# taz.de -- Digitalisierung in Schulen: Eine lernende Organisation | |
> Das Leibniz-Gymnasium in Berlin-Kreuzberg ist Teil eines Modellprojekts | |
> zum digitalen Lernen. Der Weg ist steinig – und birgt Überraschungen. | |
Bild: „Weg mit den Handys!“ ist jedenfalls im Kreuzberger Leibniz-Gymnasium… | |
Berlin taz | Die Schulleiterin des [1][Leibniz-Gymnasiums in | |
Berlin-Kreuzberg] wirkt immer noch ein bisschen erstaunt, wenn sie erzählt, | |
was ein paar OberstufenschülerInnen ihr da kürzlich in einer mündlichen | |
Abiturprüfung präsentiert haben. Die Jugendlichen hätten sich das Thema | |
Impfstoffe vorgenommen, erzählt Renate Krollpfeiffer-Kuhring: „Und da haben | |
sie einfach mal so einen Videocall mit einem amerikanischen Wissenschaftler | |
geführt.“ Ein Videocall, in die USA, einfach mal so. Sie habe sich dann | |
gedacht, sagt die Schulleiterin: „Ja, warum eigentlich auch nicht?“ Und | |
dass sie immer wieder überrascht sei, wie kreativ die Jugendlichen würden, | |
wenn sie sich selbst Dinge erarbeiten dürften. | |
Starre Strukturen aufbrechen, den SchülerInnen Freiräume ermöglichen, und | |
dafür die Möglichkeiten nutzen, die das Digitale bietet: Das, sagt | |
Krollpfeiffer-Kuhring, seien ihre Ziele, wenn sie in die Zukunft schaue. | |
Die Zukunft, das ist in dem Fall das Jahr 2024: Das Leibniz-Gymnasium ist | |
eine von 18 Berliner Schulen, die seit Mitte 2021 an dem dreijährigen | |
[2][Schulversuch „Hybrides Lernen“] teilnehmen. | |
Die Coronapandemie hat einiges angeschoben in Sachen Digitalisierung. | |
Lehrkräfte bekamen plötzlich Tablets und Dienstmailadressen. Digitale | |
Lernplattformen, lange Jahre unbeachtet, verzeichneten Rekordzugriffe, der | |
Bund machte Millionen locker. Jetzt gehe es darum, erklärt die Berliner | |
Bildungsverwaltung, „digitale Medien und Tools didaktisch nachhaltig in | |
schulisches Lernen zu integrieren“. Angestoßen hatte das Pilotprojekt | |
[3][die im Dezember ausgeschiedene Schulsenatorin Sandra Scheeres (SPD]); | |
ein Team von WissenschaftlerInnen aus Köln und der Berliner | |
Humboldt-Universität begleitet es. | |
Alle zwei Wochen gebe es ein Netzwerktreffen mit den anderen Schulen im | |
Schulversuch, sagt Krollpfeiffer-Kuhring. An ihrer Schule begleitet eine | |
Steuerungsgruppe, der auch SchülerInnen und Eltern angehören, das Projekt. | |
Teil nehmen am Leibniz-Gymnasium insgesamt drei Klassen; ein Team aus | |
PädagogInnen hat sich in Arbeitsgruppen aufgeteilt: Es geht um digitale | |
Leistungskontrollen, aber auch um selbstbestimmtes Arbeiten jenseits eines | |
festen Stundenplans – eine Art Gleitzeitmodell für SchülerInnen. | |
## Lernalltag selbstständig organisieren | |
Konstantin Marx, ein schlaksiger, redegewandter Zehntklässler, sitzt als | |
Schülervertreter in der Steuerungsgruppe. Vor dem Lockdown, sagt er, hätten | |
sie noch Arbeitsblätter bekommen, die ein Lehrer auf der Schreibmaschine | |
getippt habe. Jetzt bekämen sie auch mal Links zu Onlinevideos, wo ein | |
Matheprofessor den Satz des Pythagoras erklärt. Viel entscheidender aber | |
sei, sagt Marx, dass er im Distanzunterricht gelernt habe, seinen Lerntag | |
selbstständig zu organisieren. Er arbeitet jetzt in einer Projektgruppe, | |
die überlege, wie man die starre Präsenzkultur an der Schule verändern | |
könnte. | |
„Das mal aufzubrechen: Von Montagmorgen bis Freitagnachmittag müssen hier | |
alle im Gleichtakt alles durchlaufen, das ist eine große Chance“, sagt auch | |
die Schulleiterin. Und: „Wir haben das Glück, eine interessierte, | |
leistungsstarke Schülerschaft zu haben.“ Krollpfeiffer-Kuhring weiß, dass | |
