# taz.de -- Politikwissenschaftler über SPD: „Da ist etwas revitalisierbar“ | |
> Die SPD hat aus den Fehlern von 2017 gelernt, sagt der | |
> Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder. Er plädiert für eine | |
> belastbare Koalition der Mitte. | |
Bild: Kann Olaf Scholz die SPD revitalisieren? | |
taz: Herr Schroeder, haben Sie [1][den wundersame Wiederaufstieg der SPD] | |
geahnt? | |
Wolfgang Schroeder: Nein. Aber ich war sicher, dass die SPD mehr Stimmen | |
bekommen wird als die Grünen, die traditionell in Umfragen überbewertet | |
werden. Aber dass sich das sogenannte bürgerliche Lager so zerlegt, | |
überrascht mich. | |
Ist das die Stärke der SPD oder die [2][Schwäche der Konkurrenz]? | |
Beides. Die SPD hat aus den Fehlern 2017 gelernt und früh ihren Kandidaten | |
präsentiert. Und sie hat in den letzten zwei Jahren ihre inneren | |
Kräfteverhältnisse konstruktiv ausbalanciert. | |
Wo ist die SPD-Krise geblieben? Überalterung, Volkspartei als | |
Auslaufmodell, keinen Kontakt mehr zur Unterschicht, abgekapselt von der | |
Gesellschaft – das hat sich ja nicht in Wohlgefallen aufgelöst. | |
Einspruch. Mit Ausnahme der CSU ist keine Partei so stark in der | |
Gesellschaft verankert wie die SPD. Die Sozialdemokratie hat starke Zugänge | |
zu Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden, Kirchen, Sport und Kultur. Die | |
organisierte Zivilgesellschaft, die positiv auf den Basiskonsens dieser | |
Republik verpflichtet ist, ist mit der SPD im Gespräch. | |
Es gibt keine Krise der Volksparteien? | |
Doch. Diese SPD ist nicht mehr die Milieu- und Klassenpartei, die sie | |
einmal war. Sie hat bei Mitgliedern und bei den Wählerinnen und Wählern | |
große Defizite, was die Repräsentation angeht. Aber sie ist in der | |
Gesellschaft verwurzelt. Wir sprechen zu wenig über Territorialität. | |
Das heißt? | |
Union und SPD sind in fast hundert Prozent aller Kommunalparlamente | |
vertreten. Die Grünen in 60 Prozent, die FDP in 40 Prozent und die Linke | |
nur in 25 Prozent. Nur die alten Volksparteien sind überall vor Ort | |
präsent. Das war auch ein Grund, warum Winfried Kretschmann in | |
Baden-Württemberg weiter mit der Union regiert. Die Grünen stellen nur ein | |
paar Bürgermeister und Landräte, die CDU fast alle. Da ist es schwer, | |
Windräder durchzusetzen. | |
Im Süden Deutschland, von Görlitz bis zum Schwarzwald, ist die SPD eine | |
Zehn-Prozent-Partei. | |
Die Präsenz der SPD ist sehr unterschiedlich. Aber auch da, wo sie schwach | |
ist, gibt es einzelne Brückenköpfe, etwa bei Kirchen, Gewerkschaften und | |
Wohlfahrtsverbänden. Auch wenn diese gesellschaftlichen Andockstellen an | |
Relevanz verlieren. Aber wenn es eine Dynamik und eine Idee gibt, hat die | |
SPD Resonanzböden. Da ist etwas revitalisierbar. Wenn man sich den | |
Mentalitätshaushalt dieser Republik anschaut, dann sieht man, dass sich die | |
Mehrheit links der Mitte sieht und Gleichheit, Freiheit und Solidarität | |
schätzt. | |
Die SPD zielt auf ein Bündnis mit Grünen und [3][FDP]. Geht das? | |
Die FDP ist der unberechenbarste Faktor im Parteiensystem. Nach 2009 ist | |
die FDP wie eine Laienschauspielgruppe aufgetreten. Das hat sich 2017 | |
wiederholt, als sie die Jamaika-Verhandlungen gesprengt hat. Auch jetzt ist | |
unklar, ob sie in der Lage ist, als halbwegs professionell, routiniert | |
arbeitende Gruppe aufzutreten und auf der Ebene von Ministern, | |
Staatssekretären, Abteilungsleitern handlungsfähig zu sein. Die FDP ist | |
eine Wundertüte mit einem Jahrmarktsredner an der Spitze. Sie kann schnelle | |
