| # taz.de -- Fantasydrama mit Tilda Swinton: Tausendundeine Geschichte | |
| > In „Three Thousand Years of Longing“ hilft ein Dschinn einer | |
| > Wissenschaftlerin mit seinem Geschichtenreichtum weiter. Stark sind die | |
| > Zwischentöne. | |
| Bild: Ungleiches Paar: Dr. Alithea Binnie (Tilda Swinton) und der Dschinn (Idri… | |
| Dem Mythos haftet etwas Anrüchiges an. Das Ungreifbare, das ihm | |
| Wesensmerkmal ist, steht im Konflikt mit unserem rationalistischen | |
| Zeitgeist, der in erster Linie enträtseln will. Das Fantastische, das dem | |
| Mythos innewohnt, ist ihm suspekt. Ganz so als würde er im Wettstreit mit | |
| der Wissenschaft um die Deutungshoheit der Wahrheit stehen.Dabei ist, wie | |
| Alithea während eines Vortrags in Istanbul ausführt, die Wissenschaft an | |
| die Stelle des Mythos getreten. Wo sich antike Zivilisationen ein Gewirr | |
| aus Gottheiten erschufen, um Phänomene zu erklären, die sich ihrem | |
| Verständnis entzogen, hat die Forschung übernommen, hat sie Poseidon, | |
| Thanatos und Chaos abgelöst. | |
| Verdrängt jedoch nicht gänzlich: [1][Figuren wie Thor spielen noch eine | |
| Rolle, etwa als Superhelden in Comics und ihren Adaptionen]. Man möchte | |
| ergänzen: In rationalisierter Form findet das Mythologische also noch | |
| Verwendung, etwa wenn sein Reiz finanziellen Erfolg verspricht. Obwohl | |
| Alithea stolz auf ihr Wissen und Dasein als Verstandesmensch ist, schildert | |
| sie diese Entwicklung mit einer gewissen Wehmut. Als Narratologin | |
| beschäftigt sie sich professionell mit den Geschichten, die sich die | |
| Menschheit seit jeher erzählt. Mehr noch: mit den Gründen, weswegen sie das | |
| tut und welche Auswirkungen sie haben. | |
| „Three Thousand Years of Longing“, der neue Film [2][von „Mad | |
| Max“-Regisseur George Miller,] ist selbst ein bildgewaltiger Lobgesang auf | |
| das Erzählen von Geschichten, ihre erhebende Kraft und ihr sinnstiftendes | |
| Potenzial. Dazu taucht das Fantasy-Drama in eine wundersame Episode im | |
| Leben seiner Protagonistin ein. | |
| ## Ein „wahres“ Märchen | |
| Dass Alithea von [3][Tilda Swinton] verkörpert wird, ist für den Film von | |
| enormem Vorteil. Man kann sich schwer eine andere Schauspielerin | |
| vorstellen, die die karge Strenge ihrer Rolle – blass, roter Bob, markante | |
| Brille – mit einer einnehmend feenhaften Ausstrahlung verbinden könnte. | |
| „Meine Geschichte ist wahr“, konstatiert sie zu Beginn. Sie werde sie | |
| jedoch wie ein Märchen erzählen, weil ihr ohnehin niemand Glauben schenken | |
| werde, fügt sie hinzu. | |
| Sie beginnt auf einem türkischen Bazar. Weil sie daran glaubt, dass es eine | |
| „interessante Geschichte“ hat, wählt Alithea dort ausgerechnet ein | |
| verrußtes Fläschchen als Andenken aus. Und tatsächlich: Als sie das Gefäß | |
| in ihrem Hotelzimmer zu reinigen versucht, entsteigt ihm, begleitet von | |
| einer rot-bläulichen Farbwolke, ein Dschinn (Idris Elba) mit spitzen Ohren | |
| und faunartig-behaarten Beinen. | |
| Über die titelgebenden dreitausend Jahre immer wieder in ein gläsernes | |
| Gefängnis gesperrt, sehnt sich dieser nun nach nichts mehr, als seiner | |
| Befreierin drei Wünsche zu erfüllen, um im Gegenzug seine Freiheit zu | |
| erlangen. Mit Alithea sieht er sich jedoch keiner leicht zu erweichenden | |
| Meisterin gegenüber. | |
| ## Die Wünsche der Frauen | |
| Die in der Erzählforschung geschulte Wissenschaftlerin weiß schließlich, | |
| dass jede Geschichte, die von Wünschen handelt, ein Lehrstück ist, das für | |
| die Wünschenden stets schlecht ausgeht. Und nicht nur das: Sie ist | |
| keineswegs an einer Veränderung, die ihr sorgsam kuratiertes Leben | |
| empfindlich stören könnte, interessiert. | |
