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# taz.de -- Ein Jahr Revolution im Sudan: Bittersüße Lehren
> Vor einem Jahr gingen die Sudanesen auf die Straße: Über die menschliche
> Schönheit einer Revolution – und ihre Zerbrechlichkeit.
Bild: Ein Glücksmoment mit Jubel, Gesang und Siegeszeichen in Khartum
Zwanzig Minuten lang stand die Menge in reglosem Schweigen; Respekt für die
Toten, die Märtyrer der Revolution. Die Erschießung von Demonstranten auf
diesem Sandplatz im Stadtteil Burri war vor einem Jahr eines der
Schlüsselereignisse, an deren Ende [1][der Sturz des sudanesischen
Herrschers Omar al-Bashir] stand.
Zwanzig Minuten sind aufwühlend lang, wenn man dem Schweigen lauscht. Sogar
Kindern stand heiliger Ernst in den Gesichtern. Als die Stille schließlich
zersprang, wurde skandiert und getrommelt, junge Leute hockten dicht an
dicht, mit so viel Glück in den Augen, als könnten sie die Revolution für
immer bewahren, sie gab dem Leben Sinn, sie war das Leben selbst. Und sie
hat alle verändert.
Die menschliche Schönheit des revolutionären Prozesses und seine
Zerbrechlichkeit, das Süße und das Bittere, beides lag in Khartum eng
beieinander, enger und insgesamt anders als ich es gedacht hatte aus der
Ferne, wenn das Netz uns in der Illusion wiegt, Anteil zu nehmen an großen
Umbrüchen. Überall in Khartum wurde geredet, debattiert, auf den rostigen
Drahthockern der kleinen Teashops wie auf dem Campus, wo Grüppchen noch im
Dunkeln zwischen kolonialen Backsteingebäuden und umherhuschenden Affen
saßen.
In den Wohnvierteln ist das Misstrauen gewichen, das in der Diktatur die
Nachbarn voneinander trennte. [2][Die junge Generation] genießt das Gefühl,
sich den Respekt der sonst nörgelnden Älteren verschafft zu haben, und auf
Wandgemälden hat kämpferischer Optimismus sogar den Südsudan mit Brettern
und Nägeln wieder dem Norden verbunden.
## Drei Jahrzehnte Verachtung für die eigenen Bürger
Der junge Mann, der mich an manchen Tagen durch die Stadt fuhr, trug die
Nationalflagge griffbereit im Handschuhfach, um sie sich bei auftretenden
Anlässen umzuwerfen. Seinen Job als Ingenieur hatte er weggeworfen, weil
das Gehalt so lächerlich gering war, dass es gerade die Kosten des
Transports zur Arbeit nebst einem Frühstück deckte. An der massenhaften
Prekarität hat Bashirs Sturz kein Deut geändert.
Die Straßen der Hauptstadt sind übersät mit Schlaglöchern, dass man sich
die Zustände in entlegeneren Provinzen gar nicht erst vorstellen mag. Drei
Jahrzehnte Verachtung für die eigenen Bürger manifestieren sich, so
stillstehend wie die Rolltreppe in einem Einkaufszentrum, über deren
verdreckte hohe Stufen sich die Frauen hinauf- und hinabquälten, als hätte
diese Treppe nie eine Bewegung gezeigt und würde es auch niemals tun.
Die summende Kommunikation, die revolutionäre Beweglichkeit in den
Beziehungen stand in einem kaum fassbaren Kontrast zum bleiernen Stillstand
des Materiellen. Zwischen beidem, wie eine wackelige Brücke, eine Kampagne
der Zivilgesellschaft, die sich Hanabnihu nennt, wörtlich: Wir werden es
aufbauen, das Land!
Yes, we can. Revolutionäre Brigaden streichen die Flure heruntergekommener
Schulen und Kindergärten, mobilisieren Ärzte und Lehrer als Freiwillige für
Communitys, denen es an allem mangelt.
