| # taz.de -- Diskussionskultur zu Weihnachten: Die Kunst des Gesprächs | |
| > Täglich scheitern Diskussionen, überall. Auf der Suche nach dem guten | |
| > Dialog – am Küchentisch, im Kulturbetrieb und in Sachsen. | |
| Bild: Die besten Gespräche finden am Küchentisch statt – zum Beispiel in de… | |
| Der Mann mit dem Klemmbrett schreit in das Mikrofon, als hätte er Angst, | |
| dass die Welt ihm sonst nicht zuhört und sich das kleine Fenster der | |
| Aufmerksamkeit wieder schließt. Mehrmals greift seine Hand nach dem | |
| Mikrofon, das ihm ein Mitarbeiter hinhält. Es ist ein kleiner Kampf um | |
| Kontrolle. | |
| Ein kalter Montagabend, Anfang Oktober, Sachsens Regierung hat ihre | |
| BürgerInnen zum „Sachsengespräch“ geladen. Raum 139, Staatskanzlei in | |
| Dresden. Drei Stuhlreihen, kreisförmig angeordnet, 150 Stühle, kein Platz | |
| bleibt frei. Viele Fragen. Ein Mikrofon. Der Flyer verspricht „anregende | |
| Gespräche und lebhafte Debatten“. Die Bürger kommen mit Sorgen. Manches | |
| davon klingt vorwurfsvoll. | |
| „Herr Ministerpräsident, ich habe Ihnen ein paar Zahlen mitgebracht.“ Der | |
| Mann blättert durch die Seiten auf seinem Klemmbrett. Eng bedrucktes | |
| Papier, Zahlen von Geflüchteten, die abgeschoben werden sollen, aber es | |
| noch nicht sind. Er redet vom Rechtsstaat, von fehlender Kraft, von | |
| Willkür. „Warum schieben wir nicht mehr von denen ab?“ [1][Michael | |
| Kretschmer] antwortet, was Politiker in solchen Situationen eben antworten: | |
| Alles nicht so einfach, aber man kümmere sich. | |
| Der Klemmbrettmann schüttelt den Kopf, hebt die Hand, will nachhaken. Aber | |
| das Mikrofon ist längst weitergewandert. „Lebhafte Debatte“ hatte er sich | |
| offenbar anders vorgestellt. Während Situationen wie diese reflexartig auf | |
| Rassismus und Fremdenfeindlichkeit verkürzt werden, offenbart sich | |
| eigentlich eine Krise der Diskussionskultur, die viel weiter führt, als | |
| viele denken. | |
| Reden hilft, darauf schwören alle, ständig. Nicht nur in der Politik, auch | |
| in der Familie, in Partnerschaften. Wo immer es ein Problem gibt, ist der | |
| Ruf nach Sprechen und Verstehen so gewiss wie der Kater nach dem Rausch. | |
| Ein „offenes Ohr“ haben, „anregende Gespräche“ führen, vom „beleben… | |
| Streit“ profitieren. Gerade an Weihnachten stehen in den meisten Familien | |
| wieder Diskussionen an – mit den Eltern über die immer gleichen | |
| Streitpunkte, mit dem Onkel, der mit absurden Thesen um sich wirft, mit den | |
| Nachbarn, die vielleicht AfD wählen. | |
| Es neigt sich ein Jahr dem Ende zu, in dem auch die Gesellschaft viele | |
| Debatten geführt hat. Das Land diskutierte über Chemnitz, die Personalien | |
| Seehofer und Maaßen, #MeToo, den Paragrafen 219a, die Nachfolge Merkels und | |
| vieles mehr. | |
| ## Von Gesprächen wird sehr viel verlangt | |
| Diskussionen sollen feindliche Lager verbinden, Verständnis schaffen, die | |
| Demokratie retten. Ganz schön viel verlangt. Wie soll das gehen? | |
| Verschiedene Formate versuchen, darauf eine Antwort zu finden. Eines ist | |
| „Deutschland spricht“, eine Initiative des Zeit-Verlags: Menschen mit | |
| besonders gegensätzlichen Meinungen kommen hier miteinander ins Gespräch. | |
| Wer an „Deutschland spricht“ teilnehmen wollte, beantwortete sieben Fragen. | |
