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# taz.de -- Erziehung in Russland: Gewalt von Kindesbeinen an
> Die Gräueltaten von Russlands Armee entsetzen auch manche russische
> Bürger*innen. Doch Gewalt ist tief in Russlands Gesellschaft verankert.
Bild: Wer sich nicht wehrt, ist selber schuld: Spielende Jungs in Kaliningrad
Moskau taz | Szenen von einem Spielplatz irgendwo im Zentrum Moskaus. Die
Kinder rennen umher, die Kinder lachen, die Kinder versuchen sich an
Klettergerüsten. „Komm da runter, habe ich dir gesagt, du Nichtsnutz!“,
schreit eine Mutter ihren Sohn an. „Hör sofort auf zu brüllen, sonst kommt
der Polizist und holt dich, du Drecksau“, sagt ein Vater zu seiner
Dreijährigen, die sich auf den Standpunkt stellt, den Spielplatz nicht
verlassen zu wollen und das mit lautem Weinen bekundet.
Plötzlich rennt eine Mutter hinter einem Jungen her, wirft ihn zu Boden,
stellt sich über ihn, hebt den Finger und ereifert sich: „Du machst das
nicht noch mal, du Dummkopf. Du hast mein Kind angerempelt.“ Lediglich zwei
Erwachsene erheben ihre Stimme für den Jungen am Boden. Die anderen schauen
weg, manche feuern die Frau sogar an: „Wenn man den Gören alles erlaubt und
alles durchgehen lässt, werden sie nie Ruhe geben. Das darf man nicht
zulassen.“
Es sind Szenen des russischen Alltags. Szenen, die sinnbildlich sind für
eine Gesellschaft, die Gewalt von Kindesbeinen an erfährt und sie ausübt,
als banale Realität, die oft gar nicht in Frage gestellt wird. Und wenn
doch, so wird das Hinterfragen, wird der Zweifel von der Umgebung meist als
Schwäche ausgelegt, als „Gift aus dem Westen“. Kinder gehörten abgehärtet
für das Leben, sagen die Menschen sich und all den anderen.
Abhärtung bedeutet das Hinnehmen von Demütigungen, bedeutet, sich zu fügen
und zu gehorchen. Die Angst vor Strafe – das Wort für „Bestrafung“ kennen
schon die Kleinsten – ist groß. So lernen bereits Kinder, „gut“ und „b…
zu sein, bloß nicht aufzufallen. „Querulanten“ sind nicht geschätzt in der
russischen Gesellschaft, die auf Hierarchie und Unterordnung aufgebaut ist.
## Lehrer*innen demütigen ihre Schüler*innen
Die Erfahrung, mit seinen Wünschen und Bedürfnissen nicht wahrgenommen zu
werden, oft über Jahrzehnte hinweg, die erlernte Hilflosigkeit, die auch
Aggression gebiert, wird über Generationen weitergegeben. Die
[1][Gräueltaten der russischen Armee] in der Ukraine, die auch in Russland
bei vielen für fassungsloses Entsetzen sorgen, sind Teil der Norm
russischer Gewaltapparate. Einer verinnerlichten Gewalt, die sich praktisch
durch alle Bereiche des Lebens zieht. Sie äußert sich in Sprache und auch
als Tat. Sie ist ein Machtprinzip und bleibt oft unbestraft.
Lehrer*innen demütigen ihre Schüler*innen, um zu zeigen, wer der
Stärkere ist. Beschweren sich die Eltern, drohen Direktor*innen mit dem
Einschalten der Fürsorge-Organe. Aus Angst ziehen die Eltern meist zurück
und beruhigen sich damit, dass es in ihrer Schulzeit nicht anders gewesen
sei. Im Umgang der Gesellschaft mit Schwächeren spielt Gewalt eine noch
offensichtlichere Rolle.
Waisenheime, in denen oft soziale Waisen leben, also Kinder mit noch
lebenden Verwandten, sind mehrheitlich am Stadtrand zu finden, hinter
Toren, die für Außenstehende – und seien es Schulfreunde dieser Kinder –
nicht leicht zu passieren sind.
Das kasernenhafte Leben, in dem „Unartigkeiten“ auch schon einmal mit dem
Einweisen in psychiatrische Krankenhäuser bestraft werden, vermittelt
bereits Kleinstkindern eine Welt, in der es ums Überleben mit allen Mitteln
geht. Und Überleben funktioniert nur durch den Einsatz von Gewalt, davon
sind die Menschen überzeugt. „Du musst dich wehren, zuhauen“, bringen viele
Eltern im Land ihren Kindern bei.
## Ein Fünftel russischer Frauen erlebt Gewalt durch Partner
Gewalt wird zur Norm – und zum Tabu. Auch unter Paaren und in Familien. Den
Satz „Wenn er schlägt, dann liebt er“ aus einem mittelalterlichen
Gesetzeskodex und das daraus folgende Verhalten nehmen auch heutzutage
viele Russ*innen als Normalität in einer Beziehung hin. Verlässliche
Zahlen zur häuslichen Gewalt gibt es nicht. Laut Umfragen hat mindestens
ein Fünftel der russischen Frauen Gewalt durch den Partner erlebt, die
Dunkelziffer dürfte weit höher liegen.
