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# taz.de -- Diskussionskultur zu Weihnachten: Die Kunst des Gesprächs
> Täglich scheitern Diskussionen, überall. Auf der Suche nach dem guten
> Dialog – am Küchentisch, im Kulturbetrieb und in Sachsen.
Bild: Die besten Gespräche finden am Küchentisch statt – zum Beispiel in de…
Der Mann mit dem Klemmbrett schreit in das Mikrofon, als hätte er Angst,
dass die Welt ihm sonst nicht zuhört und sich das kleine Fenster der
Aufmerksamkeit wieder schließt. Mehrmals greift seine Hand nach dem
Mikrofon, das ihm ein Mitarbeiter hinhält. Es ist ein kleiner Kampf um
Kontrolle.
Ein kalter Montagabend, Anfang Oktober, Sachsens Regierung hat ihre
BürgerInnen zum „Sachsengespräch“ geladen. Raum 139, Staatskanzlei in
Dresden. Drei Stuhlreihen, kreisförmig angeordnet, 150 Stühle, kein Platz
bleibt frei. Viele Fragen. Ein Mikrofon. Der Flyer verspricht „anregende
Gespräche und lebhafte Debatten“. Die Bürger kommen mit Sorgen. Manches
davon klingt vorwurfsvoll.
„Herr Ministerpräsident, ich habe Ihnen ein paar Zahlen mitgebracht.“ Der
Mann blättert durch die Seiten auf seinem Klemmbrett. Eng bedrucktes
Papier, Zahlen von Geflüchteten, die abgeschoben werden sollen, aber es
noch nicht sind. Er redet vom Rechtsstaat, von fehlender Kraft, von
Willkür. „Warum schieben wir nicht mehr von denen ab?“ [1][Michael
Kretschmer] antwortet, was Politiker in solchen Situationen eben antworten:
Alles nicht so einfach, aber man kümmere sich.
Der Klemmbrettmann schüttelt den Kopf, hebt die Hand, will nachhaken. Aber
das Mikrofon ist längst weitergewandert. „Lebhafte Debatte“ hatte er sich
offenbar anders vorgestellt. Während Situationen wie diese reflexartig auf
Rassismus und Fremdenfeindlichkeit verkürzt werden, offenbart sich
eigentlich eine Krise der Diskussionskultur, die viel weiter führt, als
viele denken.
Reden hilft, darauf schwören alle, ständig. Nicht nur in der Politik, auch
in der Familie, in Partnerschaften. Wo immer es ein Problem gibt, ist der
Ruf nach Sprechen und Verstehen so gewiss wie der Kater nach dem Rausch.
Ein „offenes Ohr“ haben, „anregende Gespräche“ führen, vom „beleben…
Streit“ profitieren. Gerade an Weihnachten stehen in den meisten Familien
wieder Diskussionen an – mit den Eltern über die immer gleichen
Streitpunkte, mit dem Onkel, der mit absurden Thesen um sich wirft, mit den
Nachbarn, die vielleicht AfD wählen.
Es neigt sich ein Jahr dem Ende zu, in dem auch die Gesellschaft viele
Debatten geführt hat. Das Land diskutierte über Chemnitz, die Personalien
Seehofer und Maaßen, #MeToo, den Paragrafen 219a, die Nachfolge Merkels und
vieles mehr.
## Von Gesprächen wird sehr viel verlangt
Diskussionen sollen feindliche Lager verbinden, Verständnis schaffen, die
Demokratie retten. Ganz schön viel verlangt. Wie soll das gehen?
Verschiedene Formate versuchen, darauf eine Antwort zu finden. Eines ist
„Deutschland spricht“, eine Initiative des Zeit-Verlags: Menschen mit
besonders gegensätzlichen Meinungen kommen hier miteinander ins Gespräch.
Wer an „Deutschland spricht“ teilnehmen wollte, beantwortete sieben Fragen.
Ein Algorithmus arrangierte das Zwiegespräch. Es soll Brücken bauen, Lager
aufbrechen.
Aber wollen und sollen wirklich alle miteinander reden? Woher kommt
überhaupt die ständige Sehnsucht nach dem Sprechen? Was ist eine gute
Diskussion? Und wo findet sie heute überhaupt noch statt? Ist es vielleicht
nur ein naiver Glaube, dass sich alles durch Diskussionen lösen ließe?
