neoliberalen Ansatz für die | |
Gesellschaften des Westens? Ein zentraler Effekt ist der sich ständig | |
erhöhende Druck, der auf allen Protagonisten der westlichen Gesellschaften | |
lastet. Es sind nicht nur die Marginalisierten – wie etwa Geringverdiener, | |
Arbeitslose oder Hartz-IV-Empfänger –, die darüber in einen gleichsam | |
darwinistischen Überlebenskampf um das Bestehen in Konsumgesellschaften | |
gepresst werden. | |
## Dauernde Anspannung | |
Betroffen ist auch die untere Mittelschicht. Sie sieht sich einer ständigen | |
Konkurrenz von unten gegenüber. Das führt zu einem Leben in steter | |
Abstiegsangst. Die scheinbar abgesicherte gehobene Mittelschicht, gut | |
gebildet und gut verdienend, die von den Steuersenkungen für | |
Besserverdienende immer Vorteile ziehen konnte, wird davon ebenso belastet. | |
Auch sie wird über das neoliberale Paradigma, der Markt sei auch in Zeiten | |
der Globalisierung an Effizienz unschlagbar, ständig dazu gezwungen, sich | |
um ihre Arbeitsplätze zu sorgen. Das bedeutet: Deren Arbeit steht unter | |
dauernder Anspannung, den Anforderungen des Marktes gerecht zu werden. Sie | |
muss also so verrichtet werden, dass sie weder wegrationalisiert noch in | |
andere Volkswirtschaften verlagert wird. | |
Im Ergebnis heißt dies, dass die Menschen in den westlichen Gesellschaften | |
nahezu allesamt in Bedrängnis geraten sind. Die neoliberalen Kompressionen | |
wirken in alle Gesellschaftsbereiche – nicht nur auf die | |
privatwirtschaftlichen. Beispiel Lehrende: Ihre Schülerschaft sollen sie | |
bei den nächsten Pisa-Tests möglichst weit nach oben hieven. Der Druck ist | |
deshalb enorm hoch. So sehr, dass man fast meinen könne, es handle sich um | |
eine Überlebensfrage. Wenn nicht um eine der gesamten Menschheit, so doch | |
um eine der eigenen Gesellschaft. | |
Welche Folgen ergeben sich nun daraus, dass die westlichen Gesellschaften | |
sich zu Gesellschaften der Bedrängten entwickelt haben? Es gilt die | |
Annahme: Menschen, die in Bedrängnis sind, wollen sich daraus befreien. Sie | |
suchen nach Erklärungen für die Ursachen ihrer Bedrängnis und nach | |
Lösungen, wie sie ihre Situation verbessern können. Naheliegend wäre die | |
Suche nach den Wurzeln ihrer sie bedrückenden Situation im ökonomischen | |
Bereich. Doch der Fall liegt anders, ebenso die Lösung. Sie besteht darin, | |
Gründe für die Belastungen in der gesellschaftlichen Liberalisierung zu | |
suchen. Und genau danach greift ein immer größer werdender Teil dieser in | |
in Bedrängnis Geratenen. | |
Zweifelsohne hat sich in den Gesellschaften des Westens in den letzten | |
Jahrzehnten eine weitere Liberalisierung (neben der ökonomischen) | |
vollzogen: die soziokulturelle Modernisierung. Diese kann in vielerlei | |
Hinsicht als fortschreitender Emanzipationsprozess bezeichnet werden. Drei | |
Beispiele: Zum einen ist die Partizipationschance von Frauen gestiegen, zum | |
anderen lässt sich eine gewachsene Akzeptanz von vielfältigen sexuellen | |
Lebensformen beobachten. Schließlich hat sich das Bewusstsein verbreitet, | |
dass dauerhafte Einwanderung keine Ausnahme, sondern Normalität ist und | |
dass ethnische Zuschreibungen nicht zu Diskriminierungen führen dürfen. | |
Natürlich ist keine der drei Entwicklungen in den jeweiligen westlichen | |
Gesellschaften mit derselben Geschwindigkeit vorangekommen. Es gab stetige | |
Rückschläge und keine dieser drei exemplarischen „Erfolgsgeschichten“ ist | |
zu Ende erzählt. In zunehmendem Maße haben sie jedoch die westlichen | |
Gesellschaften durchdrungen. | |
## Komplexe ökonomische Dynamiken | |
Gegen diese gesellschaftliche Liberalisierung hat sich in den letzten | |
