# taz.de -- Ehrung eines SA-Mitglieds: Der Druck der Straße | |
> Darf man eine Straße nach einem ehemaligen SA-Mann benennen? Um diese | |
> Frage tobt seit einem Jahr ein Streit in einem kleinen Ort in | |
> Mittelfranken. | |
Bild: Neubaugebiet mit Altlasten: Die Siedlung in Allersberg, wo der umstritten… | |
ALLERSBERG taz | In Allersberg gibt es Straßen, die gibt es gar nicht. Die | |
Ludwig-Gmelch-Straße etwa. Oder die Wilhelm-Burkhardt-Straße. Schilder | |
haben die Straßen keine, auch das Navi findet sie nicht. Und – das ist | |
wesentlich erstaunlicher – selbst Bernhard Böckeler findet sie nicht. Der | |
ehemalige Bürgermeister der Gemeinde steht im Neubaugebiet Im Keinzel und | |
läuft die dortigen Straßen ab. Mal in die eine Richtung, mal in die andere. | |
Die ersten Häuser sind schon bald bezugsfähig, der Rest ist Baustelle und | |
Wiese. | |
Die kleinere der Straßen, heißt es, soll die Wilhelm-Burkhardt-Straße sein. | |
Doch welche ist kleiner? Die kürzere, die schmalere? Und überhaupt: Wo | |
fängt welche Straße an und wo hört sie auf? Die Straßen verlaufen in einer | |
Art Ring, von dem aber noch kürzere Straßenstücke abgehen. Dies hier sei | |
das Haus Ludwig-Gmelch-Straße 12, sagt schließlich ein Bauarbeiter. Also | |
müsste dieser Abzweig … Nein, es könnte auch … | |
Die Frage zu beantworten, wo genau die Wilhelm-Burkhardt-Straße verläuft, | |
scheint unmöglich. Und doch wird es eine der leichteren Fragen sein in | |
dieser Geschichte, in der es um Moral geht, um den Umgang mit der | |
Vergangenheit, um eine zerrüttete Gemeinde und um jede Menge Bürgermeister. | |
Vordergründig aber geht es zunächst mal um die Frage, ob es die richtige | |
Entscheidung war, in Allersberg, wo es so schöne Straßennamen wie Im | |
Himmelreich oder Am Wiesengrund gibt, eine Straße nach Wilhelm Burkhardt zu | |
benennen. Denn Burkhardt war nicht nur für kurze Zeit nach dem Krieg | |
Bürgermeister von Allersberg, er war auch – ebenfalls für kurze Zeit – in | |
der [1][SA]. | |
Böckeler hat die Suchexpedition aufgegeben, er sitzt jetzt in der Eisdiele | |
Azzurro, gleich gegenüber dem Rathaus. Was ja auch eine gewisse Symbolik | |
hat, auch wenn man nur hier gelandet ist, weil sonst an diesem Montagmittag | |
alles geschlossen hat in Allersberg. „Es läuft doch auf einen Punkt | |
hinaus“, sagt er jetzt. „Warum mache ich mich überhaupt an eine | |
Straßenbenennung heran, wenn ich weiß, die Person war bei der SA?“ Denn was | |
Böckeler wirklich stört, ist nicht, dass er die Wilhelm-Burkhardt-Straße | |
nicht gefunden hat, sondern dass es sie überhaupt gibt. | |
## Die Stadt der Drahtzieher | |
Böckeler ist ein freundlicher, nicht allzu großer Herr von 67 Jahren mit | |
weißem Schnauzer. 24 Jahre lang war der CSUler Chef des Rathauses, bis er | |
2017 nicht mehr antrat. In seiner Amtszeit bekam die Marktgemeinde südlich | |
von Nürnberg wieder einen Bahnanschluss, die historische Gilardi-Fabrik | |
direkt am Marktplatz wurde von der Gemeinde gekauft. Hier saßen früher die | |
Drahtzieher, und das hat in diesem Fall nichts mit Politik zu tun: Das | |
Handwerk des Drahtziehens, dafür war Allersberg dank der Firma Gilardi | |
berühmt. International vertrieb sie ihren Christbaumschmuck noch bis 2006. | |
Früher war eben auch in Allersberg mehr Lametta. | |
Böckeler kümmert sich inzwischen als Vorsitzender eines Fördervereins um | |
die Sanierung des [2][Gilardi-Anwesens]. Jenes Hauses, vor dem in der Früh | |
nach der Pogromnacht im November 1938 etliche Nazis standen und den | |