Headlines und eine effekthaschende Aufmerksamkeitspolitik. Aber auf | |
zentralstaatlicher Ebene fehlen für die letzten zwölf Jahre Beweise | |
dafür, dass diese Partei gut aufgestellt ist. | |
Bei der Steuerpolitik liegen zwischen SPD und FDP Welten. Die FDP will | |
massive Steuersenkungen. | |
Die steuerpolitischen Vorschläge der FDP sind mindestens so gefährlich wie | |
die außenpolitischen Vorstellungen der Linkspartei. Es ist zwar richtig, | |
die Investitionsbedingungen für Unternehmen zu verbessern. Aber mit dem | |
Finanzkonzept der FDP bräuchte man – so Berechnungen der | |
wirtschaftswissenschaftlichen Institute – in den nächsten vier Jahren ein | |
durchschnittliches Wirtschaftswachstum von zehn Prozent pro Jahr, um die | |
Haushaltssituation der öffentlichen Haushalte nicht weiter unter Druck zu | |
setzen. Das ist unseriös. | |
Was spricht dann für eine Ampelkoalition? | |
Erstens gibt es eine Fülle von Schnittmengen zwischen Grünen und SPD bei | |
der Gesellschafts- und Bildungspolitik. Zweitens: Deutschland lässt sich | |
nur regieren, wenn man in der Mitte eine Allianz hinbekommt, die in der | |
Lage ist, etwas für die Ränder und die Schwachen zu tun. Der Kern | |
sozialdemokratischer Politik ist das Bündnis zwischen Unterschichten und | |
entwickelten Mittelschichten. Dieses Bündnis kann man machtpolitisch nicht | |
realisieren, indem man es von der Peripherie aus gestaltet. Man muss es vom | |
Zentrum aus gestalten. Das hat die SPD verstanden. Es muss am Ende eine | |
belastbare Koalition in der Mitte geben. Bei Abwägung aller Dinge wäre das | |
eine Ampelkoalition. | |
Die wäre aber aus der Not geboren … | |
Nein, es gäbe eine dreiteilige Erzählung der drei Is. Das erste ist | |
Investitionen. Da gibt es einen riesigen Nachholbedarf. Diese Investitionen | |
müssten aber auch zu Innovationen beitragen, die vom Mittelstand über | |
Großunternehmen bis zur staatlichen Infrastruktur reichen. Der dritte Punkt | |
ist Inklusion. Wir brauchen angesichts der demografischen Entwicklung und | |
des Arbeitskräftemangels in Zukunft viel mehr Einwanderung. Sonst werden | |
wir das Wohlstandsniveau nicht halten. | |
Fragt sich trotzdem, wie die SPD bei Vermögenssteuer oder 12 Euro | |
Mindestlohn mit der FDP auf einen grünen Zweig kommt. Gibt sie zu sehr | |
nach, zerbricht der Frieden zwischen Scholz und der SPD-Linken. | |
Die sozialdemokratische Linke denkt realpolitisch. Sie braucht natürlich | |
Projekte wie den Mindestlohn. Hinzu kommen Maßnahmen im Bereich der | |
ökologischen, industriellen Erneuerung, bei Qualifizierung und der | |
Einwanderungsgesellschaft. | |
Es gäbe keinen Aufstand gegen die Ampel? | |
Nein. Die Merkel-Ära hat gezeigt, dass das Kanzleramt eine Deutungshoheit | |
in dieser Republik mit sich bringen kann. Das wäre eine Chance für | |
sozialdemokratische Politik. Es braucht bei einer Regierungsbildung unter | |
SPD-Führung nicht zu den alten Kämpfe zu kommen, wenn man lernen will. | |
Aber sind die Schnittmengen der SPD mit der Linkspartei nicht größer? | |
Jenseits von Außen-, Verteidigungs- und Europapolitik lässt sich die | |
Linkspartei in eine positive, progressive Allianz einbinden. In ihrer | |
Regierungspraxis von Thüringen bis Bremen gibt es auch keine | |
Schauergeschichten, wie wir sie von der FDP kennen. Die Angst von Scholz im | |
Hinblick auf die Außenpolitik ist aber verständlich. Die Regierung einer | |
Führungsmacht in Europa kann nicht laufend kleinteilige Debatten darüber | |
führen, ob jeder Auslandseinsatz auch im Interesse der kleinsten Partei | |
einer Koalition ist. Die Linkspartei hat hier bei der Abstimmung zum | |