| Ein Algorithmus arrangierte das Zwiegespräch. Es soll Brücken bauen, Lager | |
| aufbrechen. | |
| Aber wollen und sollen wirklich alle miteinander reden? Woher kommt | |
| überhaupt die ständige Sehnsucht nach dem Sprechen? Was ist eine gute | |
| Diskussion? Und wo findet sie heute überhaupt noch statt? Ist es vielleicht | |
| nur ein naiver Glaube, dass sich alles durch Diskussionen lösen ließe? | |
| Wir haben die Debatte zur Debatte gestellt. Auf vier gesellschaftlichen | |
| Ebenen: beim politischen Bürgergespräch, am privaten WG-Tisch und im | |
| Kulturbetrieb, am Theater. Sowie im Internet, mit einer Diskutier-App. | |
| Dresden, der Raum 139 wird immer voller. Viele Fragen: Eltern, die wissen | |
| wollen, warum sie keinen Einrichtungsplatz für ihren behinderten Sohn | |
| finden. „Schreiben Sie mir eine Mail“, sagt Ministerpräsident Kretschmer. | |
| Nächster. Der Sozialpädagoge, der Geflüchteten Mut machen will, aber nicht | |
| weiß, wie. Antwort: Geradestehen, weiter geht’s. Ein Rentner in Sorge um | |
| seine Altersvorsorge. „Das wird schon.“ Nächster. Nächster. Ein bisschen | |
| wie an der Fast-Food-Theke. Frage, Antwort, Frage, Antwort. Demokratie | |
| braucht Zeit, aber Zeit ist knapp, und so wirkt das Frage-und-Antwort-Spiel | |
| in Dresden eher wie die Simulation einer Diskussion. | |
| Wer von Zeitnot spricht, landet irgendwann bei Hartmut Rosa. Der | |
| Soziologieprofessor aus Jena hat ein viel besprochenes Buch über die | |
| Beschleunigung moderner Gesellschaften geschrieben. Wie ein Beweis seiner | |
| Arbeit hetzt Rosa an einem Montagabend Ende Oktober über den kahlen Flur | |
| seines Instituts, er habe nicht viel Zeit, die Worte rasen ihm aus dem | |
| Mund. Rosas jüngstes Buch heißt „Resonanz“, ein soziologischer Blick auf | |
| die Art und Weise, wie sich Menschen zueinander verhalten. | |
| Eher zufällig ist Rosas Buch auch ein Ratgeber für gutes Diskutieren | |
| geworden. „Resonanz ist eine Beziehung des Hörens und Antwortens“, sagt | |
| Rosa. Es brauche die Bereitschaft, sich von den Stimmen der anderen | |
| berühren zu lassen. Dafür müsse man es für möglich halten, dass man | |
| einander etwas zu sagen hat und sich dadurch auch verändern lässt. | |
| Zeit, sagt Rosa, ist die wichtigste Voraussetzung für eine gelingende | |
| Diskussion: „Zeitknappheit ist ein notorisches Problem. Alles muss schnell, | |
| schnell gehen. Darum begreift man sich nicht mehr als Teil eines ,Wir', das | |
| etwas gemeinsam gestaltet, sondern eher als ein ,Ich‘, das gegen andere um | |
| Aufmerksamkeit und Gehör kämpft.“ Das zeige sich auch zwischen Bürgern und | |
| Politikern, nicht nur beim Sachsengespräch. | |
| Rosa steht in der Tradition der Frankfurter Schule, er schwärmt von dem | |
| Philosophen Jürgen Habermas und dessen Idee eines herrschaftsfreien | |
| Diskurses, dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments. Jener | |
| idealistischen Idee einer gelingenden Diskussion, nach der zum | |
| öffentlichen Diskurs nur zugelassen ist, was „vernünftig“ ist. „Unvernu… | |
| wird als Lärm disqualifiziert. Passt diese Vorstellung noch in die aktuelle | |
| Zeit, wo viele Diskussionen hochemotional statt sachlich geführt werden? | |
| Für Hartmut Rosa sitzt das Problem tiefer. „Viele Menschen nehmen die Welt | |