Wir haben die Debatte zur Debatte gestellt. Auf vier gesellschaftlichen
Ebenen: beim politischen Bürgergespräch, am privaten WG-Tisch und im
Kulturbetrieb, am Theater. Sowie im Internet, mit einer Diskutier-App.
Dresden, der Raum 139 wird immer voller. Viele Fragen: Eltern, die wissen
wollen, warum sie keinen Einrichtungsplatz für ihren behinderten Sohn
finden. „Schreiben Sie mir eine Mail“, sagt Ministerpräsident Kretschmer.
Nächster. Der Sozialpädagoge, der Geflüchteten Mut machen will, aber nicht
weiß, wie. Antwort: Geradestehen, weiter geht’s. Ein Rentner in Sorge um
seine Altersvorsorge. „Das wird schon.“ Nächster. Nächster. Ein bisschen
wie an der Fast-Food-Theke. Frage, Antwort, Frage, Antwort. Demokratie
braucht Zeit, aber Zeit ist knapp, und so wirkt das Frage-und-Antwort-Spiel
in Dresden eher wie die Simulation einer Diskussion.
Wer von Zeitnot spricht, landet irgendwann bei Hartmut Rosa. Der
Soziologieprofessor aus Jena hat ein viel besprochenes Buch über die
Beschleunigung moderner Gesellschaften geschrieben. Wie ein Beweis seiner
Arbeit hetzt Rosa an einem Montagabend Ende Oktober über den kahlen Flur
seines Instituts, er habe nicht viel Zeit, die Worte rasen ihm aus dem
Mund. Rosas jüngstes Buch heißt „Resonanz“, ein soziologischer Blick auf
die Art und Weise, wie sich Menschen zueinander verhalten.
Eher zufällig ist Rosas Buch auch ein Ratgeber für gutes Diskutieren
geworden. „Resonanz ist eine Beziehung des Hörens und Antwortens“, sagt
Rosa. Es brauche die Bereitschaft, sich von den Stimmen der anderen
berühren zu lassen. Dafür müsse man es für möglich halten, dass man
einander etwas zu sagen hat und sich dadurch auch verändern lässt.
Zeit, sagt Rosa, ist die wichtigste Voraussetzung für eine gelingende
Diskussion: „Zeitknappheit ist ein notorisches Problem. Alles muss schnell,
schnell gehen. Darum begreift man sich nicht mehr als Teil eines ,Wir', das
etwas gemeinsam gestaltet, sondern eher als ein ,Ich‘, das gegen andere um
Aufmerksamkeit und Gehör kämpft.“ Das zeige sich auch zwischen Bürgern und
Politikern, nicht nur beim Sachsengespräch.
Rosa steht in der Tradition der Frankfurter Schule, er schwärmt von dem
Philosophen Jürgen Habermas und dessen Idee eines herrschaftsfreien
Diskurses, dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments. Jener
idealistischen Idee einer gelingenden Diskussion, nach der zum
öffentlichen Diskurs nur zugelassen ist, was „vernünftig“ ist. „Unvernu…
wird als Lärm disqualifiziert. Passt diese Vorstellung noch in die aktuelle
Zeit, wo viele Diskussionen hochemotional statt sachlich geführt werden?
Für Hartmut Rosa sitzt das Problem tiefer. „Viele Menschen nehmen die Welt
um sich herum nicht mehr als von ihnen selbst gestaltet wahr“, sagt er. Ein
Ausdruck gefährlicher Entfremdung. „Viele Menschen haben momentan den
Eindruck, die Politik höre den Bürgern nicht mehr zu, sähe sie nicht, nehme
sie nicht wahr“, sagt Rosa. Trump, FPÖ und AfD – sie alle versprechen, den
Sorgen der Bürger „Gehör zu schenken“.
„Wir hören euch, wir sehen euch, wir geben euch eine Stimme zurück, so
lautet im Kern die rechtspopulistische Botschaft“, sagt Rosa. Es ist ein
Versprechen auf Resonanz, das doch nur ein leeres Versprechen bleibt.
Schließlich gipfelte Trumps Wahlkampfrede nicht in einem „I hear your
voices“, sondern einem „I am your voice“.