jüdischstämmigen Fabrikbesitzer Erik Geiershoefer und seine Mutter | |
festnahmen. Im Gefängnis in Hilpoltstein, erzählt Böckeler, seien ihnen | |
Vollmachten abgepresst worden, tags darauf habe ihnen die Fabrik nicht mehr | |
gehört. Was Geiershoefer blieb, war sein Leben. Im Frühjahr 1939 konnte er | |
mit Frau und Tochter nach England fliehen. Böckeler erzählt die Geschichte, | |
weil Geiershoefer später einer der Hauptbelastungszeugen gegen Burkhardt | |
war. | |
Burkhardt war erst 1937 von Nürnberg nach Allersberg gezogen. Er hatte eine | |
Firma, mit der er Druckerei- und Schreibmaschinen vertrieb. Nach dem Krieg | |
setzten ihn die Amerikaner als Bürgermeister ein: ein Amt, das er vom 25. | |
Juni bis 3. Oktober 1945 ausübte. Danach sprach man nicht mehr viel über | |
Wilhelm Burkhardt in Allersberg – bis zum 21. März 2021. An diesem Tag | |
stand im Gemeinderat als sechster Punkt das Thema Straßenbenennungen auf | |
der Tagesordnung. Um drei Straßen ging es. | |
Nach einigem Hin und Her beschloss man, eine Straße im Neubaugebiet St. | |
Wolfgang nach Susanne Schulenburg zu benennen: Die Tochter Erik | |
Geiershoefers war die letzte Chefin der Firma Gilardi und die erste | |
Gemeinderätin von Allersberg. Im Neubaugebiet Im Keinzel wiederum sollten | |
die Straßen nach Ludwig Gmelch, Bürgermeister von 1975 bis 1993, und | |
Burkhardt benannt werden. Wovon man zu diesem Zeitpunkt noch nichts wusste, | |
war dessen SA-Vergangenheit. Erst als Bernhard Böckeler im Juli 2022 im | |
Zuge seiner Vereinsarbeit im Staatsarchiv Nürnberg auf Burkhardts | |
Spruchkammerakten stieß, wurde diese bekannt. Überdies, so erfuhr man, war | |
Burkhardt auch Mitglied der [3][NS-Volkswohlfahrt] und der [4][Deutschen | |
Arbeitsfront]. Die Aufregung war groß, nach der Sommerpause kam es zu | |
hitzigen Debatten im Gemeinderat. | |
## Hält der Bürgermeister ein Gutachten zurück? | |
Dazu, die Straßenbenennung umgehend zurückzunehmen, waren der heutige | |
Bürgermeister Daniel Horndasch und die Gemeinderatsmehrheit allerdings | |
nicht bereit. Auch nicht, als die Debatte noch durch Post aus England | |
befeuert wurde: Dort lebt Alexander Schulenburg, der Sohn der 2020 | |
verstorbenen früheren Gilardi-Chefin, der sich via Pressemitteilung in die | |
Debatte einmischte: An dem Straßennamen festzuhalten wäre „eine Beleidigung | |
für die Opfer des Nationalsozialismus“. Schulenburg vermutete sogar, dass | |
Horndasch absichtlich ein unvollständiges Bild Burkhardts zeichnen möchte, | |
um auf der Straßenbenennung beharren zu können. Denn: „Wie nun aus | |
Allersberg zu hören ist, bleibt ein von der Allersberger Gemeindearchivarin | |
durchgeführtes geschichtswissenschaftliches Gutachten zu Burkhardt unter | |
Verschluss.“ | |
Eine Behauptung, die der Bürgermeister in einem Antwortschreiben an | |
Schulenburg von sich wies: Ein Gutachten existiere nicht und könne deshalb | |
auch nicht unterdrückt werden. Glaubhaften Aussagen aus dem Dorf zufolge | |
soll es ein entsprechendes Papier allerdings tatsächlich geben – mag man es | |
nun als Gutachten oder als ausführliche Stellungnahme bezeichnen. | |
Anzunehmen, dass es im Ergebnis nicht für die Benennung einer Straße nach | |
Wilhelm Burkhardt spricht. Die Archivarin ist dazu jedoch nicht zu | |
sprechen, verweist in knappen Worten lediglich an Bürgermeister Horndasch. | |
Von einem „Maulkorb“ sprechen sie im Ort. | |
Gern hätte man nun den Bürgermeister selbst zu den Vorwürfen befragt. Doch | |