| um sich herum nicht mehr als von ihnen selbst gestaltet wahr“, sagt er. Ein | |
| Ausdruck gefährlicher Entfremdung. „Viele Menschen haben momentan den | |
| Eindruck, die Politik höre den Bürgern nicht mehr zu, sähe sie nicht, nehme | |
| sie nicht wahr“, sagt Rosa. Trump, FPÖ und AfD – sie alle versprechen, den | |
| Sorgen der Bürger „Gehör zu schenken“. | |
| „Wir hören euch, wir sehen euch, wir geben euch eine Stimme zurück, so | |
| lautet im Kern die rechtspopulistische Botschaft“, sagt Rosa. Es ist ein | |
| Versprechen auf Resonanz, das doch nur ein leeres Versprechen bleibt. | |
| Schließlich gipfelte Trumps Wahlkampfrede nicht in einem „I hear your | |
| voices“, sondern einem „I am your voice“. | |
| Umso wichtiger sei es, so Rosa, tatsächliche Resonanzverhältnisse in | |
| Politik und politischen Diskussionen herzustellen. Reden, zuhören, | |
| antworten – im Grunde ist das ein Grundversprechen der Demokratie: Jeder | |
| erhält eine Stimme. Wie wenig selbstverständlich das sei, so Rosa, zeige | |
| das Wesen der modernen Demokratie: „Politik ist zu einem permanenten Kampf | |
| verkommen.“ | |
| ## Michael Kretschmer als erschöpfter Zirkusdompteur | |
| Am überwiegend bekümmerten Gesichtsausdruck Michael Kretschmers lässt sich | |
| das während des Sachsengesprächs sehr überzeugend ablesen. Kretschmer hat | |
| etwas von einem erschöpften Zirkusdompteur, wie er in der Mitte des | |
| Stuhlkreises steht, den Oberkörper leicht nach hinten gelehnt, als blase | |
| ihm der Gegenwind frontal ins Gesicht. Der sächsische Ministerpräsident hat | |
| keine Wand im Rücken, egal wie er sich dreht. | |
| „Politische Diskussionen werden meistens im Modus des Antagonismus, also | |
| des Gegeneinanders, geführt“, kritisiert Hartmut Rosa. Vorwurfsvolle Frage, | |
| rechtfertigende Antwort. „Ein kategorischer Fehler“, sagt Rosa. Die | |
| Alternative? „Nicht zu fragen: Wer hat recht?“, sondern: „Wie wollen wir | |
| unsere Gesellschaft gestalten?“ Schon diese kleine Änderung an der | |
| Diskussionsfrage habe große Wirkung. | |
| Am Ende des Sachsengespräches versammeln sich alle Teilnehmer im Foyer der | |
| Staatskanzlei. Ein runder Raum, kathedralenhohe Decke, es hallt. Kretschmer | |
| bedankt sich, „gute Diskussionen“, „Austausch auf Augenhöhe“. Menschen | |
| stehen herum, starren die Politiker an und halten sich an Weinschorlen | |
| fest. „Ich werde heute der Letzte sein, der geht“, sagt Kretschmer | |
| beschwingt. Der Mann mit dem Klemmbrett trinkt sein Glas hastig aus, kämpft | |
| sichnach vorne, nur noch dieses eine Mal. Er ist nicht der Einzige. | |
| Diskussionsformate wie das Sachsengespräch finden nicht in einem | |
| machtfreien Raum statt. Nicht jeder hat die gleiche Chance auf Redezeit, | |
| nicht jeder bringt die gleichen Fähigkeiten mit. In Diskursen verschränken | |
| sich Macht und Wissen. Damit untergrabe Macht zwangsläufig auch | |
| Resonanzerfahrungen, sagt Rosa. „Die Resonanztheorie zielt deshalb darauf | |
| ab, den Machtlosen Selbstwirksamkeitserfahrung zurückzugeben“, schreibt | |
| Rosa im Nachwort seines Buches. Wie genau, das bleibt unklar. „Das Buch | |
| über das Verhältnis von Macht und Resonanz ist zweifellos noch zu | |
| schreiben“, lenkt Rosa ein. | |
| Was können Formate wie [2][das Sachsengespräch] überhaupt leisten? | |
