# taz.de -- Dilemma der SPD: Eine Partei ohne eigenes Gewicht | |
> In NRW sucht die SPD nach den Ursachen für ihre Niederlage. In Berlin | |
> funktioniert die Arbeitsteilung zwischen Kanzleramt und Partei nicht. | |
Bild: Blumen als Trostpflaster: Der SPD-Wahlverlierer Thomas Kutschaty | |
BERLIN taz | Eigentlich ist die Landtagswahl für SPD-Mann Frank Börner (56) | |
gut gelaufen. Er hat im Duisburger Norden fast 42 Prozent der Erststimmen | |
bekommen und das Direktmandat gewonnen. | |
Wie immer. Marxloh und Hamborn, migrantische Arbeiterviertel, sind fest in | |
sozialdemokratischer Hand. Börner ist seit zehn Jahren im Landtag. Er kommt | |
aus Duisburgs Norden und kennt hier jeden Stein. Im Wahlkreis liegt das | |
[1][Stahlwerk Thyssenkrupp], groß wie ein Stadtteil. 13.000 arbeiten dort. | |
Der Konzern will in die Produktion von grünem Stahl einsteigen. Ein | |
Zukunftsprojekt. Die Stadt braucht die Jobs. | |
„Die Wahl war bitter“, sagt Börner. Nur 38 Prozent sind zwischen Marxloh | |
und Hamborn zur Wahl gegangen. So wenige wie in keinem Wahlkreis in | |
Nordrhein-Westfalen. Nur jeder Sechste hat für den SPD-Mann votiert. Je | |
ärmer der Stadtteil, desto geringer die Lust, zur Wahl zu gehen. Auch | |
deshalb wird der SPD-Mann Thomas Kutschaty nicht regieren. In Düsseldorf | |
und Kiel ist vermutlich bald Schwarz-Grün an der Macht. Vor allem die | |
Niederlage in NRW strahlt bis nach Berlin aus. Das „sozialdemokratische | |
Jahrzehnt“, das SPD-Chef Lars Klingbeil vor fünf Monaten kühn entwarf, kann | |
kurz werden. | |
Wenn BürgerInnen nicht wählen, deuten Konservative das gern bonbonfarben | |
als stillschweigende Zustimmung. Linke verstehen Nichtwählen als | |
schlummernde Protestenergie, die durch entschlossene populistische | |
Ansprache überwunden werden muss. SPD-Mann Börner sieht eher Apathie und | |
Rückzug. Das mangelnde Interesse war schon vorher absehbar. „Wir haben | |
einen Superwahlkampf gemacht“, sagt er am Telefon. Aber: „Im Duisburger | |
Norden ist es hip, nicht zu wählen“. | |
## Resignierte Stammklientel | |
Die Bemühungen, das Wahlvolk für Politik zu interessieren, sind, so sieht | |
es Börner, an drei Gruppen abgeprallt. Die mit prekären Jobs fühlen sich | |
abgehängt. Dass sie bald 12 Euro Mindestlohn bekommen, „werden viele erst | |
mitbekommen, wenn er real da ist. Auch dann werden viele nicht genug | |
Selbstbewusstsein haben, den ihrem Chef gegenüber durchzusetzen.“ Die von | |
Jobs abgekoppelten Hartz-IV-Milieus seien für Politik kaum noch erreichbar. | |
Und auch bei jenen, denen es materiell besser geht, ist das Bild trübe. | |
„Die Saturierten“ (Börner) hatten keine Lust auf Politik. „Die haben am | |
Sonntag noch was auf den Grill gelegt und gesagt: Wählen? Ach, lass ma’.“ | |
2017 ging in dem Wahlkreis allerdings noch gut die Hälfte zur Wahl. Eine | |
schlüssige Erklärung, warum in vielen roten Hochburgen | |
SPD-SympathisantInnen lieber Würstchen brieten, fehlt den GenossInnen. Die | |
NRW-SPD will in drei Monaten eine Analyse mit Verbesserungsideen | |
erarbeiten. | |
Klar ist: Die SPD hat die Wahl in Nordrhein-Westfalen an zwei Fronten | |
verloren. Ein Teil der früheren Stammklientel hat sich in Resignation | |
zurückgezogen – wie zu den Zeiten, als sich viele wegen der Agenda 2010 | |
frustriert abwandten. Das Bürgertum findet Robert Habeck und Annalena | |
Baerbock eloquenter als den Kanzler. Das ist für die SPD eine ungemütliche | |
Nachricht. Denn es ist nicht leicht, eine Antwort auf diese Doppelbotschaft | |
– zu wenig Soziales hier, zu wenig diskursiv ansprechendes Angebot dort – | |
zu finden. | |
In der Union sprießt nach den Erfolgen in Düsseldorf und Kiel schon die | |
Hoffnung, dass der Wahlsieg von Olaf Scholz 2021 nur ein Intermezzo war, | |
die Ampel noch fragiler wird und Schwarz-Grün bald wieder auf der | |
Tagesordnung steht. Ralf Stegner, linker SPD-Bundestagsabgeordneter, | |
wiegelt ab. Es gab auch den Sieg im Saarland. Die Niederlagen seien „nicht | |
schön“. Aber, dass neue Bundesregierungen Landtagswahlen verlieren, sei | |
nicht ungewöhnlich. Und die Stimmung sei zu schwankend, um Kiel und | |
Düsseldorf als Wiederbelebung von [2][Schwarz-Grün] zu deuten. „Als wir im | |
Sommer 2021 bei 15 Prozent lagen, habe ich mir mehr Sorgen gemacht“, so | |
Stegner. | |
