# taz.de -- Spielfilmdebüt „Mit 20 wirst du sterben“: Leben im Bannspruch … | |
> Amjad Abu Alalas Film „Mit 20 wirst du sterben“ spielt in einer | |
> archaischen Religionsgemeinschaft. Zugleich ist es der Neubeginn | |
> sudanesischen Kinos. | |
Bild: Die Ohnmacht eines Derwisches besiegelt das Schicksal eines Jungen | |
Das Kind, ein etwa zehnjähriger Junge, legt sein Ohr auf die Brust der | |
schlafenden Mutter und lauscht ihrem leise pochenden Herzschlag. Was man | |
hört, könnte auch sein eigener Herzton sein oder das Echo der Menschen, die | |
im Kino zuschauen. | |
Muzala (Mustafa Shehata), der Junge im Mittelpunkt von Amjad Abu Alalas | |
Film „Mit 20 wirst du sterben“, lebt in einer engen, auf wesentliche | |
Zeichen konzentrierten Welt: Da ist das Bett, das er als Kind mit seiner | |
Mutter Sakina (Islam Mubarak) teilt, weil der Vater die Familie verlassen | |
hat, da ist die Mauer um das Ziegelhaus, hinter der das Nil-Ufer | |
unerreichbar scheint, solange die Mutter ihn zu Hause festhält. | |
Da ist der lange dunkle Flur, in dem Muzala im gleißenden Gegenlicht wie | |
eine Chimäre wirkt, und da sind die düsteren Kammerwände, wo die Mutter mit | |
Strichen festhält, wie viel Zeit dem Sohn noch bleibt. | |
Muzala ist ein „lebender Toter“ – so sagt es einer, der auf sein Schicksal | |
Einfluss nehmen wird, ein Außenseiter, der über viel subversive Distanz zu | |
der traditionellen Dorfgemeinschaft verfügt und das Schicksal des | |
Heranwachsenden nicht als gottgegeben hinnimmt. Als Neugeborenes sollte | |
Muzala den Segen der Sufi-Geistlichen empfangen, zu deren Versammlung die | |
Eltern in die sudanesische Wüste pilgern. | |
Einer der Derwische aus der Begleitung des Scheichs beginnt in Trance zu | |
zählen und fällt bei der Zahl zwanzig in Ohnmacht. Die Gläubigen verstummen | |
entsetzt, ein archaischer Bannspruch ist damit gesprochen und der Scheich | |
bekräftigt das Verdikt: Das Kind wird sein Leben lang auf der Suche nach | |
Gott sein und mit zwanzig Jahren sterben. | |
## Ist Rebellion möglich? | |
Wie lebt es sich mit diesem Todesurteil? Ist Rebellion gegen den Fluch | |
möglich? Gibt es Erlösung, indem die Derwische „sich entschuldigen“, wie | |
die Mutter es erträumt? Einmal, gegen Ende, bewegt sich eine lautlose | |
Bootsprozession grün und rot gewandeter Derwische auf dem Nil majestätisch | |
an Muzala vorüber, hochmütige Blicke treffen den Eingeschüchterten, doch | |
von einer Botschaft, die den Fluch zurücknimmt, kann keine Rede sein. | |
Amjad Abu Alala kritisiert mit keinem Wort den mystischen Glauben seines | |
Herkunftslandes Sudan. Sein Film setzt allein Akzente auf die innere | |
Entwicklung seines Protagonisten, auf das Hoch und Tief einer subjektiven | |
Coming-of-Age-Geschichte, die zugleich ein Schritt zu lebensrettender | |
Emanzipation bedeuten könnte. | |
Hier mag ein Schlüssel liegen, der Alalas Drehbuch nach einer | |
Kurzgeschichte des sudanesisch-ägyptischen Schriftstellers Hammour Ziada in | |
einer schwindelerregenden Prozedur von Drehbuch-Labs, Projektpräsentationen | |
und Koproduktionsmärkten als afrikanisch-arabisch-europäisches | |
Gesamtprojekt verwirklichen half. | |
Ähnlich einer Bewährungsprobe im Märchen kreist „Mit 20 wirst du sterben“ | |
um die Frage, ob sich das Opfer des skurrilen Schicksalsschlags vollkommen | |
demütig in den Lauf der Dinge ergibt und sich spirituell auf den | |
vorhergesagten Tod vorbereitet oder aber ein „Leben vor dem Tod“ beginnt, | |
„Sünde“ genannte Erfahrungen inbegriffen. | |
## Hinter der Religion lockt das Versprechen nach Freiheit | |
„The more local, the more international“, charakterisierte Vincenzo Bugno, | |
der Leiter des kofinanzierenden World Cinema Fund der Berlinale, die | |
Fördermaxime für ein Projekt wie Amjad Abu Alalas Film im Gespräch mit Anke | |
Leweke. | |
Hinter den ruhigen, gut kadrierten Bildern des verschachtelten | |
sudanesischen Dorfs (Kamera: Sébastien Göpfert), in der Feinzeichnung des | |
widersprüchlichen Figurenensembles und der Wucht der in Beigetönen | |
leuchtenden Wüstenweite scheint ein modernes Thema auf, denn das Drama des | |
