# taz.de -- Diskussionskultur zu Weihnachten: Die Kunst des Gesprächs | |
> Täglich scheitern Diskussionen, überall. Auf der Suche nach dem guten | |
> Dialog – am Küchentisch, im Kulturbetrieb und in Sachsen. | |
Bild: Die besten Gespräche finden am Küchentisch statt – zum Beispiel in de… | |
Der Mann mit dem Klemmbrett schreit in das Mikrofon, als hätte er Angst, | |
dass die Welt ihm sonst nicht zuhört und sich das kleine Fenster der | |
Aufmerksamkeit wieder schließt. Mehrmals greift seine Hand nach dem | |
Mikrofon, das ihm ein Mitarbeiter hinhält. Es ist ein kleiner Kampf um | |
Kontrolle. | |
Ein kalter Montagabend, Anfang Oktober, Sachsens Regierung hat ihre | |
BürgerInnen zum „Sachsengespräch“ geladen. Raum 139, Staatskanzlei in | |
Dresden. Drei Stuhlreihen, kreisförmig angeordnet, 150 Stühle, kein Platz | |
bleibt frei. Viele Fragen. Ein Mikrofon. Der Flyer verspricht „anregende | |
Gespräche und lebhafte Debatten“. Die Bürger kommen mit Sorgen. Manches | |
davon klingt vorwurfsvoll. | |
„Herr Ministerpräsident, ich habe Ihnen ein paar Zahlen mitgebracht.“ Der | |
Mann blättert durch die Seiten auf seinem Klemmbrett. Eng bedrucktes | |
Papier, Zahlen von Geflüchteten, die abgeschoben werden sollen, aber es | |
noch nicht sind. Er redet vom Rechtsstaat, von fehlender Kraft, von | |
Willkür. „Warum schieben wir nicht mehr von denen ab?“ [1][Michael | |
Kretschmer] antwortet, was Politiker in solchen Situationen eben antworten: | |
Alles nicht so einfach, aber man kümmere sich. | |
Der Klemmbrettmann schüttelt den Kopf, hebt die Hand, will nachhaken. Aber | |
das Mikrofon ist längst weitergewandert. „Lebhafte Debatte“ hatte er sich | |
offenbar anders vorgestellt. Während Situationen wie diese reflexartig auf | |
Rassismus und Fremdenfeindlichkeit verkürzt werden, offenbart sich | |
eigentlich eine Krise der Diskussionskultur, die viel weiter führt, als | |
viele denken. | |
Reden hilft, darauf schwören alle, ständig. Nicht nur in der Politik, auch | |
in der Familie, in Partnerschaften. Wo immer es ein Problem gibt, ist der | |
Ruf nach Sprechen und Verstehen so gewiss wie der Kater nach dem Rausch. | |
Ein „offenes Ohr“ haben, „anregende Gespräche“ führen, vom „beleben… | |
Streit“ profitieren. Gerade an Weihnachten stehen in den meisten Familien | |
wieder Diskussionen an – mit den Eltern über die immer gleichen | |
Streitpunkte, mit dem Onkel, der mit absurden Thesen um sich wirft, mit den | |
Nachbarn, die vielleicht AfD wählen. | |
Es neigt sich ein Jahr dem Ende zu, in dem auch die Gesellschaft viele | |
Debatten geführt hat. Das Land diskutierte über Chemnitz, die Personalien | |
Seehofer und Maaßen, #MeToo, den Paragrafen 219a, die Nachfolge Merkels und | |
vieles mehr. | |
## Von Gesprächen wird sehr viel verlangt | |
Diskussionen sollen feindliche Lager verbinden, Verständnis schaffen, die | |
Demokratie retten. Ganz schön viel verlangt. Wie soll das gehen? | |
Verschiedene Formate versuchen, darauf eine Antwort zu finden. Eines ist | |
„Deutschland spricht“, eine Initiative des Zeit-Verlags: Menschen mit | |
besonders gegensätzlichen Meinungen kommen hier miteinander ins Gespräch. | |
Wer an „Deutschland spricht“ teilnehmen wollte, beantwortete sieben Fragen. | |
Ein Algorithmus arrangierte das Zwiegespräch. Es soll Brücken bauen, Lager | |
aufbrechen. | |
Aber wollen und sollen wirklich alle miteinander reden? Woher kommt | |
überhaupt die ständige Sehnsucht nach dem Sprechen? Was ist eine gute | |