Vergewaltigung in der Ehe sehen viele in der Gesellschaft als das Einlösen
„ehelicher Pflicht“ an, nicht als Straftat. Ohnehin ist „häusliche Gewal…
in russischen Gesetzen nicht definiert. Der russische Staat hält dies nicht
für notwendig. Es gebe ja viele andere Gesetze, „ein Gesetz gegen
Hooliganismus zum Beispiel“, hatte Russlands Präsident Wladimir Putin 2019
gesagt. Geändert hat sich an der zynischen Haltung seitdem nichts.
Häusliche Gewalt gilt in Russland als Bagatelle und wird mit einem Bußgeld
von umgerechnet 50 Euro geahndet. [2][Als der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte Russland vor einigen Jahren dazu aufforderte], Frauen besser
vor häuslicher Gewalt zu schützen, bezeichnete das russische
Justizministerium „das Problem“ als „deutlich übertrieben“ und sah die
Forderung der Straßburger Richter als „Diskriminierung von Männern“ an.
## Justiz und Exekutive haben keinen Umgang
Diese Aussagen zeigen die grundlegende Haltung des russischen Staates zur
Gewalt in Familien. Weil die Gesetzeslage so unklar ist, wissen selbst
Polizist*innen oft nicht, wie sie sich verhalten sollen. Auch
Richter*innen weisen Klagen gegen schlagende Ehemänner, Väter und
Partner regelmäßig ab, ein Richter äußerte dabei mal den lapidaren Satz:
„Für die Klägerin hat Gewalt Systemcharakter, sie müsste ja dran gewöhnt
sein.“
Letztlich ist die gesamte Gesellschaft an Gewalt „gewöhnt“. [3][Jede
Demonstration], vor allem, wenn sich die Menschen dabei in ihren
Forderungen gegen die Regierung richten, ist von Polizeigewalt durchsetzt.
Die brachial auftretenden OMON-Sonderpolizisten prügeln mit ihren
Schlagstöcken auch auf Minderjährige ein und schleifen bereits Blutende in
die Polizeitransporter. Gerichte verurteilen danach die Demonstrant*innen,
weil sie angeblich Polizisten angegriffen hätten.
In der Armee unterwerfen sich Rekruten älteren Soldaten. Das Russische hat
einen Begriff dafür: „Dedowschtschina“. Die sogenannte „Herrschaft der
Großväter“ ist ein noch aus der Zarenzeit übriggebliebener Initiationsritus
der russischen Streitkräfte und bezeichnet die systematische Misshandlung
von Soldaten.
Häufig konfiszieren die Dienstälteren – „Dedy“ genannt, die Großväter…
privaten Besitz der Dienstjüngeren – „Duchi“, Geister. Sie nehmen sich i…
Essensrationen, manchmal auch den Sold. Sie missbrauchen sie als
Arbeitssklaven, verleihen sie gegen Geld als Fremdarbeiter an Firmen. Sie
prügeln und vergewaltigen.
## Systematische Folter im Gefängnis
Die Wehrreform reduzierte die „Dedowschtschina“, weg ist sie dennoch nicht.
Der Hackordnung innerhalb der Armee, einem traditionell geschlossenen Raum,
halten viele Wehrdienstleistende nicht stand. Manche töten andere, manche
sich selbst. Der Kreml bezeichnet solche „Zwischenfälle“ stets als
„Privatsache eines Einzelnen“.
Die Mechanismen finden sich auch im russischen Gefängniswesen wieder.
Gelangen Aufnahmen von systematischer Folter in den Strafkolonien des
Landes an die Öffentlichkeit, zucken viele in Russland mit den Schultern.
„Ist ja schließlich Knast“, sagen sie dann und wollen sich mit dem Ausmaß
der Missstände nicht beschäftigen.
Das konnte man auch bei einem Gefängnisskandal vom Oktober 2021 sehen, als
ein ehemaliger Häftling mit Bild- und Videomaterial [4][zahlreiche Fälle
von sexualisierter Gewalt und Folter durch Sicherheitspersonal belegte].
Einzelne Verantwortliche mussten gehen, grundsätzliche Reformbestrebungen
gab es nicht.
Die Traditionen in der „Zone“, wie die Haft in Russland genannt wird,
stammen ebenfalls aus der Zarenzeit. Im Stalinismus wurden die Methoden der
Entmenschlichung geradezu perfektioniert. Bis heute stützt sich das
russische Straflagersystem – streng hierarchisch und militärisch
organisiert – auf den Gulag, manche Lager aus dieser Zeit werden immer noch
als Strafkolonien genutzt. Es sind geschlossene Systeme, in denen es um
Bestrafung, nicht um die Beschäftigung mit dem Verbrechen geht.
In der Ukraine zeigt sich, wie der russische Staat Gewalt fördert und gar
rühmt: Jener Infanteriebrigade, der Kiew Kriegsverbrechen und massenhafte
Tötungen in der Stadt Butscha vorwirft, verlieh Putin für „Heldentum und
Tapferkeit, Entschlossenheit und Mut“ den Ehrentitel einer „Garde“. Die
russische Gesellschaft lebt so weiter in der Straflosigkeit der Gewalt,
weil ihr Präsident Gewalt zum Prinzip seiner Politik gemacht hat.
5 Jul 2022
## LINKS
[1] /Vorwurf-russischer-Kriegsverbrechen/!5845822
[2] /Aus-Le-Monde-Diplomatique/!5642899
[3] /Brutale-Festnahmen-bei-Demo-in-Moskau/!5609743
[4] https://www.dw.com/de/folter-videos-in-russland-abu-ghuraib-an-der-wolga/a-…
## AUTOREN
Inna Hartwich
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