Umso wichtiger sei es, so Rosa, tatsächliche Resonanzverhältnisse in
Politik und politischen Diskussionen herzustellen. Reden, zuhören,
antworten – im Grunde ist das ein Grundversprechen der Demokratie: Jeder
erhält eine Stimme. Wie wenig selbstverständlich das sei, so Rosa, zeige
das Wesen der modernen Demokratie: „Politik ist zu einem permanenten Kampf
verkommen.“
## Michael Kretschmer als erschöpfter Zirkusdompteur
Am überwiegend bekümmerten Gesichtsausdruck Michael Kretschmers lässt sich
das während des Sachsengesprächs sehr überzeugend ablesen. Kretschmer hat
etwas von einem erschöpften Zirkusdompteur, wie er in der Mitte des
Stuhlkreises steht, den Oberkörper leicht nach hinten gelehnt, als blase
ihm der Gegenwind frontal ins Gesicht. Der sächsische Ministerpräsident hat
keine Wand im Rücken, egal wie er sich dreht.
„Politische Diskussionen werden meistens im Modus des Antagonismus, also
des Gegeneinanders, geführt“, kritisiert Hartmut Rosa. Vorwurfsvolle Frage,
rechtfertigende Antwort. „Ein kategorischer Fehler“, sagt Rosa. Die
Alternative? „Nicht zu fragen: Wer hat recht?“, sondern: „Wie wollen wir
unsere Gesellschaft gestalten?“ Schon diese kleine Änderung an der
Diskussionsfrage habe große Wirkung.
Am Ende des Sachsengespräches versammeln sich alle Teilnehmer im Foyer der
Staatskanzlei. Ein runder Raum, kathedralenhohe Decke, es hallt. Kretschmer
bedankt sich, „gute Diskussionen“, „Austausch auf Augenhöhe“. Menschen
stehen herum, starren die Politiker an und halten sich an Weinschorlen
fest. „Ich werde heute der Letzte sein, der geht“, sagt Kretschmer
beschwingt. Der Mann mit dem Klemmbrett trinkt sein Glas hastig aus, kämpft
sichnach vorne, nur noch dieses eine Mal. Er ist nicht der Einzige.
Diskussionsformate wie das Sachsengespräch finden nicht in einem
machtfreien Raum statt. Nicht jeder hat die gleiche Chance auf Redezeit,
nicht jeder bringt die gleichen Fähigkeiten mit. In Diskursen verschränken
sich Macht und Wissen. Damit untergrabe Macht zwangsläufig auch
Resonanzerfahrungen, sagt Rosa. „Die Resonanztheorie zielt deshalb darauf
ab, den Machtlosen Selbstwirksamkeitserfahrung zurückzugeben“, schreibt
Rosa im Nachwort seines Buches. Wie genau, das bleibt unklar. „Das Buch
über das Verhältnis von Macht und Resonanz ist zweifellos noch zu
schreiben“, lenkt Rosa ein.
Was können Formate wie [2][das Sachsengespräch] überhaupt leisten?
Resonanz, so Rosa, ist flüchtig. Wie das Gefühl nach einem langen
Kneipenabend mit tiefen Gesprächen. Manchmal zehrt man davon noch tagelang.
Aber bewusst herbeiführen lässt es sich nicht. Spricht das grundsätzlich
gegen arrangierte Diskussionsformate? Nein, sagt Rosa. „Es gibt Formate,
die Resonanz wahrscheinlicher machen. Da entscheidet manchmal schon die
Sitzordnung oder ob man sich vorher kennenlernt, etwas gemeinsam machen
konnte.“
Besonders wenig Resonanz zeige sich in TV-Talkshows. „Die Idee dort ist
nicht, dass ein Politiker mit einer anderen Meinung rausgeht, als er
reingekommen ist“, sagt Rosa. Politik operiere über Aggressionspunkte.
„Finde den Fehler. Keine besonders resonante Haltung.“
Neben organisierten Gesprächen im großen Stil ist eine andere Art der
Diskussion viel häufiger: die persönliche. Zu Hause, in der Kneipe, im Büro
– meist unter wenigen Diskussionspartnern, häufig Menschen, die sich
kennen.
Hartmut Rosa ist der Meinung, dass auch situative Bedingungen Resonanz
wahrscheinlicher machen können. Zum Beispiel das Setting einer Diskussion:
frei von Angst und frei von Zeitdruck. Gerade im Privaten ist das eher
gegeben. Man kennt sich, man hat keine Eile. Nicht ohne Grund sagt man, die
besten Gespräche finden am Küchentisch statt.