Diskussion? Und wo findet sie heute überhaupt noch statt? Ist es vielleicht | |
nur ein naiver Glaube, dass sich alles durch Diskussionen lösen ließe? | |
Wir haben die Debatte zur Debatte gestellt. Auf vier gesellschaftlichen | |
Ebenen: beim politischen Bürgergespräch, am privaten WG-Tisch und im | |
Kulturbetrieb, am Theater. Sowie im Internet, mit einer Diskutier-App. | |
Dresden, der Raum 139 wird immer voller. Viele Fragen: Eltern, die wissen | |
wollen, warum sie keinen Einrichtungsplatz für ihren behinderten Sohn | |
finden. „Schreiben Sie mir eine Mail“, sagt Ministerpräsident Kretschmer. | |
Nächster. Der Sozialpädagoge, der Geflüchteten Mut machen will, aber nicht | |
weiß, wie. Antwort: Geradestehen, weiter geht’s. Ein Rentner in Sorge um | |
seine Altersvorsorge. „Das wird schon.“ Nächster. Nächster. Ein bisschen | |
wie an der Fast-Food-Theke. Frage, Antwort, Frage, Antwort. Demokratie | |
braucht Zeit, aber Zeit ist knapp, und so wirkt das Frage-und-Antwort-Spiel | |
in Dresden eher wie die Simulation einer Diskussion. | |
Wer von Zeitnot spricht, landet irgendwann bei Hartmut Rosa. Der | |
Soziologieprofessor aus Jena hat ein viel besprochenes Buch über die | |
Beschleunigung moderner Gesellschaften geschrieben. Wie ein Beweis seiner | |
Arbeit hetzt Rosa an einem Montagabend Ende Oktober über den kahlen Flur | |
seines Instituts, er habe nicht viel Zeit, die Worte rasen ihm aus dem | |
Mund. Rosas jüngstes Buch heißt „Resonanz“, ein soziologischer Blick auf | |
die Art und Weise, wie sich Menschen zueinander verhalten. | |
Eher zufällig ist Rosas Buch auch ein Ratgeber für gutes Diskutieren | |
geworden. „Resonanz ist eine Beziehung des Hörens und Antwortens“, sagt | |
Rosa. Es brauche die Bereitschaft, sich von den Stimmen der anderen | |
berühren zu lassen. Dafür müsse man es für möglich halten, dass man | |
einander etwas zu sagen hat und sich dadurch auch verändern lässt. | |
Zeit, sagt Rosa, ist die wichtigste Voraussetzung für eine gelingende | |
Diskussion: „Zeitknappheit ist ein notorisches Problem. Alles muss schnell, | |
schnell gehen. Darum begreift man sich nicht mehr als Teil eines ,Wir', das | |
etwas gemeinsam gestaltet, sondern eher als ein ,Ich‘, das gegen andere um | |
Aufmerksamkeit und Gehör kämpft.“ Das zeige sich auch zwischen Bürgern und | |
Politikern, nicht nur beim Sachsengespräch. | |
Rosa steht in der Tradition der Frankfurter Schule, er schwärmt von dem | |
Philosophen Jürgen Habermas und dessen Idee eines herrschaftsfreien | |
Diskurses, dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments. Jener | |
idealistischen Idee einer gelingenden Diskussion, nach der zum | |
öffentlichen Diskurs nur zugelassen ist, was „vernünftig“ ist. „Unvernu… | |
wird als Lärm disqualifiziert. Passt diese Vorstellung noch in die aktuelle | |
Zeit, wo viele Diskussionen hochemotional statt sachlich geführt werden? | |
Für Hartmut Rosa sitzt das Problem tiefer. „Viele Menschen nehmen die Welt | |
um sich herum nicht mehr als von ihnen selbst gestaltet wahr“, sagt er. Ein | |
Ausdruck gefährlicher Entfremdung. „Viele Menschen haben momentan den | |
Eindruck, die Politik höre den Bürgern nicht mehr zu, sähe sie nicht, nehme | |
sie nicht wahr“, sagt Rosa. Trump, FPÖ und AfD – sie alle versprechen, den | |
Sorgen der Bürger „Gehör zu schenken“. | |
„Wir hören euch, wir sehen euch, wir geben euch eine Stimme zurück, so | |
lautet im Kern die rechtspopulistische Botschaft“, sagt Rosa. Es ist ein | |