## Putschgefahr lag in der Luft
Doch im Stadtzentrum lagen nach dem frühen Einbruch der Dunkelheit ganze
Straßenzüge wie ausgestorben. Kleine Restaurants oder Imbisse zu
unterhalten ist sinnlos, wenn niemand Geld in der Tasche hat. Und die
Kräfte des alten Regimes sind allgegenwärtig. In Khartum muss niemand
Politikwissenschaft studiert haben, um zu wissen, was tiefer Staat
bedeutet. Benzin wurde zurückgehalten, um den ohnehin überlasteten
Nahverkehr in eine Krise zu stürzen und so die Übergangsregierung zu
diskreditieren.
Eines Nachmittags hasteten die Menschen auffällig früh zu den überfüllten
Bussen; Schusswechsel war zu hören, Putschgefahr lag in der Luft. Eine
Erhebung des Geheimdienstes der Bashir-Zeit; die Nacht hindurch waren
schwere Waffen zu hören, dann galt die Rebellion als niedergeschlagen.
Einige Beherzte hatten sich voller Zorn sogar mit bloßen Händen auf
bewaffnete Provokateure gestürzt.
Aus der Ferne betrachtet tat sich mit der sudanesischen Revolution ein
völlig neues Bild einer Gesellschaft auf, die als konservativ,
verschlossen, vormodern gegolten hatte. Vor Ort wird man sich hingegen
sofort der historischen Schichtungen bewusst. Der Sudan hat in die wenigen
Jahrzehnten seit der Unabhängigkeit von 1956 einiges an Umstürzen und
Diktaturen hineingepresst – wenn ein Stadtteil heute Ath-Thaura heißt, ist
damit nicht etwa die jüngste Revolution, sondern eine frühere gemeint.
Sogar Kinder kennen die gereimten Slogans, die aus vergangenen Erhebungen
in die Gegenwart hineinranken, und selbst die maßgebliche Beteiligung der
Frauen am Sturz von al-Bashir stand auf den Schultern früherer
Generationen: Die Sudanesinnen führten bereits seit den 1940er Jahren
bemerkenswerte Kämpfe um Gleichberechtigung.
## Unvorstellbar lang muss der revolutionäre Atem sein
Unsere modische Begeisterung für [3][Revolutionen und deren Ikonen] zieht
um ferne Ereignisse oft einen arg engen Rahmen, damit sie sich in unsere
Begrifflichkeit fügen. Doch auch das flotte Etikett „arab rebellion“ mag
auf den Sudan nicht recht passen. Wer Arabisch spricht, muss kein Araber
sein, das war das Erste, was ich in Khartum lernte. In den Teerunden wurde
über das Bekenntnis zum Afrikaner-Sein gesprochen, über die Diversität des
Sudan und seine Identitätskrise.
Manche, [4][die den Umsturz mit ins Werk setzten,] verlassen das Land;
dafür bedarf es nun keiner Genehmigung mehr. Einige Institutionen verlieren
ihre besten Kräfte. Unvorstellbar lang muss der revolutionäre Atem sein,
bis sich das Leben auf eine Weise verbessert haben wird, die mehr umfasst
als die Freiheit der Meinung und die freie Wahl weiblicher Bekleidung.
Womöglich wird das Leben erst mal noch schlechter. Subventionen sollen
gekürzt werden, um die Staatsverschuldung abzubauen; darauf werden
Massenproteste die Antwort sein. Mehr Bitteres als Süßes steht in Aussicht.
8 Feb 2020
## LINKS
[1] /Omar-al-Bashir-von-Armee-abgesetzt/!5587327
[2] /Wandel-im-Sudan/!5646910
[3] /Politischer-Wandel-in-Nordafrika/!5585535
[4] /Militaer-und-Opposition-im-Sudan/!5609615
## AUTOREN
Charlotte Wiedemann
## TAGS
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Protest
Naher Osten
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