## Eine Frage kommt in der WG immer wieder auf
Ein Freitagabend in Berlin-Moabit. Clara Dröll, Jan Tappe und Ruslan Aliev
wohnen gemeinsam in einer Wohngemeinschaft. Clara studiert Anthropologie,
Jan ist Kurator, und Ruslan arbeitet bei einem gemeinnützigen Verein, der
„Neuen Nachbarschaft Moabit“, einem Sozialprojekt. Die drei sind nicht nur
Mitbewohner, sondern auch Freunde. Sie teilen den Freundeskreis, das
Weltbild, sie sind meistens einer Meinung. Nur eine Frage diskutieren sie
immer wieder: Ist ein Dialog mit Rechtsradikalen möglich?
Clara: Auch wenn es hart ist, ich bin immer für Dialog. Alles besser, als
jemanden abzustempeln und zu sagen: Du bist ein Nazi, mit dir rede ich
nicht.
Ruslan: Mit radikal Rechten werde ich auf keinen Fall diskutieren, das
bringt nichts.
Jan: Ich bin mir nicht so sicher, ob Rechte überhaupt dialogbereit sind.
Ruslan: Es gibt genug AfD-Wähler, die wollen einfach nur gehört werden und
ihrem Unmut über Politik Luft machen. Mit denen sollte man reden, die kann
man noch erreichen. Aber warum sollte ich meine Zeit und Energie in Nazis
stecken, bei denen ich nichts bewirken kann?
Clara: Das weißt du doch gar nicht.
Ruslan: Doch.
Clara: Und wo ziehst du die Grenze? Wer ist „nur“ ein verblendeter
AfD-Wähler, wer ist ein Nazi?
Ruslan: Das ist schwierig. Manchmal trifft man auch eine falsche
Entscheidung. Aber wir haben alle nur begrenzte Ressourcen, und die sollten
wir nicht verschwenden.
Clara: Aber wenn du jemanden aus dem Dialog ausschließt, dann spaltet das
die Gesellschaft noch mehr.
Ruslan: Ich kann damit leben, wenn wir uns von einer radikalen Minderheit
abspalten.
Clara: Was soll das bedeuten? Einfach am Rand der Gesellschaft weiterhassen
lassen?
Ruslan: Weiß ich nicht, aber reden ist nicht immer die Lösung.
Stille. Jans Handy vibriert.Jan: Meine Mutter hat mir einen Link geschickt:
Martin Sonneborn ist gerade als Stauffenberg verkleidet auf eine Lesung
von Björn Höcke gegangen.
Alle lachen. Die Diskussion ist vorbei. Clara nippt an ihrem Glas, Ruslan
knabbert ein paar Erdnüsse, und Jan tippt auf seinem Handy. Das Gespräch
dreht sich nun darum, dass sich die drei eigentlich meistens einig sind.
„War aber interessant, mal wieder mit euch zu diskutieren“, sagt Clara. Die
Jungs stimmen zu. „Mal wieder richtig was los in der Bude“, sagt Ruslan,
und alle drei lachen.
## Gesprächsverläufe unter Laborbedingungen
Romy Jaster ist Philosophin an der Humboldt-Universität Berlin und
Argumentationscoach und sagt: In Partnerschaften und Freundschaften lerne
man außerordentlich viel über Diskussionen. Jaster erforscht Möglichkeiten
zur Verbesserung des politischen und öffentlichen Diskurses und hat dafür
ein „Streitlabor“ entwickelt, um Gesprächsverläufe zu beobachten.
Erzählt man ihr von der Diskussion am WG-Tisch in Moabit, betont sie als
Erstes die Vorteile einer solchen Debatte: „Wenn man sich kennt, nimmt man
den anderen nicht nur als Vertreter einer anderen Meinung wahr, sondern
auch als Menschen – anders als bei Diskussionen mit Fremden. Im Privaten
begegnet man sich eher wohlwollend und aufgeschlossen.“
Doch am Ende ihrer Diskussion waren sich die drei am Küchentisch in Moabit
lediglich einig darin, sich uneinig zu sein. Ist dieser Dissens ein
Problem? „Überhaupt nicht“, sagt Jaster. „Eine gute Diskussion führt ni…
immer zum Konsens. Aber man sollte auf jeden Fall genau verorten können,
worin man sich uneinig ist“, sagt sie. Gerade im persönlichen Umfeld fehlt
dazu oft das Durchhaltevermögen. Diskussionen, bei denen unterschiedliche
Meinungen aufeinandertreffen, enden meist einfach mit einem Schulterzucken
und einem „okay“, oder eben mit Lachen und Bier.