auch dieser lässt auf Anfrage lediglich mitteilen, dass es derzeit „von | |
Seiten der Verwaltung keine Notwendigkeit für öffentliche Erklärungen zum | |
Sachverhalt oder zu unterschiedlichen Sichtweisen“ gebe. „Die Gemeinde | |
mauert“, sagt Bernhard Böckeler. | |
Ein externer Historiker solle sich nun des Themas in einer umfassenden | |
Untersuchung annehmen, beschloss der Gemeinderat Ende des vergangenen | |
Jahres. Doch während die Häuser im Neubaugebiet Gestalt annehmen, ist | |
dieses Gutachten offenbar noch nicht einmal beauftragt worden. Für | |
Schulenburg steht ohnehin fest, dass es nur dazu dient, „die Angelegenheit | |
auf die lange Bank schieben. Um zu entscheiden, ob Burkhardt ein Nazi war, | |
muss man nicht mehrere Jahrzehnte und Personen der Allersberger Geschichte | |
erforschen“. | |
## Die Gemeinde ist ohnehin schon gespalten | |
Auch Wilma Kinzler ist empört: „Was setzen wir denn da für ein Zeichen? | |
Andere Städte, Kommunen arbeiten auf, entfernen Straßennamen. Und was | |
machen wir?“ Sie hat ebenfalls die Befürchtung, dass das Rathaus die ganze | |
Diskussion einfach versanden lassen will. Mit ihrem Mann Manfred und der | |
Freundin Ilonka Popp hat die Seniorin deshalb Unterschriften für einen | |
Bürgerantrag gesammelt. Auf diese Weise konnten sie bewirken, dass sich der | |
Gemeinderat nun innerhalb von drei Monaten mit ihrer Forderung nach einer | |
Umbenennung der Straße befassen muss. | |
Ob die Straßenaffäre nun aber Ursache oder Symptom einer Spaltung des Ortes | |
ist, ist schwer zu sagen. [5][Schon länger frisst sich ein Graben durch | |
Allersberg.] Angefangen hat es mit dem Streit um ein | |
Amazon-Logistikzentrum. Rund 20 Hektar hat die Gemeinde dafür verkauft. | |
Verschachert, sagen die Gegner. Die Debatte sei mit unnötiger Aggression | |
geführt worden, sagen beide Lager nun – und machen das jeweils andere dafür | |
verantwortlich. Die Lager, das sind auf der einen Seite die Freien Wähler, | |
das Allersberger Bürgerforum (ABF) und der parteilose Bürgermeister, auf | |
der anderen Seite SPD, Grüne und der Großteil der CSU. | |
Es sind dieselben Blöcke, die sich auch jetzt beim Streit um den | |
Straßennamen wieder unversöhnlich gegenüberstehen. Dass am 2. Juli | |
Bürgermeisterwahlen sind, dürfte dabei keine friedensstiftende Wirkung | |
haben. Freie Wähler und ABF schicken wieder Horndasch ins Rennen, SPD und | |
Grüne unterstützen den Kandidaten der CSU. Und natürlich verdächtigen Freie | |
Wähler und ABF die Gegenseite, den Straßenstreit nur mit Blick auf den | |
Wahlkampf aufgeblasen zu haben. | |
Natürlich sind belastete Straßennamen keine Allersberger Besonderheit. So | |
sind beispielsweise in der ganzen Republik Straßen nach [6][Agnes Miegel] | |
benannt, einer Autorin, die die Blut-und-Boden-Ideologie der Nazis vertrat | |
und sich gern als deren dichterisches Aushängeschild instrumentalisieren | |
ließ. Auch Hindenburg, der Hitler zum Kanzler machte, ist in deutschen | |
Stadtplänen allgegenwärtig. Und gerade einmal 12 Kilometer von Allersberg | |
entfernt, in der Kreisstadt Roth, gibt es einen Rudolf-Wöhrl-Ring. Der | |
Modehausbegründer Wöhrl war 1931 in die NSDAP, 1933 in die SS eingetreten. | |
## Man habe Feindsender gehört, sagt der Pfarrer | |
Aber natürlich ist der Fingerzeig auf die anderen, die es doch noch | |
schlimmer trieben, selten hilfreich. Und so landen wir wieder in | |
Allersberg, dieser 8.000-Einwohner-Gemeinde, die der Rest Deutschlands, | |
wenn überhaupt, nur als Autobahnausfahrt kennt. Und eine Besonderheit hat | |