Versprechen auf Resonanz, das doch nur ein leeres Versprechen bleibt. | |
Schließlich gipfelte Trumps Wahlkampfrede nicht in einem „I hear your | |
voices“, sondern einem „I am your voice“. | |
Umso wichtiger sei es, so Rosa, tatsächliche Resonanzverhältnisse in | |
Politik und politischen Diskussionen herzustellen. Reden, zuhören, | |
antworten – im Grunde ist das ein Grundversprechen der Demokratie: Jeder | |
erhält eine Stimme. Wie wenig selbstverständlich das sei, so Rosa, zeige | |
das Wesen der modernen Demokratie: „Politik ist zu einem permanenten Kampf | |
verkommen.“ | |
## Michael Kretschmer als erschöpfter Zirkusdompteur | |
Am überwiegend bekümmerten Gesichtsausdruck Michael Kretschmers lässt sich | |
das während des Sachsengesprächs sehr überzeugend ablesen. Kretschmer hat | |
etwas von einem erschöpften Zirkusdompteur, wie er in der Mitte des | |
Stuhlkreises steht, den Oberkörper leicht nach hinten gelehnt, als blase | |
ihm der Gegenwind frontal ins Gesicht. Der sächsische Ministerpräsident hat | |
keine Wand im Rücken, egal wie er sich dreht. | |
„Politische Diskussionen werden meistens im Modus des Antagonismus, also | |
des Gegeneinanders, geführt“, kritisiert Hartmut Rosa. Vorwurfsvolle Frage, | |
rechtfertigende Antwort. „Ein kategorischer Fehler“, sagt Rosa. Die | |
Alternative? „Nicht zu fragen: Wer hat recht?“, sondern: „Wie wollen wir | |
unsere Gesellschaft gestalten?“ Schon diese kleine Änderung an der | |
Diskussionsfrage habe große Wirkung. | |
Am Ende des Sachsengespräches versammeln sich alle Teilnehmer im Foyer der | |
Staatskanzlei. Ein runder Raum, kathedralenhohe Decke, es hallt. Kretschmer | |
bedankt sich, „gute Diskussionen“, „Austausch auf Augenhöhe“. Menschen | |
stehen herum, starren die Politiker an und halten sich an Weinschorlen | |
fest. „Ich werde heute der Letzte sein, der geht“, sagt Kretschmer | |
beschwingt. Der Mann mit dem Klemmbrett trinkt sein Glas hastig aus, kämpft | |
sichnach vorne, nur noch dieses eine Mal. Er ist nicht der Einzige. | |
Diskussionsformate wie das Sachsengespräch finden nicht in einem | |
machtfreien Raum statt. Nicht jeder hat die gleiche Chance auf Redezeit, | |
nicht jeder bringt die gleichen Fähigkeiten mit. In Diskursen verschränken | |
sich Macht und Wissen. Damit untergrabe Macht zwangsläufig auch | |
Resonanzerfahrungen, sagt Rosa. „Die Resonanztheorie zielt deshalb darauf | |
ab, den Machtlosen Selbstwirksamkeitserfahrung zurückzugeben“, schreibt | |
Rosa im Nachwort seines Buches. Wie genau, das bleibt unklar. „Das Buch | |
über das Verhältnis von Macht und Resonanz ist zweifellos noch zu | |
schreiben“, lenkt Rosa ein. | |
Was können Formate wie [2][das Sachsengespräch] überhaupt leisten? | |
Resonanz, so Rosa, ist flüchtig. Wie das Gefühl nach einem langen | |
Kneipenabend mit tiefen Gesprächen. Manchmal zehrt man davon noch tagelang. | |
Aber bewusst herbeiführen lässt es sich nicht. Spricht das grundsätzlich | |
gegen arrangierte Diskussionsformate? Nein, sagt Rosa. „Es gibt Formate, | |
die Resonanz wahrscheinlicher machen. Da entscheidet manchmal schon die | |
Sitzordnung oder ob man sich vorher kennenlernt, etwas gemeinsam machen | |
konnte.“ | |
Besonders wenig Resonanz zeige sich in TV-Talkshows. „Die Idee dort ist | |
nicht, dass ein Politiker mit einer anderen Meinung rausgeht, als er | |
reingekommen ist“, sagt Rosa. Politik operiere über Aggressionspunkte. | |
„Finde den Fehler. Keine besonders resonante Haltung.“ | |