„Diskussionen im Privaten werden oft nicht konsequent genug geführt. Da
siegt dann meistens das Harmoniebedürfnis, man bohrt nicht weiter nach,
sondern belässt es dabei“, sagt die Philosophin Jaster. So wie bei der WG
in Moabit. Auch das kommt davon, wenn Diskussion als Kampf ums Rechthaben
und nicht als gemeinsame Suche nach dem plausibelsten Standpunkt verstanden
wird. „Man kratzt nur an der Meinungsoberfläche, Argumente werden nicht
wirklich ausdifferenziert und Fragen nicht konsequent geklärt.“
Fragt man Clara, Jan und Ruslan nach einem Fazit ihrer kurzenDiskussion,
wird genau das deutlich. „Ich verstehe Ruslan, aber ich sehe das anders“,
sagt Clara. „Ist ja auch gar nicht schlimm“, sagt Ruslan. „Im Privaten ge…
man einem Wertedissens meistens aus dem Weg, weil wir die Folgen für das
Miteinander nicht abschätzen können“, sagt Jaster.
Diskussionen seien in den letzten Jahren immer mehr zu einem Wettbewerb
geworden: „Die Diskussion wird so sehr als Sportveranstaltung wahrgenommen,
dass es Leuten unglaublich schwerfällt, den eigenen Standpunkt auch nur ein
wenig zu ändern“, sagt Jaster. Das käme einer Niederlage gleich. Und wer
verliert schon gerne?
Auch in den Medien werden Diskussionen so inszeniert. Pro und kontra.
Selten hadert jemand mit der eigenen Meinung oder ändert sie sogar im Laufe
der Diskussion. „Es fehlt an guten Vorbildern“, sagt Jaster. „Man sollte
den anderen Menschen als Ressource verstehen, um gemeinsam die Haltbarkeit
der jeweiligen Standpunkte zu prüfen.“
## Harmonie im Streitraum
Wohin es führen kann, wenn Menschen nicht bereit sind, von ihrem Standpunkt
nur ein wenig abzurücken, lässt sich an einem Sonntagnachmittag Ende
Oktober in der Berliner Schaubühne beobachten. Auf einer dunklen Bühne
stehen sich zwei Holzstühle auf einem wuchtigen roten Teppich gegenüber.
Auf dem einen sitzt Carolin Emcke, Philosophin und Gastgeberin des
„Streitraums“, auf dem anderen ihr Gast Max Czollek, Lyriker und Essayist.
Das Thema des heutigen Mittags: Integration und Pluralismus. Max Czollek
stellt in der ersten halben Stunde sein neues Buch, „Desintegriert euch“,
vor, danach bespricht er seine Thesen mit Emcke. Der Verlag bewirbt
Czolleks Buch als Streitschrift gegen das „Integrationstheater“, ständig
werde ein deutsches „Wir“ inszeniert.
Czollek will Pluralismus statt Leitkultur. Darüber streiten will mit
Czollek an diesem Abend niemand. Carolin Emcke und Max Czollek sind fast
durchgehend einer Meinung. Das Publikum: klatscht gemeinsam, nickt
gemeinsam, lacht an den passenden Stellen. Eine homogene, sich zuprostende
Masse, die Einigkeit und Harmonie verströmt.
Als die Gesprächsrunde auch für die Zuschauer geöffnet wird, hat ein Mann,
Reihe 13 hinten rechts, eine Anmerkung. „Manchmal ist Pluralismus aber
einfach nur anstrengend“, sagt er. Oft habe er Angst im Alltag, etwas
falsch zu machen. Eine falsche Äußerung gegenüber Minderheiten oder
Andersgläubigen, eine falsche Frage, eine falsche Geste. „Allein schon das
Abendessen mit Freunden ist anstrengend. Der eine Vegetarier, die andere
Veganerin.“ Er finde Vielfalt gut, aber auch anstrengend, das wolle er
lediglich anmerken.