SchülerInnen, die sich selbst zu Hause den Tag im Homeschooling | |
organisieren, eine Voraussetzung sind, die nicht alle Schulen haben. | |
Andernorts berichten Lehrkräfte, sie hätten im Lockdown viele Kinder völlig | |
aus dem Blick verloren. Wie groß die Lernlücken sind, wertet die | |
Bildungsverwaltung derzeit anhand von Lernstandserhebungen aus. | |
Die größte Schwierigkeit an ihrer Schule sei der Zeit- und Personalfaktor, | |
sagt die Kreuzberger Schulleiterin. Für die KollegInnen, die an dem | |
Schulversuch beteiligt sind, bekommt sie keine Vertretung – sie kann sie | |
für die Konzeptarbeit also nicht einfach eine Stunde pro Woche vom | |
Unterricht freistellen. | |
Das läuft „on top“, sagt auch Bettina Deutsch, die Französisch und | |
Geschichte am Leibniz unterrichtet und mit ihrer 9. Klasse an einem | |
digitalen Zeitzeugenprojekt zur NS-Zeit teilnimmt. SchülerInnen können über | |
ihre Tablets mit Shoah-Überlebenden interagieren. Für viele LehrerInnen sei | |
die zusätzliche Arbeitszeit für den Schulversuch ein „Hemmschuh“, sich | |
überhaupt zu engagieren: „Da ist schon sehr viel intrinsische Motivation | |
der Kolleginnen und Kollegen nötig.“ | |
Im Kern geht es bei dem Schulversuch darum, der Pandemie etwas abzuringen. | |
Das Erstaunen der Schulleiterin über einen Videocall in die USA ist aber | |
auch ein Ausdruck dafür, wie unglaublich spät sich die Schulen aufgemacht | |
haben ins digitale Zeitalter. Das zeigt sich etwa beim schnellen Internet, | |
ohne das Videokonferenzen gar nicht möglich sind: In Berlin sind aktuell | |
nur Berufsschulen flächendeckend ans Breitbandnetz angebunden. Seit März | |
2021 läuft immerhin an 25 allgemeinbildenden Schulen ein „Testversuch“ mit | |
schneller Glasfaseranbindung. 35 Standorte sollen folgen. | |
Doch selbst ein leistungsfähiges WLAN-Netz ist in den meisten Schulen kaum | |
existent, wie eine Anfrage der CDU an die Bildungsverwaltung aus dem | |
Dezember zeigt: Die meisten Bezirke zählten diese Schulen an einer Hand ab, | |
Neukölln meldete keine einzige. Die meisten Schulen behelfen sich seit dem | |
pandemiebedingten Homeschooling im Lockdown-Frühling 2021 mit rund 10.000 | |
LTE-Routern, die in den Steckdosen der Klassenzimmer stecken. Die | |
Bildungsverwaltung hatte, erstaunlich unkompliziert und schnell, die Geräte | |
bestellt und in die Schulen geschafft. | |
Markus Müller ist Mathelehrer und als IT-Betreuer am Leibniz-Gymnasium Teil | |
des Schulversuchsteams. Am Dienstagmorgen vor den Winterferien steht er in | |
der 8 a vor dem digitalen Whiteboard, auf das er eine Aufgabe geschrieben | |
hat. Die Schüler*innen holen ihre Smartphones heraus und öffnen eine | |
App. Es gehe, sagt Müller, um Selbstständigkeit: Wie kann ich mit der App | |
kontrollieren, ob der Graph, den ich soeben gezeichnet habe, stimmt? | |
Mitunter seien Erklärvideos sogar besser als jeder Pädagoge, sagt | |
Mathe-Lehrer Müller. „Da können die Schüler so oft sie wollen die | |
Pausetaste drücken, das können sie beim Lehrer nicht.“ Aber die Lehrkraft | |
müsse dann da sein für Fragen. | |
## Die richtige Software | |
Für sinnvollen Distanzunterricht braucht es aber auch die richtige | |
Software, wissen sie inzwischen am Leibniz-Gymnasium. Eigentlich sollen die | |
Schulen dafür den Lernraum Berlin nutzen, die offiziell von der | |
Bildungsverwaltung lizenzierte und bereitgestellte Online-Lernplattform. | |
Eine halbe Million Euro hat die Bildungsverwaltung im Schuljahr 2020/21 in | |
den Lernraum investiert und zusätzliche Serverkapazitäten organisiert, | |
nachdem der Lernraum in der Homeschooling-Hochphase zeitweilig | |