## Glanzlos im Kabinett | |
Allerdings läuft es für die Sozialdemokratie gerade nirgends richtig gut. | |
Die Performance der SPD-MinisterInnen in Berlin ist glanzlos. Karl | |
Lauterbach erweckt den Eindruck, dass er als Gesundheitsminister eine | |
Coronapolitik vertritt, die er als Wissenschaftler kritisieren würde. | |
Verteidigungsministerin [3][Christine Lambrecht] ist seit Wochen wegen | |
Ungeschicklichkeiten in der Kritik. Scholz und die SPD stehen bislang | |
eisern zu ihr. | |
Zu Lambrechts letztem Fauxpas fällt aber auch treuen GenossInnen nichts | |
mehr ein. Die Verteidigungsministerin ließ in einem Interview die Bemerkung | |
fallen, dass Parteifreundin und Innenministerin Nancy Faeser 2023 gern | |
hessische Ministerpräsidentin werden will – und damit ihren Job in Berlin | |
quittieren würde. Als Faeser bei einer Pressekonferenz dazu befragt wurde, | |
sagte sie: „Ich ärgere mich in der Regel nie über Kolleginnen“, und lachte | |
mit zusammengekniffenen Lippen. Eher in der Regel als nie. Lambrecht wollte | |
weit lieber Innenministerin werden, als sich mit dem Beschaffungswesen der | |
Bundeswehr herumärgern zu müssen. | |
Das mögen kleine Querelen sein. Aber sie wecken ungute Erinnerungen an die | |
Zeit nach 2005, als es in der SPD mitunter zuging wie im Dschungelcamp. | |
Es läuft nicht rund. Der SPD fehlen erkennbare Köpfe neben dem Kanzler. | |
Fraktionschef Rolf Mützenich wird intern von vielen geschätzt. Aber | |
Zuspitzung oder mitreißende Talkshow-Auftritte sind nicht sein Metier. Bei | |
der Kommunikation zwischen Regierung und Partei ist ebenfalls Luft nach | |
oben. | |
## Die Machtarchitektur | |
Generalsekretär Kevin Kühnert verteidigte im TV-Interview tapfer Scholz’ | |
Weigerung, schwere Waffen zu liefern, als die Lieferung von Gepard-Panzern | |
bereits beschlossen war. Den Generalsekretär hatte niemand informiert. | |
Kühnert hatte im Dezember in der taz erklärt, er werde als Generalsekretär | |
nicht den Regierungssprecher geben. In diesem Fall wäre Regierungssprecher | |
nicht so übel gewesen. | |
So suchen einige noch ihre Rolle, andere fallen kaum auf. All das ist die | |
Oberfläche eines tiefer liegenden Problems: Die Machtarchitektur der SPD | |
funktioniert nicht. Eine effektive Rollenaufteilung zwischen Kanzleramt, | |
Fraktion und Partei? Fehlanzeige. Seit Scholz freihändig die Zeitenwende | |
verkündete, ist die Macht komplett Richtung Kanzleramt verrutscht – ohne | |
ausgleichende Gegengewichte. Partei und Fraktion sind damit beschäftigt, | |
Scholz und wankende MinisterInnen gegen Angriffe zu verteidigen. | |
Es gibt einen Sog in Richtung Kanzleramt, in dem Fraktion und Partei als | |
eigenständige Akteure verschwinden. Wenn Parteichef Lars Klingbeil | |
verkündet, dass Lambrecht auf jeden Fall „Verteidigungsministerin bleiben“ | |
wird, klingt er wie ein Regierungssprecher. | |
Dabei hatte sich die SPD-Spitze vorgenommen, nicht in die gleiche Falle wie | |
früher zu laufen und die Partei zum Anhängsel des Kanzleramts verkümmern zu | |
lassen. Deshalb ist Scholz nicht SPD-Chef geworden, deshalb ist SPD-Chefin | |
Saskia Esken nicht Ministerin. Obwohl man die personelle Verflechtung mied, | |
der Eindruck ist: SPD gleich Regierung. | |
## Die Rentner und Rentnerinnen vergessen | |
Das hat praktische Auswirkungen. Zum Beispiel beim Entlastungspaket der | |
Ampel. Die FDP konnte auf den Tankrabatt verweisen, die Grünen auf das | |
9-Euro-Ticket. Und die SPD? Die Regierung beschloss 300 Euro für fast alle | |
– nur für RentnerInnen nicht. Das wollte Scholz so. Und die Spitze der | |
Bundes-SPD fügte sich. Die GenossInnen in NRW sahen das Unheil kommen, | |
konnten aber nichts tun. Ihre Wahl ging auch verloren, weil 44 Prozent der | |
Älteren CDU wählten, nur 33 SPD. | |
Der Job von Esken, Klingbeil und Kühnert wäre Schadensverringerung gewesen | |
und in jedes Mikro zu sagen: „Die SPD sorgt dafür, dass beim nächsten | |
Entlastungspaket an die RentnerInnen gedacht wird.“ Aber so war es nicht. | |
SPD-Mann Börner traf im Wahlkampf in Duisburg RentnerInnen, die ihm ins | |
Gesicht sagten: „Deshalb wähle ich euch diesmal nicht.“ Das | |
Entlastungspaket war für die SPD eher ein Belastungspaket. | |
28 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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