Schon während er spricht, kippt die Stimmung im Saal. So wie sich der Raum
vorher im Lachen verbündet hat, verbündet er sich nun zu einem Augenrollen,
entrüstetem Schnaufen und einem verächtlichen Lachen. Es hat nur ein paar
Sekunden gedauert, und das Publikum hat einen gemeinsamen Feind gefunden.
Alles dreht sich wie choreografiert in seine Richtung, die Atmosphäre
wird feindselig.
Max Czollek antwortet: „Gesellschaft ist eine Zumutung. Bahn fahren ist
eine Zumutung. Und ganz ehrlich, für marginalisierte Minderheiten war es
immer schon anstrengend. Jetzt sind mal andere dran.“ „Okay“, flüstert d…
Mann mit dünner Stimme in das Mikrofon und drückt sich tief in seinen Sitz,
als wolle er verschwinden. Einer dieser Schlüsselmomente, von denen Hartmut
Rosa spricht.
„Wer sich auf Diskussionen einlässt, macht sich verletzbar. Man setzt sich
selbst aufs Spiel. Da müssen Verantwortliche und Teilnehmer solcher Formate
hochsensibel miteinander sein. Erfährt jemand dann Aggression, wird
Resonanz unmöglich.“ Denn was ist hier eigentlich passiert? Ein Mann hat
eine Anmerkung gemacht, nichts weiter. Er hat eine Unsicherheit
angesprochen, die wahrscheinlich viele umtreibt. Nicht in diesem Raum, aber
gewiss „da draußen“.
Eine Frage, die eine Gesellschaft mit Ruhe und Geduld beantworten muss,
weil sie nicht für jeden selbstverständlich ist. Und eigentlich hätte der
„Streitraum“ genau dafür Platz geboten. Das Resümee am Ende der
Veranstaltung: Es gab keine Diskussion, keine produktive Reibung von
Meinungen und kein gemeinsames Vorankommen. Was es gab, war eine homogene
Gruppe, die einem tastenden Gesprächsangebot mit Härte begegnet ist.
Der Mann aus Reihe 13, der Klemmbrettmann aus Dresden, Clara, Jan und
Ruslan aus Moabit: sie alle sind in ihren Diskussionen gescheitert.
Entweder an anderen oder an sich selbst. In der Schaubühne gab es keine
Toleranz gegenüber Zweifel, in Dresden keine Zeit für richtigen Austausch
und in der WG ein zu großes Harmoniebedürfnis, um in die Tiefe zu gehen.
## Scheiternde Diskussionen als Gesellschaftsphänomen
Es zeige sich an alltäglichen Diskussionen, wie schwierig es für ganze
Gesellschaften ist, konstruktiv miteinander zu diskutieren, sagt die
Philosophin Romy Jaster. „Die Gesellschaft ist gerade in allen Bereichen
auf der Suche nach Formaten, die das leisten oder begünstigen können. Eine
Suche, die noch ganz am Anfang steht“.
Und während in der analogen Welt hier und da die Debatten scheitern, sucht
auch das Internet noch immer nach einem Königsweg des Diskutierens. Denn
eigentlich sollten wir ja in paradiesischen Debattenzeiten leben: Noch nie
waren mehr Menschen auf der Welt miteinander vernetzt, standen mehr
Möglichkeiten gesellschaftlichen Austauschs zur Verfügung.
Viele Zustandsbeschreibungen der Internetkommunikation klingen allerdings
düster und dystopisch: „Durch das Netz ziehen marodierende Horden von
Gesinnungstätern, die alles verfolgen, was ihrer Weltanschauung nicht
entspricht.
Aus der Meinungsfreiheit ist der Meinungskampf geworden“, schrieb Jens
Jessen kürzlich in der Zeit. „Das Netz selbst ist ein alternativer Raum
geworden – die Alternative zur zivilisierten Welt.“ Die sozialen Netzwerke
sind ein vermintes Gebiet mit tiefen Schützengräben zwischen feindlichen
Lagern. Nur: Warum ist das so? Und ließe sich das ändern?
Drei Stunden in einem Auto auf der Autobahn, und danach sieht man sich nie
wieder. Versucht sich Niklas Rakowski an richtig gute Diskussionen zu
erinnern, landet er sofort bei Mitfahrgelegenheiten. „Das sind immer die
Momente, wo man komplett andere Lebensrealitäten kennenlernt“, sagt er.
