| # taz.de -- Erhöhung der Hartz-IV-Sätze: Das Elend wird weitergehen | |
| > Die Mini-Erhöhung der Bedarfssätze zeigt den Zynismus des | |
| > Hartz-IV-Systems. Auch nach der Wahl können Betroffene kaum Unterstützung | |
| > erwarten. | |
| Bild: Suche nach Pfandflaschen zur Aufstockung der kargen Sozialhilfe | |
| [1][3 Euro mehr] soll es also ab dem kommenden Jahr für Hartz-IV-Bezieher | |
| geben. Eine Erhöhung, die so lächerlich gering ist, dass sie Betroffenen | |
| den Zynismus des Arbeitslosengeld-II-Regimes noch einmal vor Augen führt. | |
| Denn mit 449 Euro monatlich ist ein menschenwürdiges Leben ebenso wenig | |
| möglich, wie mit 446 Euro. Ein armutsfester Regelsatz würde laut | |
| Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes mindestens 644 Euro | |
| betragen. | |
| Doch seit Jahren nutzt die Bundesregierung jede Möglichkeit, um den | |
| Regelsatz möglichst klein zu rechnen – sei es durch Änderungen bei der | |
| Referenzgruppe oder das Ausklammern von Beträgen zur soziokulturellen | |
| Teilhabe. Die „Erhöhung“ in diesem Jahr fällt unter anderem deshalb so | |
| gering aus, weil wegen der [2][vorübergehenden Mehrwertsteuersenkung] im | |
| vergangenen Jahr der Wert des Warenkorbs sank, der größtenteils als | |
| Referenz zur Berechnung der Bedarfssätze dient. | |
| Was Arme eigentlich entlasten sollte, wird Hartz-IV-Empfängern nun zum | |
| Verhängnis. Die nun übrig gebliebenen 3 Euro mehr im Monat dürften von der | |
| [3][Inflation] aufgefressen werden. Effektiv senkt das SPD-geführte | |
| Sozialministerium das Arbeitslosengeld II. Während die SPD im Wahlkampf | |
| vollmundig davon spricht, Hartz IV hinter sich zu lassen, nickt sie in der | |
| Regierung weiter Armutssätze ab. | |
| Dabei war es die SPD unter Bundeskanzler Gerhard Schröder, die das | |
| menschenunwürdige Hartz-System überhaupt erst implementierte – und so einen | |
| Keil in die Gesellschaft trieb, der die Armen vom Rest abtrennt. Doch statt | |
| einer klaren Entscheidung, die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren, | |
| gibt es nur ein wages Bekenntnis zu einem ominösen „Bürgergeld“, von dem | |
| gar nicht klar ist, ob es sich entscheidend vom derzeitigen System | |
| unterscheidet. | |
| Bei der SPD hat man sich nicht einmal die Mühe gemacht, auszuformulieren, | |
| wie hoch die Bedarfssätze für Erwachsene sein sollen oder wie und ob | |
| sanktioniert werden soll. Besonders hoch wollen die Sozialdemokraten das | |
| Thema offenbar ohnehin nicht hängen. Mit [4][Olaf Scholz] ist zudem einer | |
| der vehementesten Verfechter der Agenda 2010 SPD-Spitzenkandidat. Kurz: Von | |
| der SPD sollten sich die mehr als 5,5 Millionen Hartz-IV-Betroffene auch | |
| nach einem etwaigen Wahlsieg nicht allzu viel Hilfe erwarten. | |
| ## Grüne weichen Forderungen auf | |
| Auch bei den Grünen sitzen Teile des damaligen Agenda-Personals noch fest | |
| im Sattel. [5][Katrin Göring-Eckardt], damals wie heute | |
| Fraktionsvorsitzende im Bundestag, bezeichnete Sanktionen für Arbeitslose | |
| einst als „Bewegungsangebote“ – kritisiert nun aber die mickrige | |
| 3-Euro-Erhöhung. In der Politik ist das Gedächtnis kurz. 2020 warben die | |
| Grünen noch für eine Grundsicherung von mehr als 600 Euro, beim [6][Grünen | |
| Parteitag] in diesem Jahr einigte man sich auf eine Erhöhung von nur 50 | |
| Euro. | |
| Offenbar in Vorbereitung auf Koalitionsverhandlungen mit der Union | |
| entschärfte man die eigenen sozialpolitischen Forderungen schon einmal, | |
| bevor überhaupt gewählt wird. Auch hier muss man sich fragen, wie ernst die | |
| Grünen es überhaupt mit ihren Forderungen meinen. Zumindest an der | |
| Kindergrundsicherung von bis zu 547 Euro scheint Kanzlerkandidatin Annalena | |
| Baerbock festhalten zu wollen – auch die SPD hat einen entsprechenden | |
| Vorschlag unterbreitet. | |
| Sicherlich eine sinnvolle Maßnahme, aber Baerbock umgeht damit geschickt | |
| das Gesamtproblem. Kinder mag jeder, Kinder können nichts für ihren | |
| sozialen Status – wer kann schon etwas dagegen haben, ihnen mehr Geld zu | |