Jahren aber ein massiver – von Rechtspopulisten verstärkter – Widerstand | |
aufgebaut, der bis in die Mitte der Gesellschaft hineinreicht. Das geht von | |
den Demonstrationen Zehntausender in Paris aus, die gegen eine „mariage | |
pour tous“ und gegen „Gender-Theorien“ sind. „Gegen alles Bunte“ wend… | |
sich Deutschlands Pegida-Anhänger auf ihren Märschen. Und auf einem | |
AfD-Parteitag formulierte der Bundessprecher Jörg Meuthen folgenden Satz: | |
„Wir wollen weg vom linken, rot-grün verseuchten, leicht versifften 68er | |
Deutschland“. Die Mitglieder johlten, sie wollen die in den sechziger | |
Jahren begonnenen soziokulturellen Modernisierungen am besten ausradiert | |
sehen. Oder wenigstens so weit wie möglich rückgängig machen. Mehr Beifall | |
gab es für Meuthen, nebenbei erwähnt, an keiner anderen Stelle dieser Rede. | |
Wie aber lässt sich verstehen, dass sich der Unmut eines Teils der | |
Bedrängten anti-emanzipatorischen Strömungen zuwendet? Oder Strömungen | |
umschwärmt, die gegen die soziokulturelle Modernisierung sind? Wäre es | |
nicht naheliegender, sich vorrangig mit der wirtschaftlichen | |
Liberalisierung eben dieser Gesellschaften zu beschäftigen? Eine Erklärung | |
ist, dass der Druck unter den diese Gesellschaften geraten sind, in seiner | |
Entstehung, in seinen Wirkungen und in seiner Urheberschaft nur sehr schwer | |
von breiten Gesellschaftsschichten durchschaut werden kann. | |
Die Komplexität ökonomischer Dynamiken des von der Politik als | |
alternativlos dargestellten Neoliberalismus gilt in Zeiten zunehmender | |
Globalisierung den allermeisten Menschen als intransparent. Die Menschen | |
sehen zwar, wie schnell sich ihre Lebenswelten ganz real verändern, aber | |
die Ursache-Folge-Ketten bleiben ihnen oft verborgen. Aus dieser | |
Ungreifbar- und Unbegreiflichkeit entsteht ein Bedürfnis nach leicht | |
nachvollziehbaren Erklärungen: Wer ist verantwortlich für die Verlagerung | |
von Arbeitsplätzen nach Mexiko, nach Rumänien oder nach Indien? Wer muss | |
dafür haften, dass die Schere zwischen Reich und Arm immer weiter | |
auseinandergeht? Wer sorgt dafür, dass der Druck, der auf immer mehr | |
Arbeitnehmern in den westlichen Gesellschaften lastet, so gewaltig | |
angestiegen ist? Man bräuchte dafür eine kritisch-aufgeklärte | |
Analysefähigkeit und sozioökonomische Urteilskompetenz. Beides ist in | |
unseren demokratischen Gesellschaften nach wie vor stark unterentwickelt. | |
Statt nun nach Erklärungen im ökonomischen Bereich zu suchen, greift also | |
ein Teil derjenigen, die sich von der Neoliberalisierungs- und | |
Globalisierungsdynamik bedrängt sehen, zu einem einfachen Antwortmuster. | |
Sie nehmen wahr, dass sich die „gute, alte Zeit“, in der sie sich noch in | |
privilegierter Position sahen, in gesellschaftlicher Hinsicht verändert | |
hat: Die Frauenquoten in Firmen, die gleichgeschlechtliche Ehe oder | |
Staatsbürgerrechte für Menschen mit Migrationshintergrund sind | |
Konkretisierungen der gesellschaftlichen Liberalisierungsprozesse. Diese | |
Entwicklungen sind nahe und sie erscheinen zugleich greifbar. Sie für die | |
erlebte Bedrängnis verantwortlich zu machen, bietet sich als eine simple | |
und verführerische Erklärung an, egal wie absurd sie sein mag. | |
## Einheimische Privilegisierungsphantasien | |
Die zentrale Schuld für ihre Misere auf Einwanderer und Geflüchtete zu | |
schieben, die einem die Arbeitsplätze und die bezahlbaren Wohnungen | |
wegnähmen, erscheint ihnen im selben Maße einleuchtend. Genauso wie die | |
Behauptung, dass der Kampf gegen Diskriminierung von Frauen oder die | |
Akzeptanz sexueller Vielfalt das „gute Alte und Bekannte“ zerstört hat. | |
