# taz.de -- Hartz IV Beziehende und die Wahl: „Wir werden nicht gesehen“ | |
> 446 Euro hat Manuela Ammler pro Monat zum Leben. Dass sich durch die Wahl | |
> etwas ändert für Hartz-IV-Betroffene, hofft sie längst nicht mehr. | |
Bild: Wegen fehlendem Geld erlebt sie entwürdigende Situationen: Manuela Ammle… | |
Ostfriesland taz | Manuela Ammler kramt ihre Krankenversichertenkarte | |
hervor. Fünf Jahre ist das Foto darauf alt. Es zeigt eine Frau mit vollen | |
dunklen Haaren und fast jugendlichem Gesicht. Heute sind ihre Haare grau | |
geworden, unter ihren Augen zeichnen sich dunkle Schatten ab. Sie habe | |
Krankheit, Armut und Obdachlosigkeit erlebt, sagt Ammler. „Die vergangenen | |
Jahre haben mich an meine Grenze gebracht.“ | |
Ammler, 56 Jahre alt, ist [1][Hartz-IV-Empfängerin]. Wenn man ihre Wohnung | |
betritt, fallen als Erstes die vielen Leitz-Ordner auf. Sie füllen ganze | |
Regalbretter, liegen auf dem Fußboden verteilt. In den Ordnern sind | |
Bescheide vom Jobcenter, Mietnachweise, ihre Kommunikation mit den | |
Anwälten. Drei bis vier Stunden pro Tag verbringe sie damit, Nachweise zu | |
erbringen und Widersprüche einzureichen, sagt Ammler. Aktuell geht es um | |
die Übernahme der Heizkosten – da bleibe wenig Zeit für anderes. | |
Dabei lebt Manuela Ammler eigentlich idyllisch. In dem kleinen | |
ostfriesischen Ort, der seit Kurzem ihr Zuhause ist, geht sie oft mit dem | |
Hund spazieren, in Parks, an Kanälen und Ententeichen entlang. Doch | |
richtig genießen kann sie diese Spaziergänge nicht. Immer wieder kommt das | |
Thema Hartz IV hoch. | |
Seit Jahrzehnten ist sie auf Sozialhilfe angewiesen. Das Schlimmste daran | |
sei die Resignation: Die Frau, die fast hinter den Leitz-Ordnern auf ihrem | |
Küchentisch verschwindet, glaubt nicht mehr, dass sich jemals etwas an | |
ihrer Situation verändern wird. Schon gar nicht durch die bevorstehende | |
Bundestagswahl. „Wir werden nicht gesehen“, sagt sie. | |
## Arme wählen seltener | |
Mit diesem Gefühl ist sie nicht allein. Eine 2019 im Raum Stuttgart | |
durchgeführte Befragung unter 70 Langzeitarbeitslosen hat ergeben, dass | |
arme Menschen weniger häufig wählen als finanziell besser gestellte. „Die | |
Politiker scheren sich einen Dreck um uns“, brachte ein Teilnehmer seine | |
Enttäuschung auf den Punkt. | |
Politikwissenschaftler Armin Schäfer forscht bereits seit Jahren zum | |
Zusammenhang zwischen Wahlbeteiligung und sozialem Status. Auch er | |
beobachtet, dass Arbeitslose und Geringverdiener viel seltener wählen gehen | |
als jene am anderen Ende des Spektrums. Gleiches gilt für Menschen mit | |
schlechterer Bildung oder in Berufen mit niedrigerem sozialen Status. 2017 | |
wählten in wohlhabenden Wohngegenden fast 90 Prozent der Wahlberechtigten, | |
„aber in armen Gegenden oft nicht einmal die Hälfte“, so Schäfer. | |
Das ist ein Problem. Denn aktuell gibt es knapp 3,9 Millionen | |
Hartz-IV-Empfänger in Deutschland, von denen – Stand 2019 – mehr als 60 | |
Prozent die deutsche Staatsbürgerschaft und damit das Wahlrecht haben. Doch | |
viele geben ihre Stimme nicht ab. Ammler geht zwar wählen – „sonst darf man | |