Afghanistan-Einsatz einen dramatischen Fehler gemacht. | |
Sie hätten Ja sagen müssen? | |
Natürlich. Stattdessen hat sie eine kleinkarierte Debatte geführt, die kaum | |
jemand versteht und auch vielen in der Linkspartei peinlich ist. Das war | |
kein Zeichen für kooperatives Handeln in der Zukunft. Meine Prognose ist: | |
FDP und Linkspartei müssten beide während der Koalitionsbildung und | |
Regierungsarbeit enorme Lernprozesse absolvieren. Die Lernprozesse sind | |
aber unterschiedlich. Bei der Linkspartei geht es stärker um wertebezogene | |
Grundsatzfragen, die tief in der DNA der Partei verankert sind. Das hat die | |
Afghanistan-Abstimmung gezeigt. Bei der FDP scheint mir die Frage, wie man | |
die Bedingungen für Investitionen verbessert, nicht deren DNA zu berühren. | |
Daher sind Lernprozesse einfacher zu stimulieren. Hinzu kommt: Die FDP ist | |
beim Regieren meist ähnlich anspruchslos wie die CDU. Diese anspruchslose | |
Teilhabe an der Macht ist, unter der Bedingung der Befriedung der eigenen | |
Klientel, möglich, ohne Wertefragen zu mobilisieren. | |
Übersetzt: Die SPD will bloß keine Mitte-links-Regierung. | |
Nicht ganz. Erst einmal ist es noch längst nicht ausgemacht, dass die SPD | |
den Kanzler stellen kann. Das Rennen ist immer noch offen. Falls ja, dann | |
wären Scholz und die SPD gut beraten, erst mal auf eine Ampelkoalition zu | |
setzen. Ohne Not auf ein links-links-grünes-Bündnis umzuschwenken, wäre für | |
die Vertrauensbildung in der Mitte der Gesellschaft fatal. Anders würde es | |
aussehen, wenn die FDP aus diesem Prozess aussteigt. Dann gilt der alte | |
Satz, den auch die FDP gern zitiert: Alle Demokraten müssen miteinander | |
regierungsfähig sein. | |
17 Sep 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Umfragehoch-fuer-die-SPD-und-Scholz/!5794354 | |
[2] /Kandidat-Laschet-spricht-mit-Kindern/!5797397 | |
[3] /FDP-Chef-Lindner-ueber-Klimapolitik/!5797246 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
## TAGS | |
Ampel-Koalition | |
Wahlkampf | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
SPD | |
Rot-Grün-Rot | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
Annalena Baerbock | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Parteijugend über Koalitionen: „Rot-Grün-Rot täte Deutschland gut“ | |
Die Sprecherinnen von Jusos, Grüner Jugend und Solid sind sich einig: | |
Die Mutterparteien sollen sondieren. Denn die Schnittmengen sind groß. | |
Olaf Scholz vor Finanzausschuss: Viel Getöse mit wenig Substanz | |
Kurz vor der Wahl beschäftigt sich der Finanzausschuss mit der umstrittenen | |
Geldwäsche-Spezialeinheit. Überraschend erschien Olaf Scholz persönlich. | |
Möglicher Ausgang der Bundestagswahl: Sozialdemokratische Zerreißprobe | |
Und wenn die SPD den Wahlsieg doch noch verstolpert? Dann dürften | |
Verteilungskämpfe um die Posten in der Opposition ausbrechen. Nur Scholz | |
ist gesetzt. | |
Hans-Georg Maaßens Thüringer Wahlkreis: Campact macht Ramelow Druck | |
Um den Wahlsieg von Maaßen (CDU) zu verhindern, sieht Campact die Linke in | |
der Pflicht. Sie soll zur Wahl des SPD-Gegenkandidaten aufrufen. | |
Erhöhung der Hartz-IV-Sätze: Das Elend wird weitergehen | |
Die Mini-Erhöhung der Bedarfssätze zeigt den Zynismus des Hartz-IV-Systems. | |
Auch nach der Wahl können Betroffene kaum Unterstützung erwarten. | |
Ermittlungen gegen Scholz-Vertrauten: Von Twitter in die Schlagzeilen | |
Gegen Wolfgang Schmidt, enger Vertrauter von Olaf Scholz, laufen | |
Ermittlungen. Wer ist der Mann? Und worum geht es bei den Vorwürfen? |