Neben organisierten Gesprächen im großen Stil ist eine andere Art der | |
Diskussion viel häufiger: die persönliche. Zu Hause, in der Kneipe, im Büro | |
– meist unter wenigen Diskussionspartnern, häufig Menschen, die sich | |
kennen. | |
Hartmut Rosa ist der Meinung, dass auch situative Bedingungen Resonanz | |
wahrscheinlicher machen können. Zum Beispiel das Setting einer Diskussion: | |
frei von Angst und frei von Zeitdruck. Gerade im Privaten ist das eher | |
gegeben. Man kennt sich, man hat keine Eile. Nicht ohne Grund sagt man, die | |
besten Gespräche finden am Küchentisch statt. | |
## Eine Frage kommt in der WG immer wieder auf | |
Ein Freitagabend in Berlin-Moabit. Clara Dröll, Jan Tappe und Ruslan Aliev | |
wohnen gemeinsam in einer Wohngemeinschaft. Clara studiert Anthropologie, | |
Jan ist Kurator, und Ruslan arbeitet bei einem gemeinnützigen Verein, der | |
„Neuen Nachbarschaft Moabit“, einem Sozialprojekt. Die drei sind nicht nur | |
Mitbewohner, sondern auch Freunde. Sie teilen den Freundeskreis, das | |
Weltbild, sie sind meistens einer Meinung. Nur eine Frage diskutieren sie | |
immer wieder: Ist ein Dialog mit Rechtsradikalen möglich? | |
Clara: Auch wenn es hart ist, ich bin immer für Dialog. Alles besser, als | |
jemanden abzustempeln und zu sagen: Du bist ein Nazi, mit dir rede ich | |
nicht. | |
Ruslan: Mit radikal Rechten werde ich auf keinen Fall diskutieren, das | |
bringt nichts. | |
Jan: Ich bin mir nicht so sicher, ob Rechte überhaupt dialogbereit sind. | |
Ruslan: Es gibt genug AfD-Wähler, die wollen einfach nur gehört werden und | |
ihrem Unmut über Politik Luft machen. Mit denen sollte man reden, die kann | |
man noch erreichen. Aber warum sollte ich meine Zeit und Energie in Nazis | |
stecken, bei denen ich nichts bewirken kann? | |
Clara: Das weißt du doch gar nicht. | |
Ruslan: Doch. | |
Clara: Und wo ziehst du die Grenze? Wer ist „nur“ ein verblendeter | |
AfD-Wähler, wer ist ein Nazi? | |
Ruslan: Das ist schwierig. Manchmal trifft man auch eine falsche | |
Entscheidung. Aber wir haben alle nur begrenzte Ressourcen, und die sollten | |
wir nicht verschwenden. | |
Clara: Aber wenn du jemanden aus dem Dialog ausschließt, dann spaltet das | |
die Gesellschaft noch mehr. | |
Ruslan: Ich kann damit leben, wenn wir uns von einer radikalen Minderheit | |
abspalten. | |
Clara: Was soll das bedeuten? Einfach am Rand der Gesellschaft weiterhassen | |
lassen? | |
Ruslan: Weiß ich nicht, aber reden ist nicht immer die Lösung. | |
Stille. Jans Handy vibriert.Jan: Meine Mutter hat mir einen Link geschickt: | |
Martin Sonneborn ist gerade als Stauffenberg verkleidet auf eine Lesung | |
von Björn Höcke gegangen. | |
Alle lachen. Die Diskussion ist vorbei. Clara nippt an ihrem Glas, Ruslan | |
knabbert ein paar Erdnüsse, und Jan tippt auf seinem Handy. Das Gespräch | |
dreht sich nun darum, dass sich die drei eigentlich meistens einig sind. | |
„War aber interessant, mal wieder mit euch zu diskutieren“, sagt Clara. Die | |
Jungs stimmen zu. „Mal wieder richtig was los in der Bude“, sagt Ruslan, | |
und alle drei lachen. | |
## Gesprächsverläufe unter Laborbedingungen | |
Romy Jaster ist Philosophin an der Humboldt-Universität Berlin und | |
Argumentationscoach und sagt: In Partnerschaften und Freundschaften lerne | |
man außerordentlich viel über Diskussionen. Jaster erforscht Möglichkeiten | |
zur Verbesserung des politischen und öffentlichen Diskurses und hat dafür | |
ein „Streitlabor“ entwickelt, um Gesprächsverläufe zu beobachten. | |