| An den Geschichten, die der Dschinn zu erzählen hat, ist sie es dafür umso | |
| mehr. Damit verlässt „Three Thousand Years of Longing“ seinen | |
| kammerspielartigen Rahmen und taucht in die opulent inszenierte | |
| Vergangenheit des Dschinns ein. | |
| Er berichtet von seiner Zeit als Geliebter der Königin von Saba (Aamito | |
| Lagum), vom Dienstmädchen Gulten (Ece Yüksel), die ihre Wünsche nutzte, um | |
| die verhängnisvolle Aufmerksamkeit eines osmanischen Prinzen (Matteo | |
| Bocelli) zu erlangen. Und schließlich auch von Zefir (Burcu Gölgedar), die | |
| durch ihn Weisheit erlangen wollte und an der Unmöglichkeit, als Frau des | |
| 19. Jahrhunderts etwas anderes als Gattin zu sein, verzweifelte. | |
| Der oscarprämierte Kameramann John Seale, der schon für „Mad Max: Fury | |
| Road“ mit Miller zusammenarbeitete, findet für die Rückblenden traum- bis | |
| rauschhafte Bilder. Dabei ergötzt sich die Inszenierung allerdings nicht | |
| selten an orientalistischen Klischees, gerade wenn sie mit besonderem | |
| Interesse die Dekadenz am Hofe und ihre Haremskultur beleuchtet. Die Stärke | |
| des Films liegt ohnehin weniger im lauten Spektakel, das er bisweilen | |
| veranstaltet, als in den leisen Zwischentönen, den Zwiegesprächen zwischen | |
| Alithea und ihrem plötzlichen Gegenüber. | |
| ## Die Angst des Menschen | |
| Der Dschinn muss sie nach London begleiten, als ihr nach seinen Erzählungen | |
| doch noch ein Wunsch einfällt. Die dort aufkeimende Begeisterung des | |
| Dschinns für die Errungenschaften der Menschen weiß sie zu zügeln: | |
| Schließlich handele es sich vorrangig um Ingenieurskunst, technische | |
| Wunder. Auf anderen Feldern trete die Menschheit immer noch auf der Stelle, | |
| sieht sich einem großen Nichts gegenüber, verliert sich regelmäßig in Angst | |
| und stürzt sich damit selbst immer wieder ins Chaos. | |
| Was George Miller, der das Drehbuch gemeinsam mit Tochter Augusta Gore | |
| verfasste und dafür auf eine Kurzgeschichte von A. S. Byatt zurückgriff, | |
| unausgesprochen lässt, aber andeutet: Geschichten sind es, die angesichts | |
| dieses von der Wissenschaft weiterhin nicht zu erschließenden Nichts einen | |
| Halt, eine Ordnung, einen Sinn geben können. Und seien es nur die | |
| Geschichten, die wir uns selbst ständig über unser eigenes Leben erzählen. | |
| Ob Alithea, deren Name aus dem Griechischen übersetzt übrigens so viel wie | |
| „wahrhaftig“ bedeutet, tatsächlich ihrem Dschinn begegnet, oder ob sie | |
| ihrem eigenen Geist erlaubt hat, zu wandern, bleibt offen. Für einen Film, | |
| der mit unbeirrbarer Leidenschaft für das Mythische und Sagenhafte | |
| eintritt, ist das nur konsequent. | |
| 5 Sep 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Thor--Tag-der-Entscheidung-im-Kino/!5456902 | |
| [2] /Sequel-der-Mad-Max-Filme/!5008357 | |
| [3] /Memoria-mit-Tilda-Swinton/!5847858 | |
| ## AUTOREN | |
| Arabella Wintermayr | |
| ## TAGS | |
| Spielfilm | |
| Fantasy | |
| Märchen | |
| Geist | |
| Mythos | |
| Forschung | |
| Sudan | |
| Film | |
| Pop-Kultur | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Spielfilmdebüt „Mit 20 wirst du sterben“: Leben im Bannspruch der Derwische | |
| Amjad Abu Alalas Film „Mit 20 wirst du sterben“ spielt in einer archaischen | |
| Religionsgemeinschaft. Zugleich ist es der Neubeginn sudanesischen Kinos. | |
| „Memoria“ mit Tilda Swinton: Menschen als Instrumente | |
| „Memoria“ von Apichatpong Weerasethakul ist ein Film der Geräusche und | |
| Klänge. Schauspielstar Tilda Swinton begibt sich auf die Suche danach. | |
| Adam Green über seinen neuen Film: „Aladdin ist materialistischer Exzess“ | |
| Musiker Adam Green wagt sich an ein Märchen aus Tausendundeine Nacht. | |
| Heraus kommt Kapitalismuskritik mit hohem Dada-Faktor. |