Egal wie aberwitzig die Herstellung eines Zusammenhangs zwischen ihrer | |
Bedrängnis und der soziokulturellen Modernisierung auch sein mag, so | |
nachhaltig ist die entfremdende Wirkung, die sich daraus für sie ergibt: | |
Dieses Gefühl, zu Strangers in Their Own Land, wie es Arlie Hochschild | |
unlängst formuliert hat, geworden zu sein, deren Vorstellungen von dem, was | |
sie für „normal“ halten, immer stärker in die Defensive geraten ist, hat | |
sich verbreitet und wird von rechtspopulistischen Strömungen aufgegriffen. | |
Ihr Normalitätsverständnis enthält neben der männlichen Vorrangstellung und | |
der Privilegierung von Heterosexualität noch das Selbstverständnis, dass | |
man als Staatsangehöriger, der „keine“ oder eine lange zurückliegende | |
Zuwanderungsgeschichte hat, bei Verteilungskämpfen automatisch privilegiert | |
werden sollte. So ist es beispielsweise in der bundesrepublikanischen | |
Gesellschaft immer noch so, dass ein Arbeitssuchender mit einem deutsch | |
klingenden Namen deutlich weniger Bewerbungen schreiben muss als ein gleich | |
qualifizierter Mitbewerber, dessen Name türkisch klingt, um überhaupt eine | |
Einladung zu einem Vorstellungsgespräch zu erhalten. Diese anwachsenden | |
Privilegisierungsphantasien von „Einheimischen“ sind in allen westlichen | |
Gesellschaften festzustellen. | |
In gewisser Weise wird hier der alte Spruch von Brecht, das Fressen komme | |
vor der Moral, wieder wahr: Der nur „Einheimischen“ zustehende Kuchen wird | |
als gefährdet begriffen und geteilt wird er, wenn überhaupt, bestenfalls | |
mit dem Inner Circle derjenigen, die ebenfalls als berechtigt wahrgenommen | |
werden. Und das sind definitiv nicht die „Dazugekommenen“. Der Verlust von | |
Vorrechten wird als illegitim wahrgenommen. „America first“ ist insofern zu | |
deuten als Vorfahrt für die weiße Bevölkerung. Als Resultat findet man eine | |
wachsende Nostalgie nach einer besseren Zeit: „Make America great again!“ | |
ist der exemplarische Schlachtruf, unter dem sich die Rechtspopulisten | |
dieser Tage versammeln, man muss nur „America“ durch das jeweilige Land | |
ersetzen. Diese wehmütige Rückwärtsgewandtheit nach einer vergangenen, aber | |
vermeintlich wiederholbaren Zeit, einem Again, in der die Dinge angeblich | |
noch in Ordnung waren, in der Homophobie noch als Selbstverständlichkeit | |
galt, in der Frauen noch für Haus und Familie zuständig waren und Migranten | |
bestenfalls als Gäste tituliert wurden, ist auf dem Vormarsch. | |
Dieses eingangs so genannte Schlagen des falschen liberalen Esels, das die | |
gesellschaftliche Liberalisierung gleichsam als Sündenbock missbraucht, | |
lässt sich allerdings nicht hinreichend über die mangelnde Analysefähigkeit | |
(der wirtschaftlichen Liberalisierung) von breiten Bevölkerungsschichten | |
erklären. | |
## Moralische Hochnäsigkeit | |
Ein weiteres erklärendes Momentum scheinen viel eher die zahlreichen | |
Kränkungen zu sein, die die doppelte Liberalisierung breiten | |
Bevölkerungsgruppen in allen westlichen Gesellschaften zugefügt hat. Nicht | |
nur sind viele in Bedrängnis geraten, nicht nur wird es immer schwieriger | |
für sie, den Wohlstand durch eigene „harte und ehrliche“ Arbeit zu | |
erhalten, sondern zugleich sehen diese Entfremdeten, dass die Gewinner der | |
ökonomischen Liberalisierung, ein Großteil der sogenannten Besserverdiener, | |
in aller Regel auch die Taktgeber für die soziokulturelle Liberalisierung | |
sind. Diese „Doppelpack-Gewinner“ haben es durch ihre Führungspositionen | |
geschafft, dass die meisten Medien, nahezu alle politischen Parteien, | |
selbst Institutionen wie das Militär ein liberales, sich der | |