der Allersberger Fall ja doch: Während es sich sonst bei unliebsamen | |
Straßennamen meist um Altlasten handelt, bekam die Wilhelm-Burkhardt-Straße | |
ihren Namen vor gerade einmal zwei Jahren. | |
Hilfsbereit sei er gewesen und ein Organisationstalent, begründeten die | |
Freien Wähler seinerzeit ihren Antrag, die Straße nach Burkhardt zu | |
benennen. Und viel weiß man tatsächlich nicht über diesen Mann, der schon | |
1949 im Alter von 52 Jahren starb. | |
Aussagen über ihn finden sich vor allem in seiner Spruchkammerakte. Etwa | |
die lobenden Worte des damaligen Landrats, der 1946 vermerkte, dass | |
Burkhardt seinen Aufgaben mit „größter Selbstaufopferung“ nachgekommen se… | |
Der Pfarrer seinerseits will Burkhardt als „schärfsten Gegner des | |
Nazi-Regimes“ gekannt haben: „Es verging keine Woche, in der wir nicht über | |
die verwerflichen Methoden des Gewaltregimes und über die Kriegslage uns | |
aussprachen.“ Gemeinsam habe man auch Auslandssender gehört. | |
Aber wie aussagekräftig sind solche Akten? Nachfrage bei Eva Schultheiß, | |
der für Allersberg zuständigen Heimatpflegerin des Landkreises: | |
Grundsätzlich, so Schultheiß, hätten die Zeugen bei | |
[7][Spruchkammerverfahren] sehr oft versucht, sich gegenseitig zu | |
entlasten. Besonders verdächtig seien Aussagen, die sehr allgemeiner Natur | |
seien, wie im Fall Burkhardt. Wenn es dagegen ganz konkret beispielsweise | |
um die Beteiligung an bestimmten Aktionen gehe, dann habe das ein anderes | |
Gewicht. | |
## Bestes Zeugnis für den NSDAP-Ortsgruppenleiter | |
Schultheiß ist aber auch skeptisch, was die Leistungen Burkhardts als | |
Bürgermeister anbelangt: „Ich weiß nicht, was er in dieser kurzen Zeit | |
Besonderes getan haben sollte. Er konnte ja gar nichts bewirken.“ Das Amt | |
sei eine reine Verwaltungstätigkeit gewesen, alle Entscheidungen seien von | |
den Amerikanern getroffen worden. „Vielleicht hat er manchen Leuten privat | |
geholfen, aber das haben damals viele getan.“ | |
Zudem gibt es ja auch kritische Stimmen – allen voran die von Erik | |
Geiershoefer: „Meine Ansicht ist, dass Burkhardt sogar noch nach dem | |
Zusammenbruch aus früherem jüdischen Besitztum nach echter Naziweise | |
Kapital für sich schlagen wollte“, sagte der Gilardi-Fabrikant vor der | |
Spruchkammer aus. Hintergrund ist Geiershoefers Annahme, dass Burkhardt | |
sich seine Firma aneignen wollte, während er noch im Exil in London war. | |
Ein wenig schmeichelhaftes Licht wirft auch seine Freundschaft zu Karl | |
Kugler auf Burkhardt. Kugler war von 1937 bis 1942 NSDAP-Ortsgruppenleiter | |
in Allersberg. Als er zu einer Gefängnisstrafe von drei Monaten verurteilt | |
wird, macht sich Burkhardt für einen Straferlass stark und schreibt an | |
Kuglers Anwalt: „Er ist ein Mensch von lauterem Charakter und ideal | |
veranlagt, weshalb ich ihm vom menschlichen Standpunkt aus nur das beste | |
Zeugnis ausstellen kann.“ | |
Eine andere, eine ganz persönliche Geschichte erzählt dagegen Aris Maul. Er | |
kommt gerade von einem Geschäftstermin in Fulda zurück. Der 53-Jährige | |
arbeitet im Vertrieb von Zerspanungswerkzeugen. Gleich muss er in die | |
Gemeinderatssitzung. Es bleibt gerade noch Zeit für einen Cappuccino. Maul | |
ist Vorsitzender des ABF und sitzt für die Wählergemeinschaft im | |
Gemeinderat. Und: Maul ist Burkhardts Enkel. | |
## SA-Mitglied bleibt SA-Mitglied? | |
Dass Burkhardt in der SA war, sagt Maul, passe so gar nicht zu dem, was ihm | |