sich anschließend nicht beschweren“–, aber auch sie erhofft sich nichts von | |
der Wahl. Nicht mal während Corona habe es ausreichende Hilfen gegeben. Und | |
warum sollte das nach der Wahl anders sein? | |
## Wenig Hilfe während der Pandemie | |
Für Ammler waren die Hamsterkäufe während der Pandemie besonders schlimm. | |
Während der ersten Welle stiegen die Preise für Toilettenpapier auf bis zu | |
5 Euro, günstige Eigenmarken waren ausverkauft. Was für die meisten | |
höchstens ärgerlich war, wurde für sie existenzgefährdend. 446 Euro | |
Regelsatz im Monat mussten reichen. Um über die Runden zu kommen, sparte | |
sie an allem. Für ihren Hund kaufte sie nur noch günstig angefangene | |
Futterpackungen bei Ebay. Der Coronabonus von 150 Euro ging für die | |
Begleichung von Versicherungsgebühren drauf. Ansonsten habe es – abgesehen | |
von den kostenlosen Masken – wenig Hilfe für Menschen wie sie gegeben, sagt | |
Ammler. Und auch die 3 Euro Regelsatzerhöhung im nächsten Jahr versprechen | |
wenig Linderung. | |
Manuela Ammlers Weg in die Sozialhilfe begann, als sie schwanger wurde und | |
ihr Studium aus finanziellen Gründen abbrechen musste. Es folgten | |
Fortbildungen, Umschulungen und etliche Jobs, in denen sie nie richtig Fuß | |
fassen konnte. Nachdem ihr Sohn ausgezogen war, habe sie sich um ihre | |
kranken Eltern kümmern müssen, erzählt sie – dann wurde sie selbst krank. | |
Seit einigen Jahren ist sie schwerbehindert und hat mehrere | |
Autoimmunkrankheiten, war zeitweise in Chemotherapie. Wegen verspäteter | |
Mietzahlungen verlor sie im vergangenen Dezember ihre Wohnung. Nach langer | |
Suche fand sie eine neue Bleibe in Ostfriesland. Hier lebt Ammler, die | |
eigentlich anders heißt, zurückgezogen mit ihrem Hund. | |
Die Frau am Küchentisch hat mit dem Jobcenter abgeschlossen. Die | |
Mitarbeiter hätten sie von einer sinnlosen Maßnahme in die nächste | |
geschickt, erzählt sie. Als sie ihre kranken Eltern betreute, ihnen auch | |
nachts die Windeln wechselte, habe man ihr nicht geglaubt, dass sie | |
währenddessen keiner weiteren Arbeit nachgehen kann. „Sie können doch | |
Nachtschichten machen“, habe man gesagt. Ständig sei da dieses Misstrauen | |
gewesen. Helfen würden eher karitative Einrichtungen. 2019 zum Beispiel, | |
als sich das Jobcenter monatelang weigerte, ihren Antrag anzuerkennen, sei | |
sie nur dank des Berliner Vereins „Sanktionsfrei“ über die Runden gekommen. | |
## Von „Schmarotzern“ und „Parasiten“ | |
Der Hass auf die Arbeitslosen kam mit der Agenda 2010. Die Bild wetterte | |
2003 gegen „Florida-Rolf“, der es sich vermeintlich mit Arbeitslosengeld in | |
den USA gutgehen ließ. Arbeitsminister Wolfgang Clement (SPD) sprach in | |
einer Veröffentlichung von „Parasiten“. In Talkshows stellte man | |
Arbeitslose als faule Asoziale dar. „Man wollte uns nicht mehr als Teil der | |
Gesellschaft sehen“, sagt Ammler. Kümmerten sich vorher noch Sozialhelfer | |
individuell um Hilfsbedürftige, scherte man danach alle mit sinnlosen | |
Maßnahmen und Vermittlungen in unterfordernde Jobs über einen Kamm. | |
Interessiert habe das kaum jemanden. „Wir haben keine Kaufkraft, keine | |