soziokulturellen Modernisierung verpflichtetes Image hochhalten, so dass es | |
auf den ersten Blick eigentlich nur verwundern kann, wie Illiberalität auch | |
nur den Hauch einer Chance in den westlichen Gesellschaften bekommen | |
konnte. | |
Warum diese hier so genannte liberale Elite trotz anhaltender ökonomischer | |
Neoliberalisierung, die auch für sie eine Bedrängnis darstellt, eine | |
emanzipationsfördernde und progressive Haltung einnimmt und bewahren kann, | |
ist schwer zu beantworten. Eventuell zeigen sich an dieser Stelle schon die | |
Früchte einer jahrzehntelangen Aufklärung durch Bildungsprozesse. | |
Diese hegemoniale Position wird jedoch in einer arroganten Weise vertreten. | |
Verbunden mit der Siegerpose dieser hauptsächlich urbanen Führungsschicht | |
ist eine moralische Hochnäsigkeit gegenüber denjenigen, die sich als | |
Missachtete wahrnehmen. Sie werden als Hinterwäldler verspottet, von | |
Hillary Clinton etwa als deplorables – zu deutsch: Jämmerliche – verhöhnt. | |
Die liberale Dominanz ertrugen die deplorables bisher bestenfalls | |
zähneknirschend. Immer weniger ertragen sie, dass aus dieser Überlegenheit | |
Überheblichkeit wurde und dass sie zunehmend dünkelhaft daherkommt. Weil | |
zudem die Vorstellung der „Hinterherhinkenden“ vom guten Leben, die oftmals | |
eine kleinbürgerliche Ordnung vorsieht, gleichsam von oben herab bespuckt | |
wird, ist in ihren Augen eine unverzeihliche Grenzverletzung: Genug ist | |
genug! Es ist also gerade der auf dem hohem Ross vollzogene Siegeszug der | |
soziokulturellen Liberalisierung, der unter neoliberalen Rahmenbedingungen | |
die rechtspopulistischen Bewegungen erst aufblühen lässt. | |
Und in dieser schon jahrzehntelang anhaltenden Situation, die sich nur in | |
eine Richtung, nämlich zugunsten der liberalen Aristokratie verändert hat, | |
erkennen die vermeintlich Gedemütigten nun zum ersten Mal eine Chance, es | |
den verhassten liberalen Eliten, deren ökonomisches, kulturelles und | |
soziales Kapital stetig gewachsen ist, zu zeigen. Als Reaktion auf diesen | |
liberalen Snobismus hat sich viel Wut und Hass aufgestaut: Dass ihre | |
Bedrängnis auch noch als kulturelle Rückständigkeit gewertet wird, ist für | |
sie eine solche Schmähung, dass sie bereit sind, Wahlentscheidungen zu | |
treffen, die als Akte des Aufbegehrens deutbar sind und von denen viele von | |
ihnen ahnen, dass sie niemals zu ihren Gunsten wirken werden. | |
Aus ihrer Sicht stehen die Dinge wie folgt: Wenn ich einen Ziegelstein | |
durch die Wohnzimmerscheibe der „wohlsituierten liberalen Mitte“, wie sie | |
von Zeit-Chefredakteur Giovanni Di Lorenzo genannt wird, werfen kann, dann | |
werfe ich ihn eben. Und wenn der einzige Ziegelstein, den ich zur Hand | |
habe, ein womöglich psychopathischer Milliardär ist (oder der Ausstieg aus | |
der EU), dann nehme ich ihn halt trotzdem. Punkt. Rationale | |
Kosten-Nutzen-Abwägungen sind bei solchen höchst affektiven Entscheidungen | |
weitgehend außer Kraft gesetzt. Der Verstand, der besagt, dass ein | |
womöglich psychopathischer Krösus nicht unbedingt die beste Hilfe für die | |
„Missachteten“ des Mittleren Westens ist, wird ignoriert. Denn im Moment | |
des Steinwurfs verschafft die Aktion den deplorables eine immense | |
Entlastung, verknüpft mit der Hoffnung, dass das Klirren der Scheiben bei | |
den Erschrockenen eine andere Haltung hervorruft. Nämlich, dass die | |
Abgehängten wieder ernster genommen werden und vielleicht sogar etwas | |
„rausbekommen“. | |
## Ein angeschwollenes Rachebedürfnis | |
Was sind die Folgen? Sehr wahrscheinlich tritt das genaue Gegenteil ein, | |
vertiefen sich die Gräben, nimmt die Abschottung zu. Die Steinewerfer | |