seine Mutter, aber auch andere Allersberger von seinem Großvater erzählt | |
hätten: Ein super großzügiger Mann, einer, der sich gekümmert hat, auf den | |
man sich verlassen konnte und der den Leuten in der schlimmsten Not | |
geholfen hat: So hatten sie ihn beschrieben. | |
An eine Sache kann sich Maul selbst noch erinnern: „Ich war noch sehr | |
klein, da habe ich zweimal erlebt, dass ehemalige Kriegsgefangene aus | |
Frankreich bei uns an der Tür geklingelt haben und nach meinem Großvater | |
gefragt haben. Sie wollten sich bei ihm bedanken, weil er ihnen in der | |
schwersten Zeit geholfen, vielleicht sogar das Leben gerettet habe.“ | |
Burkhardt war von 1942 an in einem Kriegsgefangenenlager in | |
Sulzbach-Rosenberg als Stabszahlmeister eingesetzt worden. „Es ist immer | |
noch meine feste Überzeugung“, sagt Maul, „dass er die Ideologie der Nazis | |
in keinster Weise unterstützt hat.“ | |
Alexander Schulenburg kann er damit freilich nicht überzeugen. SA-Mitglied | |
bleibt SA-Mitglied. Was zähle, so der Enkel Geiershoefers, sei schlicht die | |
„Tatsache, dass man Nazis nicht mit Straßennamen ehrt“. | |
Wenn es denn so einfach wäre. Ist es aber nicht, findet etwa Andreas | |
Heusler. „Es kommt immer drauf an“, sagt der Historiker, denkt noch einmal | |
kurz nach und wiederholt den Satz: „Es kommt immer drauf an.“ Heusler ist | |
weder mit der Causa Burkhardt noch mit den Verhältnissen in Allersberg | |
näher vertraut; dennoch lohnt es sich, in die Landeshauptstadt zu fahren, | |
um sich mit ihm zu unterhalten. Denn in Sachen Straßenumbenennungen kennt | |
sich der Mann aus. | |
## Experte: Man muss immer den Einzelfall betrachten | |
Heusler leitet kommissarisch die Abteilung Public History des Münchner | |
Kulturreferats und zudem eine [8][Expertenkommission, die der Stadt | |
Empfehlungen für den Umgang mit belasteten Straßennamen unterbreitet]. In | |
einem ersten Schritt haben die Kommissionsmitglieder eine Vorauswahl von 45 | |
der über 6.000 Münchner Straßennamen unter die Lupe genommen. Bei rund zwei | |
Drittel rieten sie zu einer Umbenennung, noch in diesem Jahr wird ein | |
Beschluss des Stadtrats erwartet. | |
Natürlich spielten die Mitgliedschaft in einer Partei oder Organisation für | |
die Bewertung eine Rolle, sagt Heusler, aber nicht die allein | |
ausschlaggebende. „Jemand, der beispielsweise in der NSDAP war, ist nicht | |
von vornherein als schlechter Mensch stigmatisiert. Die nominelle | |
Parteimitgliedschaft ist kein zentrales Kriterium, aufgrund dessen wir | |
sagen würden: Der Straßenname muss weg.“ Man müsse erst einmal untersuchen: | |
Welche Motivation lag dem Parteieintritt zugrunde? War die fragliche Person | |
aktives Mitglied oder eine Karteileiche? Ähnliches gelte auch für die | |
Mitgliedschaft in der SA. „Aus meiner historischen Erfahrung heraus kann | |
ich sagen, dass es durchaus Männer gab, die für das Nazi-Regime keine | |
Sympathie hatten und aus einem gewissen Anpassungsdruck in die SA gegangen | |
sind.“ Manchmal seien gerade Leute in die SA eingetreten, um ein Argument | |
zu haben, nicht Parteimitlied werden zu müssen. | |
In jedem Fall, so Heusler, brauche es eine Einzelfallbetrachtung. „Es gibt | |
keine Vergleichsgrößen. Sie werden niemals eine zweite Person finden, deren | |
Fall genauso gelagert ist.“ Die Sache ist kompliziert. | |
Und was, wenn sich jemand eben erst im Laufe der Zeit zu einem Nazigegner | |
gewandelt hat? Beispiel [9][Erwin Rommel]: Dass der Generalfeldmarschall | |