Lobby“, resümiert Ammler. | |
„Der Bundestag repräsentiert nicht alle Gruppen gleich gut“, sagt | |
Politikwissenschaftler Schäfer. Die politischen Präferenzen von Leuten, | |
denen es gutgehe, würden viel häufiger in Politik umgesetzt als die von | |
Menschen, denen es insgesamt schlechter gehe. Was nicht ohne Folgen bleibt: | |
„Die Wahrnehmung, nicht repräsentiert zu sein, verringert die Bereitschaft | |
zu wählen“, so Schäfer. | |
Zumindest Die Linke kämpft seit Jahren [2][öffentlich gegen Hartz IV] an. | |
Selbst die Grünen, die das System während der Regierungszeit Gerhard | |
Schröders mitverabschiedeten, werben nun für Reformen. Kanzlerkandidatin | |
Annalena Baerbock wirbt offensiv für eine Kindergrundsicherung, die vor | |
allem Kindern in Hartz-IV-Haushalten zugute käme. Selbst die SPD, die das | |
Thema lange totschwieg, bekundet jetzt vorsichtig Reformwillen. Glaubt | |
Manuela Ammler den Wahlversprechen? | |
## Plädoyer für bedingungsloses Grundeinkommen | |
Der Kindergrundsicherung der Grünen könne sie durchaus etwas abgewinnen, | |
sagt sie und erzählt von den Entbehrungen ihres Sohns, der als Jugendlicher | |
nicht einmal mit auf die Konfirmationsfahrt fahren konnte. Die 80 Euro | |
Teilnahmegebühr hatte Ammler damals nicht. Teilüberweisungen habe die | |
Kirche nicht zugelassen. „Man muss eben Prioritäten setzen“, habe man ihr | |
gesagt. Dass die Grünen ihre Vorschläge durchsetzen werden, glaubt sie aber | |
nicht. „Die haben das Ganze doch mitinitiiert.“ Und jetzt wolle jeder | |
irgendwie Hartz IV verbessern, doch Priorität habe das Thema nicht. | |
Auf dem Spaziergang durch den pittoresken Ort mit seinen vielen Kanälen | |
zeigt Ammler ihr neues Zuhause. Den Steg am Kanal, an dem ihr Hund oft ins | |
Wasser springt. Der Picknicktisch, bei dem sie auf Spaziergängen oft Pause | |
macht. In ihrer neuen, nicht selbst gewählten Heimat kennt sie kaum | |
jemanden. Freunde und Verwandten leben mehrere Autostunden entfernt. | |
Ein Auto hat sie nicht. Der Bus in den nächstgrößeren Ort kommt nur einmal | |
pro Stunde. Für Ammler ist die Einsamkeit dennoch okay. „Wenn man gesehen | |
hat, wie die Menschen sind, bleibt man lieber allein.“ Die Menschen, damit | |
meint sie die Mitarbeiter im Jobcenter, die Einblick haben in die | |
intimsten Lebensbereiche ihrer „Kunden“, die „den Daumen heben oder senke… | |
bei vielem, was das Schicksal derer betrifft, die in ihren Machtbereich | |
geraten. Ammler hält das System für nicht reformierbar. „Man sollte die | |
Jobcenter und Arbeitsämter einfach abschaffen“, sagt sie. Stattdessen | |
plädiert sie für ein bedingungsloses Grundeinkommen. | |
Von einer kleinen Holzbrücke schaut Ammler auf die Enten im Teich. „Am | |
liebsten würde ich irgendwo auf einem Hof wohnen, in einem Wohnprojekt, wo | |
sich jeder einbringen kann mit seinen Fähigkeiten.“ Sie wirkt nicht, als ob | |
sie daran glaubt, dass dieser Traum noch wahr werden kann. „Das Traurige | |
ist“, sagt sie leise, „ich hätte etwas beitragen können zu dieser | |
Gesellschaft. Aber ich habe das Gefühl, das ist gar nicht gewollt.“ | |
24 Sep 2021 | |
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