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# taz.de -- Ein Tag am Jobcenter Neukölln: Nur mit Termin
> Anfang 2022 soll der Hartz-IV-Regelsatz um 3 Euro steigen. Was fängt man
> damit an? Hartz-IV-Empfänger:innen berichten.
Bild: Halbe Treppe. Stillleben, Jobcenter Berlin-Mitte, 2016
Es ist kurz nach 8 Uhr morgens vor dem Eingang des Jobcenters Neukölln.
Eine Frau wedelt mit Unterlagen vor einem Sicherheitsmann. Neben ihr steht
ein junger Mann, der in sein Handy tippt. Es ist noch ziemlich leer.
„Haben Sie einen Termin?“
„Nein, ich muss Unterlagen abgeben.“
„Im Moment nur mit Termin. Sonst nur Anruf oder Briefkasten.“
Er zeigt auf die drei silbernen Metallkästen draußen vor dem Eingang.
Corona hat auch das Jobcenter zu neuen Regeln gezwungen.
## 08.20 Uhr.
Eine junge Mutter schiebt ihren zwei Kindern geschnittene Apfelstücke in
den Mund. Der kleine Sohn schreit im Kinderwagen. Sie wartet auf ihren
Termin. „8.30 Uhr, Etage 4“, steht auf ihrem Brief. Sie hält ihn wie eine
Eintrittskarte zwischen ihren langen Fingernägeln. Der Termin ist mit
pinkem Textmarker markiert. Schon gehört? Hartz IV wird zum Jahreswechsel
um drei Euro erhöht.
„Nö. Aber drei Euro. Das ist doch nichts. Und bestimmt muss man davon dann
auch noch wieder was abdrücken.“
Das Jobcenter Neukölln: Viel Grau und viel Glas. Drinnen im Erdgeschoss ein
Netto, eine Mietschuldnerberatung. Friseur. Sicherheitsdienst. Thai Imbiss.
Vaporizer Shop. Deutsch- und Integrationskurse.
Eine Frau in Cordjacke stellt kreuz und quer schwarze Putzeimer auf den
Gängen zwischen den Schaufenstern auf. „WEIL ES HIER TROPFT“, schreit sie
durch ihre Kopfhörer. Das gesammelte Wasser aus den Eimern kippt sie in
zwei Blumenkübel. Wer einen Termin beim Jobcenter hat, läuft Slalom.
## 09.24 Uhr
Ein junger Typ um die 25 entwirrt das Kabel seiner Kopfhörer. Sein Handy
klingelt, seit er aus dem Aufzug vom Jobcenter gestiegen ist, er geht aber
nicht ran.
Neuer Regelsatz. Drei Euro mehr. Schon mitbekommen?
„Nein, ich habe keinen Brief bekommen. Scheiße, sollte ich einen Brief
bekommen haben? Gilt das für alle?“
„Ja für alle. Neuer Regelsatz.
„Krass.“
„Warum krass?
„Ja drei Euro sind drei Euro.“
„Und was machst du mit drei Euro mehr, wenn ich fragen darf?
„Ey, keine Ahnung. Aber ich hatte schon Monate, da hab ich von drei Euro
die ganze letzte Woche des Monats gelebt.“
Seit zwei Jahren ist er arbeitslos. Sein letzter Vertrag war befristet.
Eigentlich waren alle Jobs seit seiner Ausbildung befristet. Er arbeite,
seit er 17 ist, sagt er. Jetzt findet er einfach nichts Neues. „Nur hier
und da mal was schwarz. Darf ja nichts verdienen offiziell.“
Blick in das gemeinsame Sondierungspapier von SPD, Grünen und FDP vom
Freitag. Ein „Bürgergeld“ soll eingeführt werden. Zuverdienstmöglichkeit…
sollen verbessert, Anträge digitalisiert werden. An den
„Mitwirkungspflichten“ aber wolle man festhalten.
## 09.49 Uhr
Der Eingangsbereich füllt sich wieder. Der nächste Schub wartet, zum Termin
gehen zu dürfen. „Alle mit 10-Uhr-Termin bitte hier warten“, delegiert der
Sicherheitsmann.
Eine Frau steht etwas abseits. Blonder langer Zopf, pinke Fleecejacke. Sie
ist in ihre Unterlagen vertieft.
„Drei Euro mehr?“ Sie lacht etwas hysterisch. „Ja Glückwunsch, davon kann
ich mir drei Gurken kaufen. Preise werden ja immer teurer. Strom, Einkäufe,
alles. Was will ich da mit drei Euro?“
Eigentlich will sie einen Bildungsgutschein. Sie will an die
Supermarktkasse, eine Fortbildung zur Kassiererin machen. Vorher habe sie
jahrelang Gastro gemacht, aber da musste sie ständig nachts arbeiten.
Dann musste ihre Mutter auf ihre Tochter aufpassen, 9 Jahre alt. Sie sei
alleinerziehend. Dann noch die drei Bandscheibenvorfälle. Das sei
irgendwann einfach zu viel gewesen. Deshalb will sie an die Kasse, aber das
Jobcenter wolle ihr den Bildungsgutschein nicht bewilligen. „An der Kasse
bin ich nicht vielseitig genug einsetzbar, sagen sie.“ Sie solle
Einzelhandel oder Erzieherin lernen.