Erzählt man ihr von der Diskussion am WG-Tisch in Moabit, betont sie als | |
Erstes die Vorteile einer solchen Debatte: „Wenn man sich kennt, nimmt man | |
den anderen nicht nur als Vertreter einer anderen Meinung wahr, sondern | |
auch als Menschen – anders als bei Diskussionen mit Fremden. Im Privaten | |
begegnet man sich eher wohlwollend und aufgeschlossen.“ | |
Doch am Ende ihrer Diskussion waren sich die drei am Küchentisch in Moabit | |
lediglich einig darin, sich uneinig zu sein. Ist dieser Dissens ein | |
Problem? „Überhaupt nicht“, sagt Jaster. „Eine gute Diskussion führt ni… | |
immer zum Konsens. Aber man sollte auf jeden Fall genau verorten können, | |
worin man sich uneinig ist“, sagt sie. Gerade im persönlichen Umfeld fehlt | |
dazu oft das Durchhaltevermögen. Diskussionen, bei denen unterschiedliche | |
Meinungen aufeinandertreffen, enden meist einfach mit einem Schulterzucken | |
und einem „okay“, oder eben mit Lachen und Bier. | |
„Diskussionen im Privaten werden oft nicht konsequent genug geführt. Da | |
siegt dann meistens das Harmoniebedürfnis, man bohrt nicht weiter nach, | |
sondern belässt es dabei“, sagt die Philosophin Jaster. So wie bei der WG | |
in Moabit. Auch das kommt davon, wenn Diskussion als Kampf ums Rechthaben | |
und nicht als gemeinsame Suche nach dem plausibelsten Standpunkt verstanden | |
wird. „Man kratzt nur an der Meinungsoberfläche, Argumente werden nicht | |
wirklich ausdifferenziert und Fragen nicht konsequent geklärt.“ | |
Fragt man Clara, Jan und Ruslan nach einem Fazit ihrer kurzenDiskussion, | |
wird genau das deutlich. „Ich verstehe Ruslan, aber ich sehe das anders“, | |
sagt Clara. „Ist ja auch gar nicht schlimm“, sagt Ruslan. „Im Privaten ge… | |
man einem Wertedissens meistens aus dem Weg, weil wir die Folgen für das | |
Miteinander nicht abschätzen können“, sagt Jaster. | |
Diskussionen seien in den letzten Jahren immer mehr zu einem Wettbewerb | |
geworden: „Die Diskussion wird so sehr als Sportveranstaltung wahrgenommen, | |
dass es Leuten unglaublich schwerfällt, den eigenen Standpunkt auch nur ein | |
wenig zu ändern“, sagt Jaster. Das käme einer Niederlage gleich. Und wer | |
verliert schon gerne? | |
Auch in den Medien werden Diskussionen so inszeniert. Pro und kontra. | |
Selten hadert jemand mit der eigenen Meinung oder ändert sie sogar im Laufe | |
der Diskussion. „Es fehlt an guten Vorbildern“, sagt Jaster. „Man sollte | |
den anderen Menschen als Ressource verstehen, um gemeinsam die Haltbarkeit | |
der jeweiligen Standpunkte zu prüfen.“ | |
## Harmonie im Streitraum | |
Wohin es führen kann, wenn Menschen nicht bereit sind, von ihrem Standpunkt | |
nur ein wenig abzurücken, lässt sich an einem Sonntagnachmittag Ende | |
Oktober in der Berliner Schaubühne beobachten. Auf einer dunklen Bühne | |
stehen sich zwei Holzstühle auf einem wuchtigen roten Teppich gegenüber. | |
Auf dem einen sitzt Carolin Emcke, Philosophin und Gastgeberin des | |
„Streitraums“, auf dem anderen ihr Gast Max Czollek, Lyriker und Essayist. | |
Das Thema des heutigen Mittags: Integration und Pluralismus. Max Czollek | |
stellt in der ersten halben Stunde sein neues Buch, „Desintegriert euch“, | |
vor, danach bespricht er seine Thesen mit Emcke. Der Verlag bewirbt | |
Czolleks Buch als Streitschrift gegen das „Integrationstheater“, ständig | |
werde ein deutsches „Wir“ inszeniert. | |
Czollek will Pluralismus statt Leitkultur. Darüber streiten will mit | |
