# taz.de -- „Memoria“ mit Tilda Swinton: Menschen als Instrumente | |
> „Memoria“ von Apichatpong Weerasethakul ist ein Film der Geräusche und | |
> Klänge. Schauspielstar Tilda Swinton begibt sich auf die Suche danach. | |
Bild: Alles kann hier passieren: Jessica Holland (Tilda Swinton) in „Memoria�… | |
Es ist Nacht, es ist dunkel, es ist still, höchstens ein gleichmäßiges | |
Rauschen, da reißt ein seltsames Geräusch Jessica Holland (Tilda Swinton) | |
aus dem Schlaf. Ein Geräusch, das sie nicht einordnen kann, wie eine Kugel, | |
die gegen eine Wand prallt, so beschreibt sie es später. | |
Dieses Geräusch, sie hört es wieder und wieder, verfolgt sie. Und so | |
verfolgt sie dieses Geräusch. Sucht einen jungen Toningenieur auf, Hernan, | |
der an seinem Mischpult das Geräusch wie ein Phantombild nach ihren Angaben | |
zu modellieren versucht. So kommen sie dem Klang, der womöglich nur in | |
Jessicas Innerem existiert, nahe; und auch einander, nur dass von Hernan, | |
als Jessica ihn wieder aufsuchen will, niemand gehört haben will. | |
Es dämmert, draußen, ein Parkplatz im Stadtraum. Die Alarmanlage eines | |
Autos setzt sich ohne erkennbaren Anlass in Gang. Eine weitere kommt dazu, | |
noch eine und noch eine: am Ende ein einziges Blinken und Hupen und Jaulen. | |
Ein Misstonkonzert. Kein Mensch ist zu sehen, nur der Lärm ist zu hören, | |
als eine Wirkung, die keine erkennbare Ursache hat. Der Regisseur | |
Apichatpong Weerasethakul ist keiner, der die belebte gegen die unbelebte | |
Welt ausspielt. Auch die unbelebten Dinge sind, auf oft genug unheimliche | |
Weise, belebt. | |
## Legenden und Geister sind nie fern | |
Der Ort, drinnen wie draußen, ist Medellín, in Kolumbien. Hierhin hat es | |
Weerasethakul für „Memoria“ verschlagen, all seine Filme zuvor hat er in | |
seiner Heimat, in Thailand, gedreht. Filme, denen etwas Verwunschenes | |
eignet, in denen sich Räume und Zeiten durchdringen, in denen Mythen und | |
Legenden und Geisterwesen nie fern sind. Filme von einer oft fast | |
tranceartigen Ruhe und Langsamkeit, die aber ganz in der zeitgenössischsten | |
Gegenwart spielen. Nur hat diese bei Weerasethakul Membranen zu anderen | |
Welten. | |
Schon der Titel von „[1][Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren | |
Leben“, des Films, mit dem der Regisseur 2010 in Cannes die Goldene Palme | |
gewann], kündigt das an. Erzählt wird von Boonmee, einem alten Mann, der | |
sich zum Sterben in ein Haus am Rand des Regenwaldes zurückzieht. | |
Seine Ehefrau, die tot ist, erscheint, um ihn zu pflegen. Auch der | |
verschollen geglaubte gemeinsame Sohn kehrt zurück, wenn auch in Gestalt | |
eines Waldgeists mit rot leuchtenden Augen. In „Memoria“ gibt es | |
gleichfalls seltsame Wesen, sie sind jedoch noch einmal anderer Art. | |
Dabei bewegt sich „Memoria“ zunächst, fast ohne das Register des Realismus | |
zu verlassen, durch städtische Szenerien; am erstaunlichsten ist eine lange | |
Kamerafahrt durch eine belebte Geschäftsstraße, mitten im trubeligsten | |
Einkaufsleben. Öfter jedoch bewegt sich die Kamera nicht. | |
Die Mehrzahl der Einstellungen ist statisch, gibt den Räumen und Menschen | |
und Dingen viel Zeit und Geduld. Jessica am Krankenbett ihrer Schwester. | |
Jessica im Gespräch mit einer Wissenschaftlerin (Kurzauftritt: Jeanne | |
Balibar), die ihr Knochenfunde vorführt. Jessica, die | |
Orchideenspezialistin, lässt sich die unterschiedliche Qualität von | |
Kühlschränken für die Pflanzen erklären. | |
## Sprache weicht dem Geräusch | |
Oder Jessica mit ihrem Schwager an einem Tisch auf dem Gelände der | |
Universität. Er liest ihr Zeilen eines Gedichts vor. Auf Spanisch. Auch | |
Tilda Swinton spricht die meiste Zeit Spanisch, wenn sie überhaupt spricht. | |
Es ist ein langsamer Film, Jessica eine Figur, die immer leicht neben sich | |
steht. Oft genug schweigt sie, wie dem Geräusch, von dem sie verfolgt wird, | |
innerlich lauschend, ihm draußen fast obsessiv auf der Spur. Dabei ist | |
nicht immer klar, was die eine Einstellung oder die eine Begegnung mit der | |
anderen verbindet, außer Swinton selbst, die auf höchst passive Weise | |