sudanesischen Jungen tangiert die Trennlinien zwischen einer archaischen, | |
von Geisterglauben und mystischem Sufismus geprägten Religionsgemeinschaft | |
und den Versprechen nach subjektiver Entfaltung und Freiheit. | |
Geboren im Sudan, wuchs Amjad Abu Alala in Dubai auf. Mit seinem | |
Spielfilmdebüt kehrte er 2019 in das Herkunftsland seiner Eltern, die | |
Region Al-Dschasira zwischen dem Weißen und dem Blauen Nil, zurück – im | |
selben Jahr, in dem eine Revolution den dreißig Jahre herrschenden Diktator | |
Omar al-Bashir absetzte und eine bis heute von Unruhen und massiver | |
Verfolgung gekennzeichnete Militärregierung an die Macht kam. | |
„Mit 20 wirst du sterben“ ist den Opfern der Revolution gewidmet. Seine | |
Auszeichnung als bester Debütfilm bei den Filmfestspielen in Venedig 2019 | |
und der Auftritt als erster sudanesischer Spielfilm im Rennen um den | |
Auslands-Oscar waren auch Zeichen der Aufmerksamkeit und Solidarität mit | |
der Revolution, nicht zuletzt Zeichen der Unterstützung für die Abschaffung | |
der Scharia und die Stärkung der Frauenrechte, die 2019 zeitweise im Sudan | |
erreicht wurden und sich in Amjad Abu Alalas Frauenfiguren andeutungsweise | |
spiegeln. | |
## Mit der Liebe klappt es nicht | |
Das Nachbarmädchen Naima (Bunna Khalid) verkörpert seit der Kindheit | |
Muzalas Vertraute. Als junge Frau versucht Naima stolz und selbstbewusst, | |
den ängstlichen Freund von ihrer Liebe zu überzeugen. Begleitet von einem | |
stummen behinderten Jungen, können sich beide am Fluss treffen, wo Naima | |
offen von ihrem Traum erzählt, eine Familie mit ihm zu gründen. Doch er | |
zögert so lange, bis sie sich mit einem anderen verlobt und er in | |
Liebeskummer versinkt. | |
Eine Gegenfigur zu Naima lernt er im Haus von Suleiman (Mahmoud Maysara | |
Elsaraj) kennen. Der ehemalige Kameramann und Abenteurer lebt mit der | |
Sängerin und Prostituierten Set Alnessea (Amae Mustafa) zusammen, beide für | |
Muzala Inbilder einer fremden Welt. Set Alnessea singt und trommelt beim | |
Zaar-Fest, einem Besessenheitskult der Frauen des Dorfes, bei dem Muzalas | |
Mutter ekstatisch ihre Gefühle aus sich heraustanzt. | |
(Leider sind die traditionellen afrikanischen Lieder des Films unübersetzt. | |
So setzt sich in der Erinnerung der getragene, europäisch klingende | |
Cello-Sound der Filmmusik des tunesischen Komponisten Amine Bouhafa fest, | |
dessen Musik zum Beispiel auch [1][„Timbuktu“ von Abderrahmane Sissako] und | |
[2][„Der Mann, der seine Haut verkaufte“ von Kaouther Ben Hania] prägte). | |
Der Trinker Suleiman, den der Ladenbesitzer durch Muzalas Botengänge mit | |
verbotenem „Aragi“ versorgt, macht den Jungen mit dem Kino bekannt, indem | |
er ihm Filme aus Khartoum und Kairo unter anderem von Youssef Chahine | |
vorführt – Szenen des liberalen urbanen Lebens in beiden Städten vor dem | |
Sieg der Islamisten. | |
## Der Bann bricht mit einer Vergewaltigung | |
Suleiman ist es, der Muzala ein weißes Papier und darauf verteilte | |
Tintenspritzer vor Augen hält und ihm herausfordernd erklärt, dass nur die | |
schwarzen Flecken das strahlende Weiß leuchten lassen. Beides steht für das | |
Leben. Wie Muzala indes die Befreiung aus dem engen Korsett tugendhafter | |
Existenz beginnt, macht deutlich, dass der „reine Tor“ die Lektion | |
patriarchaler Gewalt gelernt hat, wenn er an seinem 20. Geburtstag „ein | |
Mann“ werden will und Set Alnessea vergewaltigt. | |
Der Bann ist gebrochen, die Flucht aus der dörflichen Enge scheint | |
vielleicht möglich, aber was kommt dann? Amjad Abu Alalas Film „Mit 20 | |
wirst du sterben“ markiert so etwas wie den Beginn oder Neubeginn eines | |
authentischen sudanesischen Kinos, indem er sich nicht auf pittoreske | |
Schönheit und eine universell nachvollziehbare Geschichte beschränkt. | |
Das Happy End ist eine Frage der Fantasie. Indirekt verweist er jedoch auch | |
auf die Gewalt gegen Frauen, die zur Strategie der kriegerischen | |
Auseinandersetzungen in Ostafrika gehört. | |
25 Aug 2022 | |
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## AUTOREN | |
Claudia Lenssen | |
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