| Resonanz, so Rosa, ist flüchtig. Wie das Gefühl nach einem langen | |
| Kneipenabend mit tiefen Gesprächen. Manchmal zehrt man davon noch tagelang. | |
| Aber bewusst herbeiführen lässt es sich nicht. Spricht das grundsätzlich | |
| gegen arrangierte Diskussionsformate? Nein, sagt Rosa. „Es gibt Formate, | |
| die Resonanz wahrscheinlicher machen. Da entscheidet manchmal schon die | |
| Sitzordnung oder ob man sich vorher kennenlernt, etwas gemeinsam machen | |
| konnte.“ | |
| Besonders wenig Resonanz zeige sich in TV-Talkshows. „Die Idee dort ist | |
| nicht, dass ein Politiker mit einer anderen Meinung rausgeht, als er | |
| reingekommen ist“, sagt Rosa. Politik operiere über Aggressionspunkte. | |
| „Finde den Fehler. Keine besonders resonante Haltung.“ | |
| Neben organisierten Gesprächen im großen Stil ist eine andere Art der | |
| Diskussion viel häufiger: die persönliche. Zu Hause, in der Kneipe, im Büro | |
| – meist unter wenigen Diskussionspartnern, häufig Menschen, die sich | |
| kennen. | |
| Hartmut Rosa ist der Meinung, dass auch situative Bedingungen Resonanz | |
| wahrscheinlicher machen können. Zum Beispiel das Setting einer Diskussion: | |
| frei von Angst und frei von Zeitdruck. Gerade im Privaten ist das eher | |
| gegeben. Man kennt sich, man hat keine Eile. Nicht ohne Grund sagt man, die | |
| besten Gespräche finden am Küchentisch statt. | |
| ## Eine Frage kommt in der WG immer wieder auf | |
| Ein Freitagabend in Berlin-Moabit. Clara Dröll, Jan Tappe und Ruslan Aliev | |
| wohnen gemeinsam in einer Wohngemeinschaft. Clara studiert Anthropologie, | |
| Jan ist Kurator, und Ruslan arbeitet bei einem gemeinnützigen Verein, der | |
| „Neuen Nachbarschaft Moabit“, einem Sozialprojekt. Die drei sind nicht nur | |
| Mitbewohner, sondern auch Freunde. Sie teilen den Freundeskreis, das | |
| Weltbild, sie sind meistens einer Meinung. Nur eine Frage diskutieren sie | |
| immer wieder: Ist ein Dialog mit Rechtsradikalen möglich? | |
| Clara: Auch wenn es hart ist, ich bin immer für Dialog. Alles besser, als | |
| jemanden abzustempeln und zu sagen: Du bist ein Nazi, mit dir rede ich | |
| nicht. | |
| Ruslan: Mit radikal Rechten werde ich auf keinen Fall diskutieren, das | |
| bringt nichts. | |
| Jan: Ich bin mir nicht so sicher, ob Rechte überhaupt dialogbereit sind. | |
| Ruslan: Es gibt genug AfD-Wähler, die wollen einfach nur gehört werden und | |
| ihrem Unmut über Politik Luft machen. Mit denen sollte man reden, die kann | |
| man noch erreichen. Aber warum sollte ich meine Zeit und Energie in Nazis | |
| stecken, bei denen ich nichts bewirken kann? | |
| Clara: Das weißt du doch gar nicht. | |
| Ruslan: Doch. | |
| Clara: Und wo ziehst du die Grenze? Wer ist „nur“ ein verblendeter | |
| AfD-Wähler, wer ist ein Nazi? | |
| Ruslan: Das ist schwierig. Manchmal trifft man auch eine falsche | |
| Entscheidung. Aber wir haben alle nur begrenzte Ressourcen, und die sollten | |
| wir nicht verschwenden. | |
| Clara: Aber wenn du jemanden aus dem Dialog ausschließt, dann spaltet das | |
| die Gesellschaft noch mehr. | |
| Ruslan: Ich kann damit leben, wenn wir uns von einer radikalen Minderheit | |
| abspalten. | |
| Clara: Was soll das bedeuten? Einfach am Rand der Gesellschaft weiterhassen | |
| lassen? | |
| Ruslan: Weiß ich nicht, aber reden ist nicht immer die Lösung. | |