verspüren dies eher, als dass sie es klar erkennen können. Und dass ein | |
Teil dieser Bedrängten des Neoliberalismus damit einer Autokratie den Boden | |
bereitet, finden sie nicht ganz so schlimm. Wesentlich dominanter ist das | |
angeschwollene Rachebedürfnis. Die Bereitschaft, sich selbst Schaden | |
zuzufügen und selbstzerstörerische Wirkungen in Kauf zu nehmen, ist daher | |
groß. | |
Aus der empfundenen Position der Schwäche heraus bieten die | |
Rechtspopulisten nun den einzigen Fluchtpunkt, um es den sogenannten | |
Gutmenschen zu zeigen. Denn die deplorables finden, dass sich das Pendel | |
wieder in ihre Richtung neigen sollte – und das unter expliziter | |
Inkaufnahme von Illiberalität. Die Wut, die sich an den Geflüchteten und | |
Zuwanderern als den Fremden von außen entzündet hat, kann sich nun gegen | |
diese liberalen Fremden von innen richten. Nur durch diese Gegenwehr | |
glauben sie, sich im eigenen Land wieder heimisch fühlen zu können. | |
Der liberale Staat, dessen Aufgabe es eigentlich ist, gesellschaftliche | |
Liberalisierung bürgerrechtlich abzusichern und ökonomische Liberalisierung | |
sozial einzuhegen, gilt den Wütenden und Enttäuschten dabei nicht als | |
Verbündeter, sondern als ein schwacher Staat, der ihnen abweisend | |
gegenübersteht. Warum sollten sie in einer solchen Situation etablierte | |
Parteien wählen, die ihrer Überzeugung nach keine Vorteile für sie bringen? | |
Ihrer Ansicht nach ist es gerade der liberale Staat, der zu wenig getan | |
hat, um ihrem Bedürfnis und ihrer Forderung nach vorrangiger Privilegierung | |
gerecht zu werden. In dieser Situation ist dann eine relativ hohe Zahl an | |
Geflüchteten oder an illegalen Einwanderern nicht die Ursache für ihre | |
Entscheidung, rechtspopulistische Parteien und Führertypen zu unterstützen, | |
sondern nur der Auslöser. | |
Aus dieser Schwäche der liberalen Gesellschaft und des liberalen Staates | |
erwächst bei denen, die „im Schatten stehen“, der Wunsch nach einem | |
autoritären Staat; möge doch dieser zu ihren Gunsten eingreifen. Dieser | |
Wunsch lässt sich nachvollziehen, gerade weil diese, sich der | |
Gegenaufklärung zugewandten Bedrängten, ihre Position als eine Position der | |
Schwäche verstehen. Umso mehr suchen sie deshalb nach einer starken Hand, | |
die nach Möglichkeit die soziokulturelle und zugleich die ökonomische | |
Liberalisierung stoppen soll. Die Wette auf den starken Staat und auf den | |
autoritären Führer, der par ordre du mufti die neoliberalisierte | |
Globalisierung stoppen möge, indem er etwa Konzerne dazu „verdonnert“, | |
Arbeitsplätze nicht auszulagern, mag zwar naiv sein, erscheint ihnen aber | |
als einziger Ausweg. | |
## Der starke Mann soll die Marktkräfte bändigen | |
Es ist das Prinzip Hoffnung. Eine mächtige, ordnende Hand soll schützend | |
agieren, die alten Verhältnisse wieder herstellen. Es ist gleichsam der | |
Wunsch nach einem Deus ex Machina. Dass diese Hand mit einem harten Besen | |
ausgestattet ist und demokratische Werte hinwegfegen kann, ist den | |
Befürwortern (die hoffen, es mögen kleine Wunder geschehen) keine vertiefte | |
Betrachtung wert. | |
Durch ihr Setzen auf das falsche Pferd – das des illiberalen Autoritarismus | |
(indem es der durchgreifende autoritäre Staat richten soll) – goutieren sie | |
also zwei Dinge: Erstens eine Zurückweisung der gesellschaftlichen | |
Liberalisierung. Und zweitens auch eine durchaus neoliberal-kritische | |
Stoßrichtung: Der autoritäre „starke Mann“ soll auch die Marktkräfte | |
bändigen. In gewisser Weise lässt sich Rechtspopulismus daher als eine | |
Revolte gegen den Neoliberalismus deuten. Ob eine Politik allerdings, die | |