Czollek an diesem Abend niemand. Carolin Emcke und Max Czollek sind fast | |
durchgehend einer Meinung. Das Publikum: klatscht gemeinsam, nickt | |
gemeinsam, lacht an den passenden Stellen. Eine homogene, sich zuprostende | |
Masse, die Einigkeit und Harmonie verströmt. | |
Als die Gesprächsrunde auch für die Zuschauer geöffnet wird, hat ein Mann, | |
Reihe 13 hinten rechts, eine Anmerkung. „Manchmal ist Pluralismus aber | |
einfach nur anstrengend“, sagt er. Oft habe er Angst im Alltag, etwas | |
falsch zu machen. Eine falsche Äußerung gegenüber Minderheiten oder | |
Andersgläubigen, eine falsche Frage, eine falsche Geste. „Allein schon das | |
Abendessen mit Freunden ist anstrengend. Der eine Vegetarier, die andere | |
Veganerin.“ Er finde Vielfalt gut, aber auch anstrengend, das wolle er | |
lediglich anmerken. | |
Schon während er spricht, kippt die Stimmung im Saal. So wie sich der Raum | |
vorher im Lachen verbündet hat, verbündet er sich nun zu einem Augenrollen, | |
entrüstetem Schnaufen und einem verächtlichen Lachen. Es hat nur ein paar | |
Sekunden gedauert, und das Publikum hat einen gemeinsamen Feind gefunden. | |
Alles dreht sich wie choreografiert in seine Richtung, die Atmosphäre | |
wird feindselig. | |
Max Czollek antwortet: „Gesellschaft ist eine Zumutung. Bahn fahren ist | |
eine Zumutung. Und ganz ehrlich, für marginalisierte Minderheiten war es | |
immer schon anstrengend. Jetzt sind mal andere dran.“ „Okay“, flüstert d… | |
Mann mit dünner Stimme in das Mikrofon und drückt sich tief in seinen Sitz, | |
als wolle er verschwinden. Einer dieser Schlüsselmomente, von denen Hartmut | |
Rosa spricht. | |
„Wer sich auf Diskussionen einlässt, macht sich verletzbar. Man setzt sich | |
selbst aufs Spiel. Da müssen Verantwortliche und Teilnehmer solcher Formate | |
hochsensibel miteinander sein. Erfährt jemand dann Aggression, wird | |
Resonanz unmöglich.“ Denn was ist hier eigentlich passiert? Ein Mann hat | |
eine Anmerkung gemacht, nichts weiter. Er hat eine Unsicherheit | |
angesprochen, die wahrscheinlich viele umtreibt. Nicht in diesem Raum, aber | |
gewiss „da draußen“. | |
Eine Frage, die eine Gesellschaft mit Ruhe und Geduld beantworten muss, | |
weil sie nicht für jeden selbstverständlich ist. Und eigentlich hätte der | |
„Streitraum“ genau dafür Platz geboten. Das Resümee am Ende der | |
Veranstaltung: Es gab keine Diskussion, keine produktive Reibung von | |
Meinungen und kein gemeinsames Vorankommen. Was es gab, war eine homogene | |
Gruppe, die einem tastenden Gesprächsangebot mit Härte begegnet ist. | |
Der Mann aus Reihe 13, der Klemmbrettmann aus Dresden, Clara, Jan und | |
Ruslan aus Moabit: sie alle sind in ihren Diskussionen gescheitert. | |
Entweder an anderen oder an sich selbst. In der Schaubühne gab es keine | |
Toleranz gegenüber Zweifel, in Dresden keine Zeit für richtigen Austausch | |
und in der WG ein zu großes Harmoniebedürfnis, um in die Tiefe zu gehen. | |
## Scheiternde Diskussionen als Gesellschaftsphänomen | |
Es zeige sich an alltäglichen Diskussionen, wie schwierig es für ganze | |
Gesellschaften ist, konstruktiv miteinander zu diskutieren, sagt die | |
Philosophin Romy Jaster. „Die Gesellschaft ist gerade in allen Bereichen | |
auf der Suche nach Formaten, die das leisten oder begünstigen können. Eine | |
Suche, die noch ganz am Anfang steht“. | |
Und während in der analogen Welt hier und da die Debatten scheitern, sucht | |
auch das Internet noch immer nach einem Königsweg des Diskutierens. Denn | |