| Stille. Jans Handy vibriert.Jan: Meine Mutter hat mir einen Link geschickt: | |
| Martin Sonneborn ist gerade als Stauffenberg verkleidet auf eine Lesung | |
| von Björn Höcke gegangen. | |
| Alle lachen. Die Diskussion ist vorbei. Clara nippt an ihrem Glas, Ruslan | |
| knabbert ein paar Erdnüsse, und Jan tippt auf seinem Handy. Das Gespräch | |
| dreht sich nun darum, dass sich die drei eigentlich meistens einig sind. | |
| „War aber interessant, mal wieder mit euch zu diskutieren“, sagt Clara. Die | |
| Jungs stimmen zu. „Mal wieder richtig was los in der Bude“, sagt Ruslan, | |
| und alle drei lachen. | |
| ## Gesprächsverläufe unter Laborbedingungen | |
| Romy Jaster ist Philosophin an der Humboldt-Universität Berlin und | |
| Argumentationscoach und sagt: In Partnerschaften und Freundschaften lerne | |
| man außerordentlich viel über Diskussionen. Jaster erforscht Möglichkeiten | |
| zur Verbesserung des politischen und öffentlichen Diskurses und hat dafür | |
| ein „Streitlabor“ entwickelt, um Gesprächsverläufe zu beobachten. | |
| Erzählt man ihr von der Diskussion am WG-Tisch in Moabit, betont sie als | |
| Erstes die Vorteile einer solchen Debatte: „Wenn man sich kennt, nimmt man | |
| den anderen nicht nur als Vertreter einer anderen Meinung wahr, sondern | |
| auch als Menschen – anders als bei Diskussionen mit Fremden. Im Privaten | |
| begegnet man sich eher wohlwollend und aufgeschlossen.“ | |
| Doch am Ende ihrer Diskussion waren sich die drei am Küchentisch in Moabit | |
| lediglich einig darin, sich uneinig zu sein. Ist dieser Dissens ein | |
| Problem? „Überhaupt nicht“, sagt Jaster. „Eine gute Diskussion führt ni… | |
| immer zum Konsens. Aber man sollte auf jeden Fall genau verorten können, | |
| worin man sich uneinig ist“, sagt sie. Gerade im persönlichen Umfeld fehlt | |
| dazu oft das Durchhaltevermögen. Diskussionen, bei denen unterschiedliche | |
| Meinungen aufeinandertreffen, enden meist einfach mit einem Schulterzucken | |
| und einem „okay“, oder eben mit Lachen und Bier. | |
| „Diskussionen im Privaten werden oft nicht konsequent genug geführt. Da | |
| siegt dann meistens das Harmoniebedürfnis, man bohrt nicht weiter nach, | |
| sondern belässt es dabei“, sagt die Philosophin Jaster. So wie bei der WG | |
| in Moabit. Auch das kommt davon, wenn Diskussion als Kampf ums Rechthaben | |
| und nicht als gemeinsame Suche nach dem plausibelsten Standpunkt verstanden | |
| wird. „Man kratzt nur an der Meinungsoberfläche, Argumente werden nicht | |
| wirklich ausdifferenziert und Fragen nicht konsequent geklärt.“ | |
| Fragt man Clara, Jan und Ruslan nach einem Fazit ihrer kurzenDiskussion, | |
| wird genau das deutlich. „Ich verstehe Ruslan, aber ich sehe das anders“, | |
| sagt Clara. „Ist ja auch gar nicht schlimm“, sagt Ruslan. „Im Privaten ge… | |
| man einem Wertedissens meistens aus dem Weg, weil wir die Folgen für das | |
| Miteinander nicht abschätzen können“, sagt Jaster. | |
| Diskussionen seien in den letzten Jahren immer mehr zu einem Wettbewerb | |
| geworden: „Die Diskussion wird so sehr als Sportveranstaltung wahrgenommen, | |
| dass es Leuten unglaublich schwerfällt, den eigenen Standpunkt auch nur ein | |
| wenig zu ändern“, sagt Jaster. Das käme einer Niederlage gleich. Und wer | |
| verliert schon gerne? | |