zusammenbrach. Und man ist ordentlich stolz auf die explodierten | |
Zugriffsraten, die vor der Pandemie bei etwa 50.000 pro Tag lagen und dann | |
auf rund 1 Million stiegen. | |
Doch der Lernraum Berlin hat am Leibniz-Gymnasium keine Fans. Der Lernraum | |
werde „aufgrund der wenig intuitiven Nutzerführung und hierarchischen | |
Struktur“ oft lediglich als Dateiablage mit Videokonferenzmöglichkeit | |
genutzt, sagt Martina Kaltenbacher. „Lernplattformen setzen aber | |
pädagogische Standards, das wird nur viel zu selten diskutiert.“ | |
Die ehemalige Lehrerin Kaltenbacher ist seit zwei Jahren pensioniert, doch | |
sie arbeitet weiter in der Steuerungsgruppe des Schulversuchs am | |
Leibniz-Gymnasium. Hier arbeitet man lieber mit Microsoft Teams, etwa wegen | |
der Cloud, wo SchülerInnen gemeinsam an Powerpoint-Präsentationen arbeiten | |
können. Die Bildungsverwaltung schätzt das nicht, weil nicht abschließend | |
geklärt ist, ob Microsoft Teams eine datenschutzkonforme Lösung für Schulen | |
ist. | |
Aber: Welche Plattform sie nutzen, liegt in der Eigenverantwortung der | |
Schulen. Von der Bildungsgewerkschaft GEW und auch vom Berliner | |
Landeselternschuss gibt es deswegen seit Langem Kritik: Sie sehen die | |
Politik in der Pflicht, den Schulen Rechtssicherheit zu geben – weil die | |
Unsicherheit beim Datenschutz bei vielen Schulleitungen die Begeisterung | |
für den digitalen Fortschritt ausbremse. Immerhin, der politische Wille ist | |
da, das zu ändern, wie der frische rot-grün-rote Koalitionsvertrag des | |
neuen Berliner Senats vom Dezember zeigt: Eine „Positivliste von digitalen | |
Anwendungen“ werde „erarbeitet“ heißt es dort. Auch der Lernraum Berlin | |
soll weiterentwickelt werden. | |
Manchmal stolpern die Berliner Schulen auf dem Weg in die digitale Zukunft | |
aber auch schlicht über Bürokratie. Krollpfeiffer-Kuhring erzählt von 18 | |
nagelneuen Tablets, die sie gerne für den Schulversuch nutzen würden, die | |
aber im Schulkeller lagern, weil kein Personal da ist, das sie einrichten | |
könnte. | |
Mathelehrer Müller ist in seiner Funktion als IT-Beauftragter zwar wenige | |
Stunden pro Woche freigestellt, dazu kommt noch für einen Tag eine externe | |
IT-Technikerin an die Schule. Doch das reiche nicht. „Wir sind hier | |
hardwaremäßig vergleichbar mit einem mittelständischen Unternehmen, das | |
üblicherweise eine IT-Abteilung hat“, sagt Müller. Die Schule, habe, auf | |
zwei Standorte verteilt, etwa 160 Rechner, rund 30 WLAN-Access-Points, in | |
jedem Klassenzimmer noch ein Smartboard, nun noch die 18 Tablets. „Das muss | |
alles eingerichtet, gewartet, erneuert und weiterentwickelt werden. Wir | |
bräuchten eigentlich fünf Tage pro Woche einen IT-Techniker.“ | |
Krollpfeiffer-Kuhring wollte die Tablets für die Lehrkräfte, die es 2020 | |
aus den Corona-Digitalpakt-Mitteln des Bundes gab, für den Schulversuch | |
umwidmen. Die meisten KollegInnen nutzten ohnehin lieber ihre privaten | |
Geräte. Doch die LehrerInnen-Tablets dürften keine SchülerInnen-Tablets | |
werden, erklärte man ihr: unterschiedliche Finanzierungstöpfe. Auch an | |
andere Schulen darf sie nicht weitergeben. | |
Martina Kaltenbacher sieht es positiv. Man könne, sagt sie, aus der | |
Digitalisierung auch ein Lehrstück machen: „Man kann zeigen: Schule ist | |
eine lernende Organisation.“ | |
6 Feb 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.leibniz-gymnasium.berlin/ | |
[2] https://www.learninglab.de/2021/10/08/schulversuchs-hybrid-berlin/ | |
[3] /Digitale-Strategie-fuer-die-Schulen/!5788428 | |
## AUTOREN | |
Anna Klöpper | |
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