eigentlich sollten wir ja in paradiesischen Debattenzeiten leben: Noch nie | |
waren mehr Menschen auf der Welt miteinander vernetzt, standen mehr | |
Möglichkeiten gesellschaftlichen Austauschs zur Verfügung. | |
Viele Zustandsbeschreibungen der Internetkommunikation klingen allerdings | |
düster und dystopisch: „Durch das Netz ziehen marodierende Horden von | |
Gesinnungstätern, die alles verfolgen, was ihrer Weltanschauung nicht | |
entspricht. | |
Aus der Meinungsfreiheit ist der Meinungskampf geworden“, schrieb Jens | |
Jessen kürzlich in der Zeit. „Das Netz selbst ist ein alternativer Raum | |
geworden – die Alternative zur zivilisierten Welt.“ Die sozialen Netzwerke | |
sind ein vermintes Gebiet mit tiefen Schützengräben zwischen feindlichen | |
Lagern. Nur: Warum ist das so? Und ließe sich das ändern? | |
Drei Stunden in einem Auto auf der Autobahn, und danach sieht man sich nie | |
wieder. Versucht sich Niklas Rakowski an richtig gute Diskussionen zu | |
erinnern, landet er sofort bei Mitfahrgelegenheiten. „Das sind immer die | |
Momente, wo man komplett andere Lebensrealitäten kennenlernt“, sagt er. | |
Soldaten treffen auf Studenten, Manager auf Hebammen. | |
## Eine App namens „Diskutier mit mir“ | |
Die Mitfahrgelegenheit im Internet, so könnte man Rakowskis App „Diskutier | |
mit mir“ auch nennen. Ein anonymer Chat, eins zu eins, kein Publikum, aber | |
zwei unterschiedliche Meinungen. „In meinem Alltag wurden Diskussionen mit | |
Andersdenkenden immer seltener“, sagt der 29-jährige Doktorand. | |
Mit drei Kumpels fasst Rakowski vier Wochen vor der Bundestagswahl 2017 den | |
Entschluss, das müsse sich ändern. „Ich merkte irgendwann, ich hatte | |
einfach noch nie eine gute Diskussion im Netz geführt oder beobachtet.“ Auf | |
Facebook und Twitter eskalieren Gespräche wie beim Hundekampf: Es gewinnt, | |
wer oben steht und am lautesten bellt. „Im Internet ist immer das am | |
stärksten, was am meisten polarisiert.“ | |
Ändern lasse sich das nur, wenn es mehr Anonymität gebe, sagt Rakowski. | |
Aber führt Anonymität im Internet nicht auch zu mehr Verrohung im Umgang | |
miteinander? Ohne Namen und Gesicht lässt es sich schließlich besser | |
pöbeln. Um genau das zu vermeiden, müsse man das Publikum ausschließen. | |
Dann erst entstehe ein konstruktives Gespräch. „Bei uns klatscht niemand | |
Beifall, man pöbelt ins Leere“, sagt Rakowski. | |
Die App begrüßt die User in freundlichem Mintgrün und mit dem Versprechen, | |
einen mit Personen zu verknüpfen, die politisch anders ticken. Mit wem man | |
spricht, das entscheidet das eigene Antwortverhalten. Welche Partei würdest | |
du wählen, wenn am Sonntag die Wahl wäre? Ein Algorithmus sucht das maximal | |
entfernte Gegenüber. Und diese Suche kann dauern, manchmal wartet man | |
mehrere Tage auf einen passenden Gesprächspartner. Findet sich jemand, dann | |
beginnt der anonyme Chat. Vom Gegenüber kennt man nur den Chatnamen. | |
Alles beginnt mit einer These zu täglich wechselnden Themen: „Die | |
Rundfunkgebühren sollten abgeschafft werden“, oder: „Deutschland sollte | |
kein Kindergeld an EU-Ausländer zahlen.“ In den Thesen soll Zündstoff | |
stecken, sagt Rakowski. Doch oft kommt man über die ersten Fragen nicht | |
hinaus. Dann heißt es wieder auf das Gegenüber warten, das nur selten zur | |
selben Zeit online ist. Es gibt kein schnelles, hitziges Erwidern, keine | |
spontanen Gedanken – nichts was aus alltäglichen Gesprächen erst | |
Diskussionen macht. | |