| Auch in den Medien werden Diskussionen so inszeniert. Pro und kontra. | |
| Selten hadert jemand mit der eigenen Meinung oder ändert sie sogar im Laufe | |
| der Diskussion. „Es fehlt an guten Vorbildern“, sagt Jaster. „Man sollte | |
| den anderen Menschen als Ressource verstehen, um gemeinsam die Haltbarkeit | |
| der jeweiligen Standpunkte zu prüfen.“ | |
| ## Harmonie im Streitraum | |
| Wohin es führen kann, wenn Menschen nicht bereit sind, von ihrem Standpunkt | |
| nur ein wenig abzurücken, lässt sich an einem Sonntagnachmittag Ende | |
| Oktober in der Berliner Schaubühne beobachten. Auf einer dunklen Bühne | |
| stehen sich zwei Holzstühle auf einem wuchtigen roten Teppich gegenüber. | |
| Auf dem einen sitzt Carolin Emcke, Philosophin und Gastgeberin des | |
| „Streitraums“, auf dem anderen ihr Gast Max Czollek, Lyriker und Essayist. | |
| Das Thema des heutigen Mittags: Integration und Pluralismus. Max Czollek | |
| stellt in der ersten halben Stunde sein neues Buch, „Desintegriert euch“, | |
| vor, danach bespricht er seine Thesen mit Emcke. Der Verlag bewirbt | |
| Czolleks Buch als Streitschrift gegen das „Integrationstheater“, ständig | |
| werde ein deutsches „Wir“ inszeniert. | |
| Czollek will Pluralismus statt Leitkultur. Darüber streiten will mit | |
| Czollek an diesem Abend niemand. Carolin Emcke und Max Czollek sind fast | |
| durchgehend einer Meinung. Das Publikum: klatscht gemeinsam, nickt | |
| gemeinsam, lacht an den passenden Stellen. Eine homogene, sich zuprostende | |
| Masse, die Einigkeit und Harmonie verströmt. | |
| Als die Gesprächsrunde auch für die Zuschauer geöffnet wird, hat ein Mann, | |
| Reihe 13 hinten rechts, eine Anmerkung. „Manchmal ist Pluralismus aber | |
| einfach nur anstrengend“, sagt er. Oft habe er Angst im Alltag, etwas | |
| falsch zu machen. Eine falsche Äußerung gegenüber Minderheiten oder | |
| Andersgläubigen, eine falsche Frage, eine falsche Geste. „Allein schon das | |
| Abendessen mit Freunden ist anstrengend. Der eine Vegetarier, die andere | |
| Veganerin.“ Er finde Vielfalt gut, aber auch anstrengend, das wolle er | |
| lediglich anmerken. | |
| Schon während er spricht, kippt die Stimmung im Saal. So wie sich der Raum | |
| vorher im Lachen verbündet hat, verbündet er sich nun zu einem Augenrollen, | |
| entrüstetem Schnaufen und einem verächtlichen Lachen. Es hat nur ein paar | |
| Sekunden gedauert, und das Publikum hat einen gemeinsamen Feind gefunden. | |
| Alles dreht sich wie choreografiert in seine Richtung, die Atmosphäre | |
| wird feindselig. | |
| Max Czollek antwortet: „Gesellschaft ist eine Zumutung. Bahn fahren ist | |
| eine Zumutung. Und ganz ehrlich, für marginalisierte Minderheiten war es | |
| immer schon anstrengend. Jetzt sind mal andere dran.“ „Okay“, flüstert d… | |
| Mann mit dünner Stimme in das Mikrofon und drückt sich tief in seinen Sitz, | |
| als wolle er verschwinden. Einer dieser Schlüsselmomente, von denen Hartmut | |
| Rosa spricht. | |
| „Wer sich auf Diskussionen einlässt, macht sich verletzbar. Man setzt sich | |
| selbst aufs Spiel. Da müssen Verantwortliche und Teilnehmer solcher Formate | |
| hochsensibel miteinander sein. Erfährt jemand dann Aggression, wird | |
| Resonanz unmöglich.“ Denn was ist hier eigentlich passiert? Ein Mann hat | |