| geben? Doch auch alleinstehenden Erwachsenen in Hartz IV geht es schlecht. | |
| Und 50 Euro mehr im Monat, wenn sie denn kämen, reichen nicht. | |
| Bei der CDU versucht Friedrich Merz in seinem immer verzweifelter werdenden | |
| Kampf um öffentliche Wahrnehmung derweil die menschenverachtende Rhetorik | |
| der Nullerjahre zu reaktivieren. Merz will eine Arbeitspflicht für | |
| Arbeitslose, beziehungsweise in seinen Worten, will er sie „mal ein | |
| bisschen an der Krawatte ziehen“. Doch mit dieser Haltung steht Merz | |
| glücklicherweise allein da. | |
| Die Mär vom faulen Arbeitslosen, die die Implementierung der Agenda | |
| begleitete, ist kaum noch zu vernehmen. Doch von einem rhetorischen zu | |
| einem politischen Wandel ist der Weg weit. Vor allem, wenn absehbar ist, | |
| dass das Thema Hartz IV für zwei der drei „linken“ Parteien im Bundestag | |
| nur eine untergeordnete Rolle spielt. Die einzige Partei, die sich | |
| konsequent für eine Abschaffung des Hartz-IV-Regimes ausspricht, ist die | |
| Linkspartei. | |
| Und mit der wollen weder die Spitzen von Grünen noch der SPD etwas zu tun | |
| haben. Gerade Annalena Baerbock spricht der Linkspartei regelmäßig die | |
| Regierungsfähigkeit ab und schielt in Richtung der FDP. Doch mit den Freien | |
| Demokraten dürften sich soziale Errungenschaften kaum durchsetzen lassen. | |
| Das Hartz-IV-Elend wird also weiter gehen – vermutlich noch sehr lange. | |
| 16 Sep 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.tagesschau.de/inland/hartz-kabinett-101.html | |
| [2] /Ende-der-Mehrwertsteuersenkung/!5736182 | |
| [3] /Inflation-steigt-auf-38-Prozent/!5793268 | |
| [4] /Olaf-Scholz-ueber-die-Kanzlerschaft/!5760440 | |
| [5] /Kommentar-Goering-Eckardt/!5079670 | |
| [6] /Parteitag-der-Gruenen/!5774736 | |
| ## AUTOREN | |
| Jörg Wimalasena | |
| ## TAGS | |
| Annalena Baerbock | |
| Schwerpunkt Armut | |
| Hartz IV | |
| GNS | |
| Olaf Scholz | |
| Agenda 2010 | |
| Ampel-Koalition | |
| Schwerpunkt Armut | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| Sozialverband | |
| Ampel-Koalition | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Bürgergeld statt Hartz IV: Etikettenschwindel | |
| Im rot-grün-gelben Sondierungspapier ist von einem Bürgergeld die Rede. | |
| Doch abgeschafft wird das menschenfeindliche Hartz IV-System damit nicht. | |
| Ein Tag am Jobcenter Neukölln: Nur mit Termin | |
| Anfang 2022 soll der Hartz-IV-Regelsatz um 3 Euro steigen. Was fängt man | |
| damit an? Hartz-IV-Empfänger:innen berichten. | |
| Hartz-IV-Sätze und Corona: Arme zahlen drauf | |
| Die Hartz-IV-Sätze drohen unter das Existenzminimum zu sinken, so ein | |
| Gutachten. Das dürfte die neue Regierung unter Handlungsdruck setzen. | |
| Hartz IV Beziehende und die Wahl: „Wir werden nicht gesehen“ | |
| 446 Euro hat Manuela Ammler pro Monat zum Leben. Dass sich durch die Wahl | |
| etwas ändert für Hartz-IV-Betroffene, hofft sie längst nicht mehr. | |
| Hartz IV und Ernährung: Strauchtomaten als Luxusgut | |
| Der Sozialverband VDK warnt: Obst und Gemüse wird durch Preissteigerungen | |
| für Arme unerschwinglich. Fertigprodukte sind oft billiger. | |
| Politikwissenschaftler über SPD: „Da ist etwas revitalisierbar“ | |
| Die SPD hat aus den Fehlern von 2017 gelernt, sagt der | |
| Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder. Er plädiert für eine belastbare | |
| Koalition der Mitte. | |
| Jan Korte über R2G-Debatte: „Die Sorge, frikassiert zu werden“ | |
| Warum auch die Linkspartei Bange vor einer rot-grün-roten Regierung hat, es | |
| aber dennoch wagen sollte, erklärt der Linken-Politiker Jan Korte. | |
| Mögliches Bündnis aus SPD, Grünen, FDP: Was kann die Ampel? | |
| SPD, Grüne und FDP könnten die nächste Regierung bilden, unter einem | |
| Kanzler Olaf Scholz. Nur: Da, wo es ums Geld geht, sind die Gräben tief. | |
| Olaf Scholz vor der Bundestagswahl: Der kichernde Dritte | |
| Olaf Scholz ist beliebter als Laschet und Baerbock. Profitiert er nur von | |
| deren Fehlern? Oder spricht doch mehr für die SPD, als viele dachten? |