| # taz.de -- Wut über ein Wort: Wer „leider“ sagt, lügt | |
| > Die Steile These: Jeder weiß es, jeder macht es und das muss aufhören. | |
| > Denn jedes „leider“ ist gelogen. | |
| Bild: Leider? Nein! | |
| Es gibt Dinge, die wirken für die einen wie eine Kleinigkeit, und für die | |
| anderen entscheidet sich an diesem Ding die Welt. Ich kenne Menschen, die | |
| bekommen einen Vogel, wenn sich das Klopapier von der falschen Seite | |
| abrollt, wenn im Kühlschrank die Gurke zu nah am Stinkekäse liegt oder die | |
| Zahnpastatube nicht richtig zugeschraubt ist. | |
| Jeder hat so eine Kleinigkeit, bei der andere sagen, man solle sich nicht | |
| so reinsteigern. Doch man selbst weiß: Die anderen sehen es nur nicht. Sie | |
| wissen nicht, dass sich an dieser „Kleinigkeit“ die großen Fragen des | |
| Lebens entscheiden. | |
| Meine Kleinigkeit ist eigentlich kein Ding, es ist ein Wort. Es hat zwei | |
| Silben und sechs Buchstaben: „leider“. Jeder kennt dieses scheinbar | |
| unscheinbare Wort, mit dem die meisten Absagen wahlweise beginnen, enden | |
| oder ausgeschmückt sind. | |
| Kommst du am Freitag zum Grillen? | |
| Leider bin ich geschäftlich verhindert. | |
| Die Kinder haben leider die Grippe. | |
| Ich bin schon auf einer anderen Party, leider. | |
| Zugegeben, beim letzten Satz kränkelt die Grammatik, aber ich habe alle | |
| drei schon gehört. Und ich wette, Sie haben gestern erst selbst geleidert. | |
| Ich sage: Wir müssen damit aufhören, denn „leider“ ist eine Lüge. Eine | |
| dreiste, unkaschierte Ins-Gesicht-Lüge. Und das Schlimmste: Jeder weiß es. | |
| Wenn wir leidern, passiert etwas Schreckliches. Wir leugnen unseren freien | |
| Willen. Liebe Uschi, ich kann leider nicht zu deiner Hochzeit kommen – ist | |
| wie ein ausbuchstabiertes Schulterzucken. Ich tu so, als gäbe es eine | |
| kosmische Macht, die mich davon abhält, auf Uschis Party zu gehen. Ich | |
| impliziere: Ich kann nichts dafür. Lüge! Ich will nur Uschis Gefühle nicht | |
| verletzen. | |
| Klar, denn: Hey, du bist nur zweite Wahl, die andere Option hat gewonnen – | |
| ist zwar authentisch, aber nicht nett. Das ist der vermutlich | |
| schwerwiegendste Grund für ein „leider“. Wir wollen dem anderen kein fieses | |
| Gefühl geben und ziehen uns darum auf diese gesellschaftlich kodierte Lüge | |
| zurück. | |
| Die Fortgeschrittenen unter uns sind schon so weit, dass sie vor dem | |
| Abschicken der eigenen Nachricht noch mal draufschauen und das „leider“ | |
| nach kurzem Zögern löschen. Weg damit. Versuchen Sie es mal! So schmeckt | |
| Freiheit. | |
| ## Befreiung | |
| Das Weglassen dieses kleinen Lügenworts ist ein emanzipatorischer Akt. Ich | |
| befreie mich regelmäßig davon. Warum? Es ist ehrlicher. Denn die Wahrheit | |
| ist, sorry, liebe Uschi, ich gehe wirklich lieber zur Hochzeit meiner | |
| Schwester als auf deinen Geburtstag. Nix leider. Das nennt sich emotionale | |
| Priorisierung. | |
| Jetzt sehe ich die Kritiker schon süffisant lächeln und sagen: Ja gut, | |
| Hochzeit der Schwester gewinnt immer. Darum nehmen wir ein anderes | |
| Beispiel: Serie schauen und Pizza essen. Manchmal gibt es Tage, da ist mir | |
| das wichtiger als eine Party, ein Kaffeetreff oder eine Skype-Verabredung. | |
| Auch hier ist „leider“ eine Lüge. | |
| Zugegeben – manchmal tun einem Dinge wirklich leid. Aber, liebe Leute, das | |
| kann man dann auch anders sagen. Man muss sich nur eben mehr Mühe geben und | |
| sich nicht nur auf ein Wort beschränken. | |
| Liebe Uschi, ich bin auf der Hochzeit meiner Schwester und kann nicht auf | |
| deine Party kommen. Schade, ich hätte gerne mit dir angestoßen. | |
| Geht auch, ist ehrlich, braucht kein „leider“. | |
| Es gibt kniffligere Situationen, ich weiß. Ich bin Journalistin, würde mich | |
| das Büro von Angela Merkel anrufen und mir ein [1][Exklusivinterview mit | |
| unserer Bundeskanzlerin] zum Thema Korruption im Bundestag anbieten und es | |
| wäre der gleiche Termin wie die Hochzeit meiner Schwester – nee, sagen wir | |
| die Hochzeit meiner Freundin –, dann wäre das Scheiße. Aber nicht | |
| beleidernswert. Auch hier geht es ehrlich: | |
| Hallo Freundin, ich schaffe es nicht zu deiner Hochzeit. Sorry, Angie ist | |
| mir dazwischengekommen! Ich hab dich trotzdem mehr lieb. | |
| Hier sind zwei Dinge gleichzeitig wichtig. Die Hochzeit ist vielleicht | |
| emotional wichtiger, aber … Willkommen im Zeitalter der Vernunft! Eine | |
| Bitte des Chefs übertrumpft die Cocktailparty, eine Projektabgabe die | |
| Erstkommunion der Nichte. Vernünftige Priorisierung. Wir dürfen nur nicht | |
| vergessen: Wir könnten auch anders. Denn wir müssen gar nichts außer | |
| sterben. Und wenn wir leidern, leugnen wir das. | |
| ## Autsch! | |
| In letzter Zeit hören immer mehr Menschen in meinem Umfeld auf zu leidern. | |
| Obwohl ich glühende Befürworterin dieser Entwicklung bin, muss auch ich | |
| mich erst noch daran gewöhnen. | |
| Hey Sara, ich kann nicht zu deiner Party kommen, bin schon auf einer | |
| Hochzeit. | |
| Ich denke: autsch. Und dann erst: danke. Das ist ehrlich und nett und | |
| eröffnet mir sogar die Möglichkeit, mich für den anderen zu freuen. Oh, wie | |
| toll, Hochzeit. Und nicht: Dumme Kuh, versetzt mich wegen einer blöden | |
| Hochzeit. | |
| Noch besser hat es neulich eine Bekannte von mir gemacht. Klassische | |
| Situation: Gruppenchat, WhatsApp, 23 Menschen drin, eine hat Geburtstag. | |
| Nach und nach flattern Zusagen rein, dann drei Absagen. Alle enthalten das | |
| Wort „leider“. In einer stand es sogar zweimal. „Leider können wir nicht | |
| kommen, wir sind leider schon auf einem anderen Geburtstag.“ | |
| Ich, kurz davor, mich richtig hart in meine Leider-Wut reinzusteigern, | |
| starre auf den Bildschirm, und dann macht es pling. Eine neue Nachricht. | |
| Eine Absage. Die ehrlichste und beste, die ich je gelesen habe: „Hallo du, | |
| ich kann nicht zu deinem Geburtstag kommen. Garnichtleider bin ich in | |
| Südafrika.“ | |
| 26 Jan 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sara Tomšić | |
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