| eine Anmerkung gemacht, nichts weiter. Er hat eine Unsicherheit | |
| angesprochen, die wahrscheinlich viele umtreibt. Nicht in diesem Raum, aber | |
| gewiss „da draußen“. | |
| Eine Frage, die eine Gesellschaft mit Ruhe und Geduld beantworten muss, | |
| weil sie nicht für jeden selbstverständlich ist. Und eigentlich hätte der | |
| „Streitraum“ genau dafür Platz geboten. Das Resümee am Ende der | |
| Veranstaltung: Es gab keine Diskussion, keine produktive Reibung von | |
| Meinungen und kein gemeinsames Vorankommen. Was es gab, war eine homogene | |
| Gruppe, die einem tastenden Gesprächsangebot mit Härte begegnet ist. | |
| Der Mann aus Reihe 13, der Klemmbrettmann aus Dresden, Clara, Jan und | |
| Ruslan aus Moabit: sie alle sind in ihren Diskussionen gescheitert. | |
| Entweder an anderen oder an sich selbst. In der Schaubühne gab es keine | |
| Toleranz gegenüber Zweifel, in Dresden keine Zeit für richtigen Austausch | |
| und in der WG ein zu großes Harmoniebedürfnis, um in die Tiefe zu gehen. | |
| ## Scheiternde Diskussionen als Gesellschaftsphänomen | |
| Es zeige sich an alltäglichen Diskussionen, wie schwierig es für ganze | |
| Gesellschaften ist, konstruktiv miteinander zu diskutieren, sagt die | |
| Philosophin Romy Jaster. „Die Gesellschaft ist gerade in allen Bereichen | |
| auf der Suche nach Formaten, die das leisten oder begünstigen können. Eine | |
| Suche, die noch ganz am Anfang steht“. | |
| Und während in der analogen Welt hier und da die Debatten scheitern, sucht | |
| auch das Internet noch immer nach einem Königsweg des Diskutierens. Denn | |
| eigentlich sollten wir ja in paradiesischen Debattenzeiten leben: Noch nie | |
| waren mehr Menschen auf der Welt miteinander vernetzt, standen mehr | |
| Möglichkeiten gesellschaftlichen Austauschs zur Verfügung. | |
| Viele Zustandsbeschreibungen der Internetkommunikation klingen allerdings | |
| düster und dystopisch: „Durch das Netz ziehen marodierende Horden von | |
| Gesinnungstätern, die alles verfolgen, was ihrer Weltanschauung nicht | |
| entspricht. | |
| Aus der Meinungsfreiheit ist der Meinungskampf geworden“, schrieb Jens | |
| Jessen kürzlich in der Zeit. „Das Netz selbst ist ein alternativer Raum | |
| geworden – die Alternative zur zivilisierten Welt.“ Die sozialen Netzwerke | |
| sind ein vermintes Gebiet mit tiefen Schützengräben zwischen feindlichen | |
| Lagern. Nur: Warum ist das so? Und ließe sich das ändern? | |
| Drei Stunden in einem Auto auf der Autobahn, und danach sieht man sich nie | |
| wieder. Versucht sich Niklas Rakowski an richtig gute Diskussionen zu | |
| erinnern, landet er sofort bei Mitfahrgelegenheiten. „Das sind immer die | |
| Momente, wo man komplett andere Lebensrealitäten kennenlernt“, sagt er. | |
| Soldaten treffen auf Studenten, Manager auf Hebammen. | |
| ## Eine App namens „Diskutier mit mir“ | |
| Die Mitfahrgelegenheit im Internet, so könnte man Rakowskis App „Diskutier | |
| mit mir“ auch nennen. Ein anonymer Chat, eins zu eins, kein Publikum, aber | |
| zwei unterschiedliche Meinungen. „In meinem Alltag wurden Diskussionen mit | |
| Andersdenkenden immer seltener“, sagt der 29-jährige Doktorand. | |
| Mit drei Kumpels fasst Rakowski vier Wochen vor der Bundestagswahl 2017 den | |
| Entschluss, das müsse sich ändern. „Ich merkte irgendwann, ich hatte | |