Protektionismus, Strafzölle, Grenzwälle und Abschottung gegenüber | |
Einwanderung mit Steuersenkungen und Deregulierungen verbindet, als | |
anti-neoliberal gelten kann, ist eine andere Frage. Meiner Ansicht nach ist | |
sie klar zu verneinen. | |
Der Versuch des Rückzugs jedenfalls in ein „Heartland“, so Paul Taggart, | |
das mit rigiden Maßnahmen gegen alle Stürme der Globalisierung geschützt | |
werden soll, ist aus Sicht vieler Bedrängter eine gute Lösung. Zumal eine | |
bessere als sie die repräsentativen und liberalen Demokratien in den | |
letzten Jahrzehnten geliefert haben. | |
Insofern ist das Modell Putin – das als autokratisches Muster sich auch in | |
den Demokratien des Westens allmählich zu universalisieren scheint – als | |
das Versagen der Verteidiger liberaler Ordnungen zu deuten: Die Verteidiger | |
der liberalen Ordnungen waren nicht in der Lage, in all den Jahrzehnten den | |
Siegeszug des ungezügelten Neoliberalismus einzuhegen und zeitgleich | |
solidarischere Gegenmodelle zu etablieren. Dass autokratische | |
Herrschaftsformen oder zumindest eine Re-Ethnisierung der Demokratie gerade | |
Konjunktur haben, zeigt zudem, wie wenig die Idee der liberalen Demokratie | |
verwurzelt ist. | |
## Wohlstandschauvinismus der liberalen Elite | |
Warum aber erkannte dies die liberale Elite nicht und reagierte | |
entsprechend? Die Gründe sind vielfältig. So ist sie als Mitbedrängte | |
selbst dem unaufhörlichen Druck des Neoliberalismus ausgesetzt. Dieser | |
führt oft dazu, dass die Fähigkeit dieser Elite, nämlich für einen | |
gesellschaftlichen Ausgleich und gerechtere Verhältnisse zu sorgen, nicht | |
gewachsen, sondern eher verkümmert ist. Bei allem zivilgesellschaftlich | |
beachtlichem Engagement, etwa in der Flüchtlingsarbeit, ist eine | |
selbstbezogene Haltung vieler Liberaler zu diagnostizieren. | |
Die Bereitschaft, sich für politisch wirksame Maßnahmen einzusetzen, die | |
die Repressionen durch den Neoliberalismus reduzieren, zugleich aber den | |
eigenen Status gefährden, ist sehr gering. Die „Furcht vor | |
Statusverlusten“, wie sie Jürgen Habermas bei den Anhängern der | |
Rechtspopulisten findet und die er als „Regressionsphänomene“ tituliert, | |
finden sich daher auch bei den aufgeklärten Liberalen. | |
Die stressproduzierende Verdichtung der Neoliberalisierung führt also nicht | |
nur bei denjenigen, die sich den Rechtspopulisten zuwenden, zu einer | |
Entsolidarisierung, sondern auch bei den liberalen Eliten. Das neoliberale | |
Diktum, alles sei einer nüchternen Nutzenmaximierung zu unterwerfen und der | |
homo oeconomicus stelle das zentrale Leitbild dar, hat gerade bei ihnen | |
einen Wohlstandschauvinismus erzeugt, der vorrangig die Absicherung der | |
eigenen Prosperität anspricht. Die Ellbogengesellschaft ist erkennbar auch | |
ins liberale Milieu vorgedrungen. Oder, um Fassbinders Filmtitel | |
umzuformulieren: Es gilt nicht nur, Angst essen Seele auf, sondern auch: | |
Druck essen Solidarität auf. Und dies in allen Lagern. | |
In dieser demokratiegefährdenden Situation helfen wohl nur politischen | |
Strategien, die tatsächlich gesellschaftliche Gegenmodelle zur neoliberalen | |
Globalisierung durchzusetzen – und zugleich die liberalen Demokratien | |
erhalten. Kurzum: Den richtigen Esel zu schlagen und aufs richtige Pferd zu | |
setzen. Wie aber sollen diese Gegenmodelle aussehen? Wer kann diese in | |
bedrängten Zeiten vorantreiben? Haben wir die Kraft dazu? Und reicht uns | |
die Zeit dafür überhaupt noch aus? | |
14 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Helmut Däuble | |
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