Soldaten treffen auf Studenten, Manager auf Hebammen.
## Eine App namens „Diskutier mit mir“
Die Mitfahrgelegenheit im Internet, so könnte man Rakowskis App „Diskutier
mit mir“ auch nennen. Ein anonymer Chat, eins zu eins, kein Publikum, aber
zwei unterschiedliche Meinungen. „In meinem Alltag wurden Diskussionen mit
Andersdenkenden immer seltener“, sagt der 29-jährige Doktorand.
Mit drei Kumpels fasst Rakowski vier Wochen vor der Bundestagswahl 2017 den
Entschluss, das müsse sich ändern. „Ich merkte irgendwann, ich hatte
einfach noch nie eine gute Diskussion im Netz geführt oder beobachtet.“ Auf
Facebook und Twitter eskalieren Gespräche wie beim Hundekampf: Es gewinnt,
wer oben steht und am lautesten bellt. „Im Internet ist immer das am
stärksten, was am meisten polarisiert.“
Ändern lasse sich das nur, wenn es mehr Anonymität gebe, sagt Rakowski.
Aber führt Anonymität im Internet nicht auch zu mehr Verrohung im Umgang
miteinander? Ohne Namen und Gesicht lässt es sich schließlich besser
pöbeln. Um genau das zu vermeiden, müsse man das Publikum ausschließen.
Dann erst entstehe ein konstruktives Gespräch. „Bei uns klatscht niemand
Beifall, man pöbelt ins Leere“, sagt Rakowski.
Die App begrüßt die User in freundlichem Mintgrün und mit dem Versprechen,
einen mit Personen zu verknüpfen, die politisch anders ticken. Mit wem man
spricht, das entscheidet das eigene Antwortverhalten. Welche Partei würdest
du wählen, wenn am Sonntag die Wahl wäre? Ein Algorithmus sucht das maximal
entfernte Gegenüber. Und diese Suche kann dauern, manchmal wartet man
mehrere Tage auf einen passenden Gesprächspartner. Findet sich jemand, dann
beginnt der anonyme Chat. Vom Gegenüber kennt man nur den Chatnamen.
Alles beginnt mit einer These zu täglich wechselnden Themen: „Die
Rundfunkgebühren sollten abgeschafft werden“, oder: „Deutschland sollte
kein Kindergeld an EU-Ausländer zahlen.“ In den Thesen soll Zündstoff
stecken, sagt Rakowski. Doch oft kommt man über die ersten Fragen nicht
hinaus. Dann heißt es wieder auf das Gegenüber warten, das nur selten zur
selben Zeit online ist. Es gibt kein schnelles, hitziges Erwidern, keine
spontanen Gedanken – nichts was aus alltäglichen Gesprächen erst
Diskussionen macht.
Nach fünf Wochen fanden bei „Diskutier mit mir“ mehr als 20.000Gespräche
statt. Allein vor der Hessenwahl im Oktober waren es 4.000. Sieben Minuten
dauert eine Diskussion im Durchschnitt. Aber reicht das wirklich, um
einander zu verstehen und Vorurteile zu überwinden? „Na, dafür werden auch
fünf Jahre ‚Diskutier mit mir‘ und drei Jahre ,Deutschland spricht’ nicht
ausreichen.“ Rakowski weiß, dass die App nur ein Anfang sein kann, und
dennoch ist er überzeugt: Nur so lässt sich das Demokratisierungspotenzial
des Internets noch retten.
Diese vier Geschichten sind Momentaufnahmen, die eine Suche beschreiben.
Die deutsche Gesellschaft ist auf allen Ebenen, der politischen, der
privaten, der kulturellen und der digitalen, auf der Suche nach dem
richtigen Handwerkszeug für konstruktive Debatten. Die Geschichten zeigen,
dass gute Diskussionen Zeit brauchen, dass Harmoniebedürfnis ein Gespräch
nicht verwässern sollte, dass Macht nicht zu unterschätzen ist und
Gruppendynamiken es schon gar nicht sind.
Demokratie bedeutet Auseinandersetzung, immer, ständig. Nicht mehr zu
diskutieren ist keine Option. Also gehen die Debatten weiter, und es gilt,
gemeinsam herauszufinden, wie sie gut oder noch besser werden können. Und
das ist viele Versuche wert. Vielleicht sogar einen unterm Weihnachtsbaum.
25 Dec 2018
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