| einfach noch nie eine gute Diskussion im Netz geführt oder beobachtet.“ Auf | |
| Facebook und Twitter eskalieren Gespräche wie beim Hundekampf: Es gewinnt, | |
| wer oben steht und am lautesten bellt. „Im Internet ist immer das am | |
| stärksten, was am meisten polarisiert.“ | |
| Ändern lasse sich das nur, wenn es mehr Anonymität gebe, sagt Rakowski. | |
| Aber führt Anonymität im Internet nicht auch zu mehr Verrohung im Umgang | |
| miteinander? Ohne Namen und Gesicht lässt es sich schließlich besser | |
| pöbeln. Um genau das zu vermeiden, müsse man das Publikum ausschließen. | |
| Dann erst entstehe ein konstruktives Gespräch. „Bei uns klatscht niemand | |
| Beifall, man pöbelt ins Leere“, sagt Rakowski. | |
| Die App begrüßt die User in freundlichem Mintgrün und mit dem Versprechen, | |
| einen mit Personen zu verknüpfen, die politisch anders ticken. Mit wem man | |
| spricht, das entscheidet das eigene Antwortverhalten. Welche Partei würdest | |
| du wählen, wenn am Sonntag die Wahl wäre? Ein Algorithmus sucht das maximal | |
| entfernte Gegenüber. Und diese Suche kann dauern, manchmal wartet man | |
| mehrere Tage auf einen passenden Gesprächspartner. Findet sich jemand, dann | |
| beginnt der anonyme Chat. Vom Gegenüber kennt man nur den Chatnamen. | |
| Alles beginnt mit einer These zu täglich wechselnden Themen: „Die | |
| Rundfunkgebühren sollten abgeschafft werden“, oder: „Deutschland sollte | |
| kein Kindergeld an EU-Ausländer zahlen.“ In den Thesen soll Zündstoff | |
| stecken, sagt Rakowski. Doch oft kommt man über die ersten Fragen nicht | |
| hinaus. Dann heißt es wieder auf das Gegenüber warten, das nur selten zur | |
| selben Zeit online ist. Es gibt kein schnelles, hitziges Erwidern, keine | |
| spontanen Gedanken – nichts was aus alltäglichen Gesprächen erst | |
| Diskussionen macht. | |
| Nach fünf Wochen fanden bei „Diskutier mit mir“ mehr als 20.000Gespräche | |
| statt. Allein vor der Hessenwahl im Oktober waren es 4.000. Sieben Minuten | |
| dauert eine Diskussion im Durchschnitt. Aber reicht das wirklich, um | |
| einander zu verstehen und Vorurteile zu überwinden? „Na, dafür werden auch | |
| fünf Jahre ‚Diskutier mit mir‘ und drei Jahre ,Deutschland spricht’ nicht | |
| ausreichen.“ Rakowski weiß, dass die App nur ein Anfang sein kann, und | |
| dennoch ist er überzeugt: Nur so lässt sich das Demokratisierungspotenzial | |
| des Internets noch retten. | |
| Diese vier Geschichten sind Momentaufnahmen, die eine Suche beschreiben. | |
| Die deutsche Gesellschaft ist auf allen Ebenen, der politischen, der | |
| privaten, der kulturellen und der digitalen, auf der Suche nach dem | |
| richtigen Handwerkszeug für konstruktive Debatten. Die Geschichten zeigen, | |
| dass gute Diskussionen Zeit brauchen, dass Harmoniebedürfnis ein Gespräch | |
| nicht verwässern sollte, dass Macht nicht zu unterschätzen ist und | |
| Gruppendynamiken es schon gar nicht sind. | |
| Demokratie bedeutet Auseinandersetzung, immer, ständig. Nicht mehr zu | |
| diskutieren ist keine Option. Also gehen die Debatten weiter, und es gilt, | |
| gemeinsam herauszufinden, wie sie gut oder noch besser werden können. Und | |
| das ist viele Versuche wert. Vielleicht sogar einen unterm Weihnachtsbaum. | |
| 25 Dec 2018 | |
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