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# taz.de -- Regisseur über sudanesische Revolution: „Die Flamme am Lodern ha…
> Das Stück „Kuras Hassab“ fordert Rechenschaft für gesellschaftliche
> Repression im Sudan. Regisseur Walid Al-Alfi spricht über Theater und
> Revolution.
Bild: Demonstranten in Khartum protestieren gegen die Regierung
Im Juni jährte sich die blutige Räumung der Dauerkundgebung in der
sudanesischen Hauptstadt Khartum zum zweiten Mal. Mehr als hundert Menschen
wurden dabei getötet. Das Theaterstück „Kuras Hassab“ behandelt diese
Erfahrung aus der Perspektive der Demonstrierenden.
Verfasst inmitten der sudanesischen Revolution 2019, die den Diktator
al-Bashir stürzte, und inspiriert von der Kreativität der Demonstrierenden,
half das Theaterstück den Beteiligten ihre Repressionserfahrungen zu
verarbeiten. Die Regie hatte der Theatermacher Walid Al-Alfi. Neben
seiner Arbeit mit humanitären Organisationen in Kriegsregionen, prägt er
die sudanesische Theaterlandschaft seit zwanzig Jahren. Im Gespräch
berichtet er über die Hintergründe von „Kuras Hassab“.
taz am wochenende: Walid Al-Alfi, „Kuras Hassab“ gilt als das Theaterstück
der [1][sudanesischen Revolution]. Es ist das erste Stück, das nach dem
Sturz des Präsidenten im Nationaltheater aufgeführt wurde. Was ist die
Geschichte dieses besonderen Theaterstücks?
Walid Al-Alfi: Als die Revolution ausbrach, gingen die Leute in Massen auf
die Straße, die Kundgebung vor dem Verteidigungsministerium begann, und es
kam zu Polizeigewalt. Ich entschied mich, einen Theaterworkshop unter dem
Titel „Theater der Revolution“ anzubieten. Ich habe, vor allem in der
Arbeit mit traumatisierten Kindern, Methoden der Kunsttherapie
kennengelernt. Damals habe ich das Theater als therapeutisches Instrument
entdeckt. Diese Erfahrungen erklären auch den Hintergrund dieses Projekts.
Wie kamen Sie auf die Idee, einen Theaterworkshop inmitten der Kundgebung
anzubieten?
Der Workshop richtete sich an Aktivist*innen, die während der
Demonstrationen verhaftet und gefoltert wurden oder anderweitig Gewalt
erfuhren. Das Theater sollte diesen jungen Menschen psychologische
Unterstützung bieten. Es gab reges Interesse an dem Workshop. Für die
Teilnehmenden war es ein sicherer Ort. Wir versuchten eine möglichst freie
Atmosphäre zu schaffen, die es ermöglichen sollte, Ausdrucksformen für all
das zu finden, was in den Beteiligten schlummerte. Einige beschrieben, dass
sie Ängste und Gefühle, die sie bisher gehemmt haben, hinter sich lassen
konnten.
Aus dem Workshop ist ein vieldiskutiertes Theaterstück entstanden.
Beschreiben Sie es bitte kurz.
Kurz gesagt, handelt das Theaterstück „Kuras Hassab“ von den Anfängen der
Massenproteste, als die Menschen auf der Suche nach Freiheit auf die Straße
gingen. Es geht um Polizeigewalt und Folter, aber auch um Widerstand, um
die Atmosphäre auf der Kundgebung und um das Massaker während der Räumung.
Wir verliehen der Hoffnung Worte und beschrieben den Wunsch, Gerechtigkeit
zu erlangen. „Kuras Hassab“ heißt Rechenheft. Genutzt wird der Begriff in
der Schule, aber auch vom Händler, der deine Schulden berechnet, wenn du
kein Geld zum Einkaufen hast. Ebenso fordert das Theaterstück Rechenschaft,
es dokumentiert, bewertet, kritisiert und erinnert, um daraufhin gemeinsam
weiterzukommen.
Können Sie noch mehr über dessen Entstehung auf der Kundgebung erzählen?
Wir betrieben Feldforschung auf der Kundgebung und konzentrierten uns dabei
auf besonders kreative Aspekte der Proteste. Ein Beispiel sind die
Jugendlichen auf der großen Stahlbrücke, die ohne Unterlass rhythmisch auf
den Stahl einschlugen und damit revolutionäre Gesänge und Parolen
begleiteten. Diese Art der Feldforschung ist eine meiner zentralen Methoden
der Ausarbeitung eines Theaterstücks und der Arbeit mit den
Schauspieler*innen. Ein weiteres Beispiel sind die Leute an den
Kontrollpunkten, die alle auf dem Kundgebungsplatz Ankommenden auf
gefährliche Gegenstände durchsuchten.
Sie riefen Slogans wie: „Halt deine Arme vom Körper weg – für die
Durchsuchung mit Respekt.“ Dabei hatten sie immer ein Lächeln auf den
Lippen. Genau solche Phänomene sollten das Theaterstück inspirieren.