ein glühender Hitler-Verehrer war und dessen verbrecherischen Krieg | |
maßgeblich mit gestaltete, steht außer Frage. Dennoch sind heute nach ihm | |
mindestens 15 deutsche Straßen und drei Bundeswehrkasernen benannt. Hätte | |
er sich nicht 1944 dem Widerstand angenähert und wäre er nicht von Hitler | |
zum Suizid gezwungen worden, sähe das Gedenken wohl anders aus. | |
## Knobloch schaltet sich ein | |
Und hat sich nicht auch Burkhardt von einem SA-Saulus zu einem | |
Widerstands-Paulus gewandelt? Immerhin soll er aus der SA wegen | |
„politischer Unzuverlässigkeit“ ausgeschlossen, wegen seiner | |
„demokratischen Einstellung“ aus der Wehrmacht entlassen und „als | |
politischer Gegner der NSDAP“ dauernd beobachtet worden sein. Aspekte, die | |
zu bedenken wären. | |
Wären. Denn die von den Befürwortern der Straßenbenennung so beschriebene | |
Vita Burkhardts hat einen Schönheitsfehler. Sie fußt einzig und allein auf | |
dessen eigenen Angaben im Spruchkammerverfahren. Nur für seine angeblich | |
nazi-kritische Einstellung gibt es noch das kaum weniger zweifelhafte | |
Schreiben des damaligen Pfarrers. | |
So etwas hätte natürlich auffallen müssen. Die Schnelligkeit, mit der in | |
Allersberg über neue Straßennamen entschieden wird, erstaunt denn auch | |
Andreas Heusler. In München sei so etwas schon lange nicht mehr möglich. | |
Einem entsprechenden Stadtratsbeschluss gehe immer eine gründliche | |
Überprüfung der zu ehrenden Person voraus. | |
Der Fall zieht inzwischen seine Kreise. In Erlangen sitzt gerade der | |
Geschichtsstudent Gregory Bey an seiner Bachelor-Arbeit mit dem | |
Arbeitstitel „Die Wilhelm-Burkhardt-Straße in Allersberg – Eine Ehrung zu | |
Unrecht?“ – also gewissermaßen einer neutralen wissenschaftlichen | |
Betrachtung, wie sie die Gemeinde in Auftrag zu geben verspricht. Seine | |
Recherchen habe er zwar noch nicht abgeschlossen, berichtet Bey, aber | |
derzeit zeichne sich ab, dass es kaum Gründe für, aber eine Handvoll | |
Argumente gegen eine Ehrung in Form einer Straßenbenennung gebe. | |
Und Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde | |
in München, hat Bürgermeister Horndasch jüngst einen Brief geschrieben. | |
Darin hat sie einem Sprecher zufolge auf die Pikanterie des Falles | |
Burkhardt sowie die Bedeutung und Dringlichkeit des Themas hingewiesen. Zu | |
einer eindeutigen Positionierung gegen den Straßennamen will sie sich | |
allerdings in der Öffentlichkeit nicht durchringen. | |
Der Rest ist also wieder einmal Schweigen. Wenig tröstlich ist da auch, was | |
Fachmann Heusler ganz generell zum Thema Straßenbenennungen zu sagen hat: | |
„Am Ende, glaube ich, wird es nie die richtige oder die falsche | |
Entscheidung geben.“ | |
2 Jun 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/ns-organisationen/sturmabteilung.… | |
[2] https://www.gilardi-anwesen-allersberg.de/ | |
[3] https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/ns-organisationen/volkswohlfahrt.… | |
[4] https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/ns-organisationen/deutsche-arbeit… | |
[5] https://www.sueddeutsche.de/bayern/bayern-amazon-allersberg-buergerbegehren… | |
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Agnes_Miegel | |
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Spruchkammerverfahren | |
[8] https://stadt.muenchen.de/infos/historisch-belastete-strassennamen.html | |
[9] https://de.wikipedia.org/wiki/Erwin_Rommel | |
## AUTOREN | |
Dominik Baur | |
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