aktiv, aber doch den ganzen Film über omnipräsent ist. | |
Das Schöne: Man weiß nie, was kommt, es kann buchstäblich alles passieren, | |
Erscheinungen sind jederzeit möglich. Abwege, Unterbrechungen, etwa ein | |
kleines improvisiertes Jazzkonzert in den Räumen der Universität. Jessica | |
gerät hinein, steht am Rande, der Film lässt sich minutenlang fallen in die | |
Musik, die Musiker an ihren Instrumenten. | |
In die unaufdringlichen Motivreihen von „Memoria“ passt dieses | |
Zwischenspiel als freie Variation, gebundene und geformte, von Menschen | |
performte Musik in einem Film der Geräusche und Klänge von Tier, Mensch, | |
Natur, Geräuschen, die hier meist loser und weiter und urtümlicher und aus | |
weniger klaren Quellen klingen und hallen. | |
## Surrealismus statt Beruhigungspillen | |
Nach der ersten Hälfte führt die Suche Jessica hinaus aus der Stadt. Eine | |
Autofahrt, am Straßenrand stehen Soldaten. Sie besucht eine Ärztin, bittet | |
sie um Beruhigungstabletten, die Ärztin rät ihr ab und schwärmt von | |
Salvador Dalí, dessen Vision von der Welt sich, da ist sie ganz sicher, | |
nicht der Einnahme von Drogen verdankt. | |
In der Natur, es ist eine Idylle mit üppigen Bäumen und Sträuchern, einem | |
Bach, dessen Rauschen nie in den Hintergrund tritt, trifft Jessica einen | |
Mann, auch er heißt Hernan (Elkin Diaz), ist viel älter als der Hernan aus | |
der Stadt, hat mit ihm aber sonst auf den ersten Blick gar nichts zu tun. | |
Ohne einen zweiten Blick jedoch ist man in Weerasethakuls Filmen verloren. | |
Ohne zweiten Blick, ohne das zweite Gesicht, ohne [2][die Offenheit dafür, | |
das bei klarem Verstand niemals Reale für mindestens möglich und am Ende | |
auch wirklich zu halten]. | |
Unablässig finden zwischen Menschen, Zeiten, Dingen hier Übertragungen | |
statt, Übertragungen im übertragenen Sinn, hier, in diesem Film, aber auch | |
in geradezu bestürzend wörtlichem Sinn: Übertragungen von Geräuschen, in | |
diesen Geräuschen zugleich aus vergangenen Zeiten. Menschen und ihre Körper | |
sind Instrumente, auf denen höhere Wesen ihre Erinnerungsklänge | |
improvisieren. | |
## Ein Schlaf, der Ungeheuer gebiert | |
Es ist sein Los, erzählt Hernan, nichts zu vergessen, jede Kleinigkeit ist | |
in sein Gedächtnis gegraben. Deswegen hat er diesen Flecken Erde niemals | |
verlassen, es wäre nicht zu ertragen, es ist fast schon zu viel, die | |
Erinnerung an das, was in seinem Flecken Erde geschah, in sich zu halten. | |
Dann legt er sich schlafen, auf die Erde, vor ihren Augen, es ist ein | |
Schlaf wie der Tod, ein Schlaf zugleich, der Ungeheuer gebiert. | |
Die Bewegung von Weerasethakuls Filmen ist immer das gerade Gegenteil von | |
Überstürzung. Zeit wird gedehnt, und zwar sanft, und in dem, was sich in | |
der durch Dehnung gewonnenen, geöffneten Zeit auftut, ist Raum für | |
alltägliche und außeralltägliche Wunder. In dieser Bewegung unterscheidet | |
sich „Memoria“ trotz Schauplatzwechsel kaum vom bisherigen Werk. | |
Mit [3][Tilda Swinton hat der Regisseur allerdings erstmals eine aus dem | |
Weltkino bekannte] Führerin und Mystagogin für seine Reise bestellt. Sie | |
nimmt sich zurück, soweit es nur geht, und doch ist sie als Ikone am Ende | |
vielleicht doch des von vornherein Vertrauten zu viel. | |
Sie zieht, ob sie will oder nicht, und fast umso stärker, je mehr man | |
spürt, dass sie es sicher nicht will, die Aufmerksamkeit auf sich; eine | |
Aufmerksamkeit, die dem Rauschen gehören sollte und dem unerklärlichen | |
Knall, dem von der 35-Millimeter-Kamera aufgenommenen Licht, der Aufladung | |
mit Intensitäten in den langen, offenen Einstellungen, dem Sprechen selbst, | |
dem Gehen und Sehen, einem bedrohlichen Hund, Knochenfunden, dem fließenden | |
Wasser, dem Sturzbach, der Poesie auch des Banalen. | |
Lang ist der Abspann des Films, man hört immer stärker werdenden | |
gleichmäßigen Regen. Endgültig kommt „Memoria“ hier zu sich, als rausche… | |
und berauschende Soundinstallation. | |
4 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Ekkehard Knörer | |
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