„Aber mit meinem Rücken kann ich halt nichts heben. Bin gespannt, was sie
heute von mir wollen. Weiß man ja vorher nie.“
Der Security-Typ ruft: „Alle mit 10-Uhr-Termin bitte jetzt hoch.“
„Sorry, muss jetzt los.“
Bei Netto nebenan suchen sie Aushilfskräfte. „Heute im Angebot: Karriere
machen“, steht auf dem Schild am Eingang. Im Kühlregal mit den
Sonderangeboten steht frische Heumilch (1,29 Euro), Butter (2,19 Euro),
Kinder Pingui (8 Stück für 1,88 Euro). Eine Salatgurke kostet hier 39 Cent.
Im September stiegen die Verbraucherpreise um 4,1 Prozent im Vergleich zum
Vorjahresmonat. In den Hartz-IV-Regelsatz wird das erst im Folgejahr
eingerechnet. So schreibt es das Gesetz vor. Drei Euro mehr, damit steigt
der Regelsatz für Erwachsene um 0,76 Prozent.
## 10.14 Uhr
Was sagt eigentlich der Sicherheitsmann? Haben Sie schon gehört, dass der
Regelsatz um drei Euro erhöht wurde?
„Das weiß doch hier eh niemand. Die Leute gucken auf ihren Bescheid und
nehmen das, was sie kriegen können. Als könnte hier jemand durchblicken,
was ihm zusteht.“
Anruf bei der Kundenhotline des Jobcenters. In der Warteschleife läuft John
Legend. „Cause all of meeeee, loves aaaaall of you“. 10 Minuten ohne
Erfolg. Zweiter Anruf. Bei der Pressestelle der Arbeitsagentur hebt schnell
jemand ab.
„Wie werden die Empfänger:innen über die Erhöhung informiert?“
„Neben der vielen medialen Berichterstattung bekommen alle einen Bescheid.“
„Wann?“
„Das ist sehr individuell, aber alle bekommen Bescheid.“
„Dieses Jahr noch?“
„Ja, das sollte so sein.“
## 10.57 Uhr
Ein junger Typ kommt an. Beige Kappe, runde Brille, verwaschene Levis-Jeans
und Hoodie. Er entschuldigt sich in fließendem Deutsch, dass sein Deutsch
sehr schlecht sei. „English is okay.“
„Drei Euro mehr ist doch gut. Besser als wenns weniger wird. Hör ich
nämlich auch oft, dass Leuten das Geld gekürzt wird. Ist Gott sei Dank bei
mir noch nie passiert.“
Er ist vor 10 Jahren nach seinem Erasmus-Semester in Deutschland geblieben,
hat für ein amerikanisches IT-Unternehmen gearbeitet, dann die Stelle
gewechselt. Befristeter Vertrag. Jetzt ist er seit eineinhalb Jahren
arbeitslos.
„Hartz IV ist okay. Ich bekomme 430 Euro, 100 gehen für Strom und Internet
drauf. Bleiben noch 330. Für mich reicht das. Diesen Monat hatte ich sogar
ein paar Euro am Ende des Monats übrig. Ich finds okay gerade, aber
natürlich hätte ich Bock auf einen neuen Job.“
Es ist sein erster Termin beim Jobcenter. Warum er eingeladen wurde? „No
idea.“
Parallel diskutiert eine Frau um die 50 mit dem Sicherheitspersonal.
„Sie sind verpflichtet, den Brief mit der Termineinladung mitzubringen.“
„Aber woher soll ich das wissen?“
„Naja, ich geh doch auch nicht ohne Ball zum Fußballspielen.“
„Wenn ich den Termin verpasse, kriege ich nächsten Monat kein Geld, das
wissen Sie genau.“
„Sie brauchen den Brief. So sind die Regeln. Das entscheide nicht ich,
sondern die da oben.“
„Scheiß Jobcenter-Kacke.“
## 11.16 Uhr
Eine junge Frau hetzt zum Eingang. Schwarzer Hoodie, Kapuze. Ihre Augen
tränen vom Fahrradfahren. Aus ihren Kopfhörern um den Hals läuft noch
Musik. Drei Euro mehr, ob sie es schon weiß?
„Nein, aber ich bin im Moment froh um jede scheiß drei Euro. Ich habe als
DJ gearbeitet, die Pandemie hat mich komplett gefickt.“
Anruf bei der Pressestelle des Bundesverfassungsgerichts. Sind drei Euro
mehr Hartz IV trotz steigender Verbraucherpreise verfassungsgemäß?
Am anderen Ende erklärt ein Mann: Die gesetzliche Grundlage sei in der
Vergangenheit mehrfach geprüft und für verfassungsgemäß befunden worden.
Für eine erneute Prüfung der aktuellen Erhöhung müsse erst mal eine
Verfassungsbeschwerde eingehen. Noch liege kein Verfahren vor.
## 12.03 Uhr
Die alleinerziehende Mutter kommt aus dem Fahrstuhl. Und? Darf sie jetzt an
die Supermarktkasse?
„Nee, ging nur um Unterlagen. Kram halt.“
Kurz vor Schluss um 12.30 Uhr kommt auch der junge Typ mit runder Brille
von seinem Termin zurück. Worum es ging?
„Actually I have no Idea.“
Sie hätten seinen Ausweis und seine Papiere kontrolliert. Er verabschiedet
sich:
„Weird place.“
16 Oct 2021
## AUTOREN
Luisa Thomé
## TAGS
Schwerpunkt Armut
Hartz IV
Arbeitsmarkt
Sozialpolitik
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Hartz IV
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