Nach fünf Wochen fanden bei „Diskutier mit mir“ mehr als 20.000Gespräche | |
statt. Allein vor der Hessenwahl im Oktober waren es 4.000. Sieben Minuten | |
dauert eine Diskussion im Durchschnitt. Aber reicht das wirklich, um | |
einander zu verstehen und Vorurteile zu überwinden? „Na, dafür werden auch | |
fünf Jahre ‚Diskutier mit mir‘ und drei Jahre ,Deutschland spricht’ nicht | |
ausreichen.“ Rakowski weiß, dass die App nur ein Anfang sein kann, und | |
dennoch ist er überzeugt: Nur so lässt sich das Demokratisierungspotenzial | |
des Internets noch retten. | |
Diese vier Geschichten sind Momentaufnahmen, die eine Suche beschreiben. | |
Die deutsche Gesellschaft ist auf allen Ebenen, der politischen, der | |
privaten, der kulturellen und der digitalen, auf der Suche nach dem | |
richtigen Handwerkszeug für konstruktive Debatten. Die Geschichten zeigen, | |
dass gute Diskussionen Zeit brauchen, dass Harmoniebedürfnis ein Gespräch | |
nicht verwässern sollte, dass Macht nicht zu unterschätzen ist und | |
Gruppendynamiken es schon gar nicht sind. | |
Demokratie bedeutet Auseinandersetzung, immer, ständig. Nicht mehr zu | |
diskutieren ist keine Option. Also gehen die Debatten weiter, und es gilt, | |
gemeinsam herauszufinden, wie sie gut oder noch besser werden können. Und | |
das ist viele Versuche wert. Vielleicht sogar einen unterm Weihnachtsbaum. | |
25 Dec 2018 | |
## LINKS | |
[1] /Michael-Kretschmer/!t5456125 | |
[2] /MP-Kretschmer-trifft-Buerger-in-Chemnitz/!5532574 | |
## AUTOREN | |
Sara Tomsic | |
Jonas Weyrosta | |
## TAGS | |
Streit | |
Diskussion | |
Soziologie | |
Michael Kretschmer | |
Deutsche Politik | |
WG | |
Sachsen | |
taz.gazete | |
Alternative für Deutschland (AfD) | |
Veddel | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Neue Rechte | |
Debattenkultur | |
Lesestück Meinung und Analyse | |
Polizei Sachsen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Wut über ein Wort: Wer „leider“ sagt, lügt | |
Die Steile These: Jeder weiß es, jeder macht es und das muss aufhören. Denn | |
jedes „leider“ ist gelogen. | |
Rechtsradikale in der Familie: Gaulands Antifaschisten | |
Teile der Familie des Ehrenvorsitzenden der AfD haben mit ihm gebrochen. | |
Daran könnte sich mancher ein Beispiel nehmen. Weihnachten steht an. | |
Kolumne Fremd und befremdlich: Grenzen im Kopf | |
Ich erlebe eine große Feindlichkeit in der Bevölkerung gegenüber | |
Kunstwerken, die die Leute nicht verstehen. Woher kommt der ganze Hass? | |
Umgang mit Rechten: Gewalt als Agenda | |
Gegen die Neue Rechte braucht es neue Strategien. Denn sie will das | |
Gewaltmonopol des Staats nach ihren Vorstellungen ausweiten. | |
Debatte Mit Rechten reden: Nicht naiv Testballons jagen | |
Was die Gaulands und Salvinis verbreiten, sind keine Entgleisungen, es ist | |
kalkuliert. Sie instrumentalisieren oder bekehren zu wollen ist zwecklos. | |
Soll man mit Rechten reden?: Man muss es tun | |
Darf man Rechte zu Uni-Veranstaltungen einladen? Linke sollten sich diese | |
Fragen gar nicht erst stellen. Bloß keine Konfliktscheu. | |
Anleitung für eine bessere Streitkultur: Mit Linken reden | |
Solange Rechte morden und Menschen jagen, müssen sich Linke nicht den | |
kaputten Diskurs vorwerfen lassen. Ein Gesprächsleitfaden für Rechte. | |
MP Kretschmer trifft Bürger in Chemnitz: Lehrstunde in Wutbürgerkunde | |
Ministerpräsident Kretschmer redet mit Chemnitzern – in aufgeheizter | |
Atmosphäre schlagen ihm Grundmisstrauen und Generalfrust entgegen. |