Außerdem haben wir eine Umfrage durchgeführt. Wir fragten, welche Chancen
die Demonstrierenden für den Sudan sehen und welche Herausforderungen. Was
würde nach dem Fall des Regimes sein? All diese Fragen, Beobachtungen und
Diskussionen waren das Wissensarchiv für das Theaterstück. Wir arbeiteten
während des Fastenmonats Ramadan an der Fertigstellung und wollten das
Stück am zweiten Feiertag zum Ende des Ramadan auf der Kundgebung
aufführen.
Aber dazu kam es nicht.
Eine besonders traurige Erinnerung von mir ist, dass ich ein paar Stunden,
bevor die Kundgebung geräumt wurde, die Szene verfasste, die die Räumung
der Kundgebung behandelte. Diese Szene ist für alle Teilnehmenden
schmerzhaft. Wir durchlebten die Räumung der Kundgebung drei oder vier
Stunden vor der tatsächlichen Räumung. Wir beschrieben, dass sich dieser
kollektive Ort, der für uns das Paradies war, in die Hölle verwandeln
würde.
Und damit lagen Sie traurigerweise richtig. Während der gewaltsamen Räumung
der Kundgebung wurden weit über hundert Demonstrierende von
Sicherheitskräften ermordet.
Viele, die am Theaterstück mitwirkten, erlitten Verletzungen, einige
verloren enge Freund*innen, Freund*innen anderer wurden vergewaltigt.
Einige aus unserem Team haben den Sudan verlassen, wieder andere
verschwanden. Nachdem die Parteien der Erklärung für Freiheit und
Veränderung und der Militärrat eine Einigung erzielt hatten, lud ich die
Teilnehmenden dazu ein, unser Theaterstück bald aufzuführen.
Einige der Schauspieler*innen wollten, auf der Suche nach psychischer
Heilung, nach Europa fliehen. Aber schlussendlich kamen sie in den Sudan
zurück, um das Theaterstück aufzuführen. Die Aufführung war für sie ein
persönlicher Sieg. Die sudanesische Öffentlichkeit nahm die Aufführung mit
all ihren unterschiedlichen Komponenten, den Träumen und den schmerzhaften
Erinnerungen, sehr positiv auf.
Sie haben schon während der Diktatur von al-Bashir kritisches Theater
produziert, für das Sie das sudanesische Publikum kennt.
Ja, zum Beispiel habe ich 2005 das Stück „Kalik“ aufgeführt. Kalik, [2][e…
Dorf in Darfur, wurde zerstört, und die Bewohnenden wurden Opfer des
Genozids]. Es war das erste Stück, das den Darfur-Genozid behandelte. Wir
haben es im Nationaltheater aufgeführt und haben damit an einem
Theaterfestival in Algerien teilgenommen. Ein weiteres Beispiel ist „Ahl
Al-Kahf“, die Höhlenmenschen, das von einer Geschichte aus dem Koran
inspiriert ist und die Merkmale des Staats in der Moderne diskutiert: Die
Herrscher dieser Staaten stehlen die Reichtümer der Bevölkerungen, und
alles, was sie abgeben, sind falsche Versprechungen. Wir haben dieses sehr
politische Theaterstück 2008 im Nationaltheater aufgeführt und 2009 beim
Theaterfestival in Rotterdam.
Ein weiteres wichtiges Stück ist „Trompa Hukuma“ von 2008. Die
Vorstellung wurde damals verboten. Ich musste die Arbeit daran einstellen
und habe es schließlich 2018 aufgeführt – kurz vor dem Sturz des Regimes.
Es geht darin um eine illegale Schankwirtschaft, deren Wirtin das Regime
symbolisiert. Bei einer Aufführung auf einem lokalen Festival
intervenierten Sicherheitskräfte, beendeten das Festival und nahmen die
Beteiligten fest. Dieses Stück hat einen bleibenden Eindruck bei den
Zuschauenden hinterlassen. Es gilt als Stück, das zur Mobilisierung der
Bevölkerung beigetragen hat und den Geist der Revolution ansprach. Einige
Monate später fand die Revolution statt und brachte das Regime zu Sturz.
Ausdrücke, die in dem Stück zu hören waren, wurden Teil der Parolen der
Straße.
Wie sehen Sie die Situation des sudanesischen Theaters zur Zeit?
Meiner persönlichen Einschätzung nach hat das sudanesische Theater viel
Potenzial und könnte sich noch mehr in gesellschaftlichen Debatte
einbringen. Es gibt einige Zusammenschlüsse von Film- und
Theaterschaffenden. Leider hat der Kulturbereich und insbesondere das
Theater auch für die aktuelle Regierung – die Regierung der Revolution –
keine Priorität. Wir sind uns dessen sehr wohl bewusst und zählen nicht
auf sie. Diese Regierung tut, was sie tut, und wir tun, was wir tun, und
das ist, die Flammen der Revolution am Lodern zu halten.
17 Jul 2021
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## AUTOREN
Marvin Lüdemann
## TAGS
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